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Manuskript: Autist!

Was ist Autismus und wer ist Autist? Noch vor wenigen Jahren beschrieben Ärzte und Psychologen Autisten häufig noch als "Muschelkinder", die ohne jegliche Fähigkeit zur Kontaktaufnahme "in ihrer eigenen Welt" leben. In der öffentlichen Wahrnehmung waren Autisten Sonderlinge mit verblüffendem Zahlengedächtnis. Heute weiß man: beides ist möglich. Autismus beschreibt ein Störungsspektrum, in das der geistig schwer beeinträchtigte, entwicklungsverzögerte Junge ebenso gehören kann wie der lärmempfindliche IT-Spezialist, der nie auf Betriebsfeiern zu sehen ist.

 Von Lydia Heller | 23.06.2013

    "Wenn Sie allen Autismus abschaffen würden, dann wäre das das Ende von Silicon Valley und die Energiekrise würde nie gelöst werden!"

    Temple Grandin, Professorin und Autistin, auf einer Konferenz in Kalifornien, Februar 2010.

    "Hans Asperger schrieb in den 1940er-Jahren, dass für Erfolg in der Wissenschaft ein wenig Autismus entscheidend sei. Und vor etwa zehn Jahren stellte Ioan James die These auf, dass einige berühmte Wissenschaftler Autisten waren. Isaac Newton zum Beispiel, Albert Einstein und Marie Curie. Alles brillante Forscher. Und offenbar Autisten."

    Simon Baron-Cohen, Direktor des Autismus-Forschungszentrums in Cambridge, gegenüber der Zeitschrift "Wired", Oktober 2012.

    "Ich hab mir einmal die Mühe gemacht und die Biographie von Einstein herauf und herunter durchsucht und kann sicher sagen: Das ist ein Mann, der hatte Probleme mit Frauen. Ja! Aber der hatte keinen Autismus!"

    Was ist Autismus – und wer ist Autist? Seit der Kinderpsychologe Leo Kanner bei einigen seiner Patienten Defizite in Sozialverhalten und Kommunikation beobachtete und diese 1943 mit dem Begriff "Autistische Störungen des affektiven Kontakts" beschrieb – hat sich das Verständnis der Störung dramatisch gewandelt. Heute umfasst "Autismus" ein breites Spektrum an Verhaltensweisen, die bei jedem Autisten in anderer Kombination und Ausprägung vorkommen – und sich im Laufe des Lebens auch verändern können.

    "Zum Beispiel jemand wie John. John ist jetzt zwölf Jahre alt, aber er kann nicht schreiben, er kann nicht sprechen, nicht alles verstehen. In gewisser Weise kann man sagen, dass er wie ein ein- oder zweijähriges Kind ist."

    Monika Scheele-Knight ist Mutter eines schwer autistischen Jungen. Als John etwa drei Jahre alt ist, diagnostizieren Ärzte bei ihm frühkindlichen Autismus. Menschen mit dieser Störung entwickeln häufig kaum Gestik und Mimik und haben Schwierigkeiten, Gefühle zu verstehen. Oft sprechen sie monoton, wenig oder gar nicht und halten zwanghaft an immer gleichen, sich wiederholenden Ritualen fest – an bestimmten Tagesabläufen, Räumen, Wegen. Anders: Menschen wie Rainer Döhle, Mitgründer von Aspies e.V., dem größten deutschen Selbsthilfeverein autistischer Menschen. Er ist bereits erwachsen, als Ärzte bei ihm ein Asperger-Syndrom feststellen – eine Form von Autismus, die nicht mit sprachlichen und kognitiven Beeinträchtigungen einhergeht.

    "In meinem Zeugnis stand immer: 'Er findet keinen Kontakt zur Klassengemeinschaft.' Ich wusste aber nie, wie funktioniert Freundschaft? .Ich war froh, wenn man mich in Ruhe gelassen hat und ich lesen konnte. Ich habe eine Hochbegabung, ich hab Spezialinteressen im Bereich Geographie und Geschichte, wo ich manchmal ellenlang Listen anfertige über Regenten oder Hauptstädte oder ich weiß nicht was. Früher war das noch exzessiver, ich sitze heute nicht mehr fünfzehn Stunden am Stück an diesen Listen."

    Während einige Autisten niemals sprechen lernen, fallen andere schon als Kinder durch eine besonders gewählte, eigenwillige Sprache auf. Während die einen hyperaktiv und motorisch ungeschickt sind, können andere stundenlang zeichnen – es gibt den geistig beeinträchtigten Autisten ebenso wie den mit dem außergewöhnlichen Zahlengedächtnis. Sie alle zeigen jedoch in der Regel stereotype, repetitive Verhaltensmuster und haben ähnliche Schwierigkeiten, mit anderen Menschen zu interagieren.

    "Früher haben wir gedacht, es gibt wirklich qualitativ unterschiedliche Zustände, dass es unterschiedliche Sachen sind, die auch eine unterschiedliche Ätiologie nahelegen. Und es gibt unzählige Studien, die gezeigt haben in den letzten Jahren, dass sie sich eher graduell unterscheiden. Autismus ist nicht etwas qualitativ anderes als Asperger-Syndrom. Das ist nicht etwas qualitativ anderes als ein atypischer Autismus, sondern die variieren eher in der Schwere ihrer Symptomatik und vielleicht in der Komposition ihrer Symptome."

    Autismus-Forscher, so Sven Bölte, Direktor des Kompetenzzentrums für neuronale Entwicklungsstörungen am Stockholmer Karolinska Institut, sprechen daher seit einiger Zeit von Autismus-Spektrum-Störungen: Ein Begriff, der inzwischen auch im DSM5 verwendet wird, in der überarbeiteten Fassung des amerikanischen Manuals zur Diagnose psychischer Störungen, die die US-Psychiatrievereinigung APA dieser Tage veröffentlicht. Dabei fasst das Autismus-Spektrum die ähnlichen, aber unterschiedlich ausgeprägten Probleme zusammen und führt sie auf eine andersartige neurologische Entwicklung zurück. Aber was genau verläuft untypisch in der Entwicklung von Autisten? Was verursacht die Probleme, die sowohl der kognitiv beeinträchtigte als auch der hochbegabte Autist mit sozialer Interaktion haben? Was ist der Grund dafür, dass sie Emotionen anders wahrnehmen und Zwänge entwickeln? Und: warum sind sie trotzdem so verschieden?

    Rainer Döhle: "Ich kann Augenkontakt schlecht halten. Ich kann nicht über mehrere Kanäle sozusagen gleichzeitig kommunizieren. Gesichtsausdruck – wenn ich mich darauf konzentriere, kann ich nicht gleichzeitig akustisch den Inhalt wahrnehmen. Das ist so eine Verarbeitungsstörung."

    Monika Scheele-Knight: "Bei John ist es so: Wir haben, als er vier Jahre alt war, eine Hirnstammaudiometrie gemacht, weil wir das Gefühl hatten, dass irgendetwas mit dem Hören nicht stimmt. Und statt, dass er zu wenig hört, was wir vermutet hatten, war es so, dass er viel zu viel hört. Dass ganz viele Geräusche durchgelassen werden zum Gehirn und es ist kaum möglich für ihn, in diesem Gewusel da Prioritäten zu setzen. Und ich glaube, dass es auch beim Sehen so ist, er ist sehr lichtempfindlich und das führt schnell zu Reizüberflutung und Überforderung."

    Autisten nehmen ihre Umgebung anders wahr und verarbeiten das Gesehene und Gehörte anders als Nichtautisten. Während diese zum Beispiel meist versuchen, Bilder, Gespräche und Erlebnisse als Teil eines sinnvollen größeren Ganzen zu verstehen – richten Autisten ihre Aufmerksamkeit eher auf Elemente und Details eines Systems. Schon vor rund 15 Jahren stellten Psychologen fest, dass in Tests zum visuellen Vorstellungsvermögen Autisten oft besser abschnitten als Kontrollpersonen mit gleichem Intelligenzniveau. Sven Bölte:

    "Woran kann das liegen? Dann hat man festgestellt: das Problem bei dieser Aufgabe ist, dass man ein Bild in Gedanken auseinandernehmen muss. Man muss es in seine Einzelteile zerlegen, um das gut zu machen. Und da entdeckt man, dass Autisten es leichter haben, ein Bild in seine Einzelteile zu zerlegen, weil diese Tendenz, immer eine Ganzheit, immer Sinn sehen zu wollen, kleiner ist. Und dass sie deswegen solche Aufgaben leichter lösen können."

    "Ich denke in einem Strom einzelner Bilder", so beispielsweise beschreibt Temple Grandin, Professorin für Tierzuchtwissenschaft und selbst Autistin, in einem Vortrag für die Wissenschaftsorganisation TED ihre Art, Informationen zu verarbeiten.

    "Vor ein paar Jahren wurde bei mir ein Hirnscan gemacht – und ich scherzte, dass es bei mir eine gigantische Standleitung geben müsse, von Google Pictures direkt in meinen visuellen Cortex, wo Muster und Farben verarbeitet werden. Und in der Tat zeigte sich, dass bei mir die Sehbahn, die Verschaltung vom Auge zum visuellen Cortex, doppelt so breit ist wie bei den Kontrollpersonen, Frauen in meinem Alter."

    Autisten sehen viel – aber erkennen wenig. Viele von ihnen haben große Schwierigkeiten, das Gesehene in einen räumlich-zeitlich-sozialen Kontext einzuordnen. Mitte der 1980er-Jahre versucht der britische Psychologe Simon Baron-Cohen, dieses Phänomen mit seiner Theorie der "Mindblindness" zu erklären. Anders als typisch entwickelte Menschen, schreibt er, hätten Autisten Probleme damit, Wünsche und Intentionen anderer Personen aus deren Mimik und Gestik herauszulesen. Eine ganze Reihe von Forschern weltweit scannt daraufhin die Hirne gesunder und autistischer Probanden – während diese ärgerliche und freundliche Blicke den entsprechenden Emotionen zuordnen, Stimmen von Bekannten erkennen oder Handlungsabsichten bestimmter Charaktere in Geschichten beschreiben sollen. Häufig zeigen Autisten dabei tatsächlich weniger Aktivität in Hirnregionen, die für die Verarbeitung von Gefühlen und Sprache zuständig sind, für die Erkennung von Gesichtern oder den Abruf von Erinnerungen. Verknüpfungen zwischen diesen Arealen, so die Vermutung, sind bei ihnen schwächer ausgeprägt. Dafür gibt es oft eine stärkere Aktivität dort, wo Objekte verarbeitet werden. 2003 stellt Baron-Cohen in dem Zusammenhang die kontrovers diskutierte These auf, Autismus sei eine Extrem-Variante des männlichen Hirns.

    "Autismus ist vor allem unter Jungen und Männern verbreitet – aber ist es so, dass Jungen sich eher für Systeme interessieren? Wir haben das mit Neugeborenen getestet. An ihrem ersten Lebenstag zeigten wir ihnen einmal ein menschliches Gesicht und einmal ein Mobile – und maßen dann, wie lange sie es jeweils betrachteten. Wir stellten fest: Mehr Mädchen schauten länger auf das Gesicht und mehr Jungen schauten länger auf das Mobile. Das deutet darauf hin, dass etwas, das mit 'Männlich-Sein' zu tun hat, auch mit Autismus verknüpft ist und mit einem Interesse an Systemen."

    Dieses "Etwas", vermutet Baron-Cohen, ist das Hormon Testosteron.

    "Männliche Föten produzieren im Mutterleib doppelt so viel Testosteron wie weibliche – und pränatales Testosteron beeinflusst die Entwicklung des Gehirns. Wir haben die Höhe dieses Testosterons gemessen, bei Frauen, die Fruchtwasser-Untersuchungen vornehmen lassen mussten. Als wir nach der Geburt ihre Kinder untersuchten, fanden wir: Je höher das Niveau des pränatalen Testosterons gewesen war, desto mehr zeigten die Kinder später autistische Züge und desto mehr interessierten sie sich für Systeme."

    Döhle: "Ich kenne die Buslinien in Berlin auswendig. Oder dass ich eine Liste aller Städte und Gemeinden in Deutschland aufgestellt habe, wo es 11.000, 12.000 Stück davon gibt oder alle Straßennamen in Berlin, auch über 10.000 Stück. Aber ich hab immer versucht, das konstruktiv umzusetzen. Ich bin in der Wikipedia aktiv, dass andere auch was davon haben, nicht dass ich da eingeschlossen bin in dieser eigenen Welt."

    Neurobiologische Studien haben in den letzten Jahren Hinweise darauf geliefert, dass die Nervenzellen in den Gehirnen von Autisten anders miteinander kommunizieren als bei Nichtautisten. Dass Signale zwischen Neuronen bei Autisten anders übertragen werden und Hirnregionen anders verschaltet sind und zusammenwirken. So zeigten Hirnscans bei Autisten und gesunden Testpersonen eine unterschiedliche Verteilung der Andockstellen für die Botenstoffe Serotonin und Dopamin. Jüngere Studien legen nahe, dass bei Autisten auch die glutamatvermittelte Kommunikation gestört ist.

    "Es gibt Tiermodelle für Autismus, wo man gefunden hat, dass die Andockstellen fürs Glutamat auffällig sind und es gibt in der Postmortem-Forschung, wenn Menschen gestorben sind und man das Gehirn untersuchen kann, auch Hinweise darauf, dass das Glutamat auffällig ist."

    Im Universitätsklinikum Freiburg ist Ludger Tebartz van Elst, Leiter der Sektion für Experimentelle Neuropsychiatrie, diesen Hinweisen nachgegangen. In einer ausgewählten Hirnregion vermaß er das Glutamatsignal. Tatsächlich zeigten die autistischen Probanden, ein deutlich niedrigeres Glutamatsignal als die gesunden Testpersonen. Und: Je niedriger das Signal, desto mehr Probleme hatten sie in der sozialen Kommunikation.

    "Daraus können wir schließen, dass das glutamaterge System eine Rolle spielt in den neurophysiologischen Problemen beim Autismus."

    Neurowissenschaftliche Methoden, das Gehirn bei der Arbeit zu beobachten und Hirnfunktionen abzubilden, haben in den letzten Jahren entscheidend zum Verständnis von Autismus beigetragen. Allerdings: In vielen Studien mit Autisten war und ist die Zahl der Testpersonen noch zu gering, um repräsentativ zu sein. Weil Autismus individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt ist und oft auch zusammen mit Störungen wie Depressionen oder Hyperaktivität auftritt, ist es zudem schwierig, die Ergebnisse zu verallgemeinern. Für Hirnscans etwa werden meist Autisten mit hohem Intelligenzniveau ausgewählt – weil Bewegungen im Scanner Befunde verfälschen und man Probanden braucht, die kooperieren.

    Unklar bleibt so, inwieweit sich die Resultate auf andere Autisten übertragen lassen. Ob das, was man im Hirnscanner sieht, wirklich den Autismus – oder nicht vielmehr die Begleiterkrankung beschreibt? Unklar bleibt auch, ob die Befunde eine Ursache oder aber eine Folge von Autismus sind? Und eine Erklärung, warum sich die Gehirne auf diese Weise entwickelt und verschaltet haben – liefern die Studien auch nicht.

    Monika Scheele-Knight: "Für mich ist es nicht eine Krankheit. Für mich ist die Epilepsie eine Krankheit und John hat viele epileptische Anfälle immer gehabt. Und wenn er keinen Anfall hat, dann spielt die gar keine Rolle. Während es beim Autismus so ist, dass das unser gesamtes Leben prägt, sein Autismus hat Auswirkungen auf alle um ihn herum. Das ist zu jeder Zeit präsent. Ich glaube, dass es so etwas Fundamentales in ihm ist, dass man das nicht von der Person trennen kann."

    Rainer Döhle: "Ich definiere mich nicht nur über den Autismus. Ich hab auch ein Berufsleben, ich hab auch ein Privatleben und manchmal denke ich auch nicht an den Autismus in mir. Aber es ist schon eine wesentliche Komponente, die mein Verhalten auch bestimmt. ..Die allermeisten Autismusfälle, ist klar, dass man das von Geburt an mitbringt und ein Leben lang behält."

    Wodurch genau Autismus verursacht wird, ist noch immer unklar. Zwillingsstudien deuten darauf hin, dass Gene eine große Rolle spielen: Ist einer von zwei eineiigen, genetisch identischen Zwillingen Autist, ist es in 70 Prozent der Fälle auch der andere Zwilling. Für einzelne autistische Merkmale wie stereotypes Verhalten oder Kommunikationsprobleme fanden sich bei eineiigen Zwillingen Übereinstimmungsraten von 92 Prozent. Im Fokus stehen dabei Gene, die in den Aufbau von Nervenzellen und Synapsen involviert sind, die die Funktion von Synapsen und Botenstoffsystemen im Gehirn regulieren – oder die für die Spezialisierung von Hirnzellen wichtig sind. Statt einiger Kandidatengene, die direkt mit Autismus zusammenhängen, bringt man heute allerdings Hunderte Genvariationen, Mutationen und Chromosomenveränderungen mit der Störung in Verbindung, so Daniel Geschwind, Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität von Kalifornien in Los Angeles.

    "Keine der Mutationen – ich spreche vom Anteil der Autisten, bei denen wir Mutationen gefunden haben – keine trug mit mehr als einem Prozent zum Autismus bei. Also, bei 100 Autismus-Fällen finden wir mindestens 100 verschiedene Mutationen. Keine ist zudem spezifisch für Autismus. Mutationen, von denen man weiß, dass sie das Risiko für Autismus erhöhen, sind in Kindern mit Autismus gefunden worden, ja. Aber ebenso in gesunden Personen – und in nichtautistischen Personen mit Epilepsie, Aufmerksamkeitsdefizitstörung, Intelligenzminderung oder Schizophrenie."

    Ob bestimmte Gene, Genvarianten oder Mutationen zu Autismus führen oder nicht – darauf scheinen auch Umweltfaktoren erheblichen Einfluss zu haben. Sven Bölte:

    "Es gibt ja eineiige Zwillinge, die diskordant sind, der eine hat Autismus, der andere nicht. Dann muss es andere Faktoren geben als Genetik. ..Da gibt es eine Studie aus Dänemark, die haben geschaut, wie das ist mit viralen Infektionen in der Schwangerschaft und haben festgestellt: Das Risiko ist von einem auf zwei Prozent gestiegen, dass das Kind Autismus hat, wenn die Mutter etwas Virales hatte. Es kann auch später eine Komplikation sein, bei der Geburt, Medikamente, es können Umweltgifte sein, es kann ziemlich viel sein. Wahrscheinlich können wir viele Risiken identifizieren. In der Umwelt genauso wie wir viele Gene identifizieren können. Aber das sind alles kleine Bausteine, das muss nicht ein Risikofaktor sein bei jedem, das kann individuell ein ziemlich komplexes Wechselspiel sein."

    Daniel Geschwind: "Wie sich Autismus von anderen Krankheiten unterscheidet, ist jetzt die interessante Frage."

    Rainer Döhle: "Es wird heute nicht nur über Autisten geredet, sondern auch mit Autisten. Autisten melden sich zu Wort. Das war aber ein langwieriger Prozess und da versuchen wir auch Autisten zu vermitteln: OK, Ihr seid anders und ihr seid deswegen nicht schlechter, Ihr seid nicht gestört und müsst Euch keine Pathologisierung gefallen lassen."

    Scheele-Knight: "Eigentlich ist diese Welt durchlässig, ein Kontinuum. .Ich erlebe unser Leben, auch wenn es große Herausforderungen mit sich bringt, trotzdem auch als positiv. Insofern finde ich diese Emanzipationsbewegung sehr gut. Was ich als gefährliches Potenzial sehe, ist dass man das so runterspielt: Alles ganz toll mit diesem Autismus."

    Je komplexer das Bild, das Autismusforscher zeichnen, desto selbstsicherer – scheint es – treten Autisten selbst auf. Während Wissenschaftler nach den Ursachen suchen, nutzen vor allem weniger beeinträchtigte Autisten die neuen Möglichkeiten des Internet: Knüpfen Kontakte, ohne sich direkt treffen zu müssen, tauschen sich in Foren aus, suchen eine gemeinsame Stimme. Während Forscher klare biologische Marker zu finden hoffen, sprechen Autisten in Selbsthilfegruppen über ihre Erfahrungen: Dass viele von ihnen sich als eingeschränkt, aber nicht als krank empfinden. Dass sich die Stärke der Einschränkung manchmal mit der Zeit verändert. Dass sie ihre Fähigkeiten oft nicht nutzen können, weil Umwelt und Forschung mit der Suche nach ihren Schwächen beschäftigt sind. Unter der Überschrift "Autistic Pride" fordern Communities wie "aspies for freedom" oder "Autismus-Kultur", als Teil einer "neurologischen Vielfalt" wahrgenommen zu werden. "Die Welt braucht alle Arten von Verstand" ist einer der Slogans, mit dem die Autistin Temple Grandin, eine der berühmtesten Anwältinnen für eine positive Wahrnehmung von Autisten, seit Jahren durch Kongresse und Talkshows tourt.
    "Die Lehrer wissen nicht, was sie mit diesen Kindern anfangen sollen, das ärgert mich! Ist ein Kind auf Lego fixiert? Bitte! Lasst es bauen! Und regt an, dass es verschiedene Dinge baut. Wir brauchen diesen Verstand! Leute, die visuell denken, können Grafikdesigner werden oder Industriedesigner. Wer in Mustern und Strukturen denkt, kann Mathematiker oder Programmierer werden, wer auf Sprache fixiert ist, Journalist oder Schauspieler. Ich habe alle meine sozialen Fähigkeiten wie ein Schauspieler gelernt, der eine Rolle einstudiert."

    Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Ratgebern, Dokumentationen und Büchern, in denen Autisten ihr Leben schildern. Oft sind sie undramatisch und witzig. Es gibt Unternehmen und Vereine wie "specialisterne" in Dänemark oder AutWorker und Auticon in Deutschland, die Autisten erfolgreich in Arbeit bringen. Es gibt Autismus-Forschungs-Kooperationen, in denen Autisten die Forschungsfrage mit formulieren statt nur als Forschungsobjekt aufzutauchen. Und nicht zuletzt gibt es eine enorm positive Resonanz der Medien auf diese Entwicklungen: "Der Autismus-Vorteil", "Begabung statt Behinderung" oder "Autisten als Spezialisten" lauten Überschriften, unter denen Zeitungen, Radio und Fernsehen über Autismus berichteten.

    "Das führt zu dieser verdrehten Wahrnehmung, ..dass es mittlerweile schwerer ist, Eltern zu sagen, Ihr Kind hat keinen Autismus, als Eltern zu sagen, ihr Kind hat Autismus. Das ist was völlig Verrücktes, weil, Autismus ist eine sehr schwerwiegende Erkrankung."

    Wie viele ihrer Kollegen beobachtet Inge Kamp-Becker, leitende Psychologin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Marburg, die gestiegene Aufmerksamkeit gegenüber Autismus durchaus kritisch. Zum einen ziele sie zu sehr auf Autisten vom hochfunktionalen Ende des Autismus-Spektrums ab – Menschen mit hoher oder durchschnittlicher Intelligenz, die über ihre Situationen reflektieren können. Das aber sei nur ein kleiner Teil der Autisten. Kamp-Becker:

    "Es gibt eine amerikanische Studie, die zeigt, dass drei Viertel der Patienten mit einer autistischen Störung eine Intelligenzminderung zeigen. Das ist die Realität! Und wenn ich Eltern sage, ihr Kind hat das nicht, dann können die damit schlechter umgehen als wenn ich sage, ihr Kind hat das. Weil dieser Mythos existiert, auch Kinder, die schwer beeinträchtigt sind, dass in denen gute kognitive Fähigkeiten schlummern, versteckte Intelligenz."

    Zum anderen habe die höhere Aufmerksamkeit für Autismus zwar dazu geführt, dass Ärzte sensibler für autistische Symptome geworden sind. Genauer seien die Diagnosen deshalb aber nicht. Im Gegenteil: Bei rund zwei Dritteln der Autisten tritt die Störung zusammen mit anderen Störungen auf, mit Ängsten oder der Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung ADHS. Und nicht selten, so Inge Kamp-Becker, werde heute eine autistische Störung diagnostiziert, wo noch vor kurzem "nur", zum Beispiel, ADHS festgestellt worden wäre.

    "Die Abgrenzung zu anderen Störungen wird immer unklarer. Und das ist was, wo wir noch viel Arbeit zu leisten haben, das deutlich zu machen, was haben wir jetzt? Ein ADHS mit einzelnen autistisch anmutenden Symptomen? Oder haben wir einen Patienten mit einer autistischen Diagnose und komorbid ein ADHS? Wo ist es nur ein autistic trait bei einem Kind mit Störung des Sozialverhaltens oder einer emotionalen Störung. Und wo ist es wirklich eine autistische Störung? Das sind völlig unterschiedliche Dinge! Autistische Züge, die gibt es, ja. Aber das ist nicht Autismus."

    Was Autismus ist, das entscheiden Psychiater und Neurologen noch immer in erster Linie aufgrund des beobachtbaren Verhaltens. Es bleibt eine subjektive Einschätzung – gerade dort, wo autistische Symptome sehr denen anderer Krankheiten ähneln – oder wo sich nicht eindeutig sagen lässt, wie stark sie den Patienten wirklich beeinträchtigen. Kamp-Becker:

    "Die Kriterien – was ist Autismus und was ist nicht mehr Autismus – die verschwinden immer mehr. Was jetzt passiert, ist, dass das so ausfranst: Wo ist das Ende des Spektrums? Wenn wir sagen, es ist eine Eigenschaft – und so sagen die Studienlagen – das gibt es auch in der gesunden Normalbevölkerung und noch viel mehr bei anderen Störungsbildern, da gibt es auch autistische Eigenschaften, autistic traits. Dann wird immer unklarer: Was ist das dann?"

    Monika Scheele-Knight: "Ich denke schon, dass Autismus eine Behinderung ist. Es gibt ja auch Leute, die wollen, dass es aus diesem diagnostischen Handbuch der Psychiatrie ganz rausgenommen wird, so wie das einmal mit der Homosexualität gelungen ist. Das finde ich nicht gut, weil man doch zu viel Hilfe braucht: Wir haben einen Einzelfallhelfer, John hat die höchste Pflegestufe – und Hilfe bekommt man nur für pathologische Zustände. Man berichtet jetzt gern über Specialisterne oder Initiativen, die Autisten in Arbeit bringen. Und so positiv wie ich das finde, umso mehr sehe ich auch die Gefahr, dass andere aus dem Blickfeld geraten. Zum Beispiel jemand wie John – auf den das nie zutreffen wird."

    Rainer Döhle: "Es gibt auch unauffällige Autisten. Die aber trotzdem eine große Anstrengung im sozialen Bereich leisten müssen, die Schwierigkeiten haben, mit der Interpretation von Gestik, von Mimik, wie ein Schwan, der über einen See gleitet, dem man auch nicht anmerkt, dass er unter Wasser jede Menge paddeln muss, um vorwärts zu kommen. Nach außen sieht das immer so elegant aus, aber Autisten müssen da wirklich Schwerarbeit leisten. Da muss man auch sehen: die stärker Beeinträchtigen werden leichter erkannt. Und kriegen leichter Hilfe. Bei jemandem, der unauffällig durchs Leben geht, der kriegt nicht so leicht die Hilfe. Viele wären froh, wenn sie einen Einzelfallhelfer hätten, der bei praktischen Sachen hilft."

    Diagnostisch wird die Grenze zwischen gesund und krank in der Regel dort gezogen, wo autistische Merkmale die Entwicklung stark beeinträchtigen – oder wo ein Mensch wesentliche Aufgaben des täglichen Lebens nicht erfüllen kann, wo Hilfebedarf besteht. Die Grenze jedoch ist fließend – und es kommt vor, dass in Ämtern und Behörden erst die Diagnose "Autismus" die Tür zu bestimmten Fördermaßnahmen öffnet. In der Forschung dagegen bleibt die Frage Krankheit oder Charakterzug vorerst unentschieden. Sven Bölte:

    "Es spricht nichts dagegen, zu sagen: OK, alle Menschen variieren im Bereich ihrer sozialen kommunikativen Fertigkeiten, einige sind zwanghafter und weniger flexibel. Und wenn wir in einen Bereich kommen von sehr gering ausgeprägtem Sozialverhalten, dann befinden wir uns im Bereich des Autismus. Und auf der anderen Seite wären dann die Leute, die wahnsinnig kommunikativ und sozial sind, sehr flexibel – ist nicht undenkbar, dass man da mal hinkommt. Aber das ist bei mir so und auch bei vielen anderen Forschern, dass man sich nicht sicher ist, ob es nicht doch diesen Shift gibt, eine qualitative Änderung. Und ich habe meine Meinung da auch 20 bis 30 Mal geändert, weil es einfach schwierig ist."

    Rainer Döhle: "Aber so ein stark eingeschränkter Autist, mit dem fühle ich mich genauso verwandt, wie mit jemandem, der unauffällig ist und eine funktionierende Familie hat und Manager ist und sein Leben im Griff hat. Und es muss sich auch nicht immer der Einzelne anpassen, man macht die Umwelt auch barrierefrei für Körperbehinderte, dass man Rampen baut – und wenn man weiß, ein Autist hat eine bestimmte Einschränkung, dass er leicht überreizt ist oder so, dann kann man auch sehen, dass man die Umwelt ein bisschen anpasst, dass er da besser funktionieren kann."