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Mann und Frau den Mond betrachtend

Nur alte Hasen erinnern sich heute noch an die Hochzeit des Literaturimports aus Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Alles, was Rang und Namen hatte, wurde damals - wegen des bundesdeutschen Nachhol- und Annäherungsbedarfs - übersetzt. Mit dem Wegfall der politischen Motivation jedoch übernahm seit Ende der 70er, in verschärfter Form seit Anfang der 90er Jahre wieder der schnöde Mammon die Regie. Heute versprechen eigentlich nur noch genitalorientierte französische Skandalautoren wie Catherine Millet oder Michel Houellebecq Gewinn - weshalb das Klischee vom sexbesessenen Franzosen bei uns auch fröhliche Urständ feiert.

Christoph Vormweg | 30.05.2003
    Wer sonst noch wahrgenommen werden will, sollte zumindest einen der großen Literaturpreise vorweisen können. In den übrigen Fällen - zumal bei den literarisch anspruchsvolleren, also weniger eingängigen Texten - hängt die Übersetzung meist vom Zufall ab: so auch bei der 1954 geborenen, in Frankreich bereits mit zehn literarischen Titeln vertretenen Cécile Wajsbrot. Erst die Begegnung mit einem ausgemachten Frankreichkenner, dem Romancier und Übersetzer Michael Kleeberg, ebnete den Weg. Erleichtert haben dürfte die Entscheidung, ihren Roman "Mann und Frau den Mond betrachtend" ins Deutsche zu übertragen, aber auch die Berliner Thematik. Cécile Wajsbrot:

    Im Moment jedenfalls fühle ich mich a priori besser in Berlin als in Paris, mehr im Einklang mit der Atmosphäre, unter anderem, weil es dort diese Aufmerksamkeit für die Geschichte gibt, für die Vergangenheit - und zwar nicht, um sich in die Vergangenheit zu flüchten, sondern um aus ihr zu lernen. Mehr noch: ich habe das Gefühl, dass Berlin eine Stadt im Werden ist, dass Deutschland ein Land ist, das - schon seit einigen Jahren - dabei ist, sich neu zu formen.

    Paris dagegen ist eine Stadt, wo alles schon feststeht. Man hat den Eindruck, es gibt dort keinen Platz für Neues. Genauso mit Frankreich: das ist ein Land, das im Gestern lebt, das sich noch für eine Großmacht hält und keine mehr ist.

    Das Neue in Cécile Wajsbrots Roman Mann und Frau den Mond betrachtend ist eine Berliner Straße ohne Geschichte. Zu ihrer Einweihung hält ein in der DDR aufgewachsener Lyriker eine Rede. Was die Zuhörer nicht ahnen: sie wandelt sich zu einem - wie es heißt - "Anschlag durch das gesprochene Wort"

    Ich fand diese Einweihungssituation, diese Rede zur Eröffnung der Straße - ich weiß nicht, ob es das richtige Wort ist - romanhaft. In jedem Fall eröffnete sie viele Möglichkeiten, vor allem große Freiheiten beim Aufgreifen der Themen und bei der Strukturierung der Erzählung.

    Caspar-Friedrich-Strasse - man sucht diesen Namen vergeblich auf dem Berliner Stadtplan. Denn Cécile Wajsbrot reizt beim Schreiben vor allem die fiktive Situation. Umso provozierender die These, auf der die Einweihungsrede ihres Erzählers gründet. Denn in seinen Augen hätte der Maler Caspar David Friedrich dieselben "Seelenlandschaften" gemalt, wenn er zur Zeit der Berliner Mauer gelebt hätte: auch dann hätte er "unsere Ängste und unsere Sehnsüchte" zum Ausdruck gebracht, es wäre - so wörtlich - "derselbe Ruf nach Transzendenz gewesen".

    Warum der Name dieser Straße? Caspar David Friedrich - dahinter stand die Idee, diesen Maler, der nicht nur, aber oft Ruinen in seine Landschaften eingefügt hat, parallel zur Gegenwart zu setzen, zum heutigen Berlin mit seinen riesigen Baustellen. Da gab es einen Berührungspunkt, eine Art Überlagerung von Vergangenheit und Zukunft.

    Ausgehend von der irritierenden, aber immer schlüssigen Interpretation der Bilder Caspar David Friedrichs gleitet Cécile Wajsbrots 1945 geborener Erzähler immer wieder ins Vergangene ab. Durch die Verzahnung von Öffentlichem und Privatem, von großer Geschichte und individuellem Werdegang bekommt seine geschickt verschachtelte Rede ihren eigentümlichen Sog. Auf der einen Seite stehen die dunklen Kapitel der Berliner Geschichte des 20. Jahrhunderts: von der Judenverfolgung durch die Nazis über die Schönfärberei einer Stunde Null im Jahre 1945 bis hin zum Mauerbau 1961; auf der anderen Seite der trostlose Ehe-Alltag des Redners zu DDR-Zeiten und seine gleichzeitige unmögliche Liebe zu einer Bundesdeutschen, die er nach der Beerdigung seiner Großmutter auf einem Westberliner Friedhof kennen gelernt hatte.

    In ihrem Roman Mann und Frau den Mond betrachtend reißt Cécile Waijsbrot Fragen an, unter denen nach ihrer Beobachtung viele der so genannten Nachgeborenen in Deutschland leiden. Ihr Erzähler ist einer von ihnen. Denn er muss sich nach dem Mauerfall bei der Wiederbegegnung mit seiner Angehimmelten einige Seitenhiebe gefallen lassen: so die Frage, ob er seinen Briefwechsel mit der Unerreichbaren nur zur "Inspiration" benutzt habe, um im Literaturbetrieb zum "Dichter der Liebe" aufsteigen zu können? Nicht einmal der Hinweis auf seine 1989 einsetzende Schreibblockade kann sie versöhnen. "Man konnte [früher] immer sagen, die Mauer sei schuld", bringt der Erzähler das Dilemma auf den Punkt, "während man jetzt nichts mehr sagen konnte; jetzt war man mit seiner eigenen Unfähigkeit konfrontiert."