Donnerstag, 28. März 2024

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Manuskript: Der Arzt in Dir

Menschen verfügen über innere Ressourcen, mit denen sie die eigene Schmerzwahrnehmung kontrollieren können. Das hat die Placeboforschung inzwischen eindrucksvoll bewiesen. Allerdings wurden die meisten Studien mit gesunden Versuchspersonen durchgeführt. Dass dieselben psychologischen Mechanismen auch bei Kranken einen Behandlungserfolg erzielen können, belegen erst jetzt einige große Studien, die derzeit kurz vor ihrem Abschluss stehen.

Von Kristin Raabe | 24.02.2013
    Ich stelle mir einmal vor, dass der Körper nichts anders sei als eine Statue oder Maschine aus Erde, die Gott gänzlich in der Absicht formt, sie uns so ähnlich wie möglich zu machen, und zwar derart, dass er ihr nicht nur äußerlich die Farbe und die Gestalt aller unserer Glieder gibt, sondern auch in ihr Inneres alle jene Teile legt, die notwendig sind, um sie laufen, essen, atmen, kurz alle unsere Funktionen nachahmen zu lassen, von denen man sich vorstellen könnte, dass sie aus der Materie ihren Ursprung nehmen und lediglich von der Disposition der Organe abhängen.
    René Descartes

    Der Mensch als Maschine. Atmung, Nahrungsaufnahme, Bewegung – das Leben an sich, eine Abfolge mechanischer Prozesse? Das Bild vom "Körperautomaten" stammt von René Descartes. Er hat die Trennung von Leib und Seele zugespitzt. Sein Denken beeinflusst auch heute noch unser Menschenbild – auch das der Ärzte. Die medizinische Forschung hat auf der Ebene der Zellen und Moleküle viele Prozesse enträtselt, die den "Körperautomaten" am Laufen halten. Wenn dort etwas nicht mehr richtig "funktioniert", können sie mit Medikamenten oder dem Skalpell die Mechanik des Körpers wieder in ein Gleichgewicht bringen. Aber zunehmend regen sich auch innerhalb des Medizinbetriebes Zweifel, ob diese Art Menschen zu therapieren tatsächlich sinnvoll ist. Es scheint da noch einen Faktor zu geben, der mit darüber entscheidet, ob eine Behandlung wirksam ist und welche Nebenwirkungen sie hat. Neue Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass die innere Haltung eines Patienten wesentlich mitbestimmt, ob eine Therapie anschlägt oder nicht.

    "Wir unterteilen gar nicht mehr in psychische und in körperliche Erkrankungen, sondern man weiß heutzutage, dass bei jeder Art von Schmerz die psychischen Faktoren immer eine Rolle spielen und vor diesem Hintergrund macht eigentlich diese Trennung überhaupt keinen Sinn mehr. Und wenn man dann noch miteinbezieht, dass das Gehirn ja die Schaltzentrale dieser Schmerzen ist, kann man eigentlich sagen, da vermengt sich eben die Psyche immer mit dem Körperlichen."

    Regine Klinger ist Psychologin und erforscht schon seit vielen Jahren an der Universität Hamburg, wie Menschen mit Schmerz und Krankheit umgehen. Einiges hat sie dabei von der Placeboforschung gelernt. Inzwischen ist hinlänglich bewiesen: Menschen verfügen über innere Ressourcen, mit denen sie die eigene Schmerzwahrnehmung kontrollieren können. Allerdings sind die meisten Placeboexperimente mit gesunden Versuchspersonen durchgeführt worden. Kranke Menschen gehen möglicherweise völlig anders mit ihren Schmerzen um. Lassen sich die Erkenntnisse der Placeboforscher bei echten Krankheiten im klinischen Alltag nutzen? Am Universitätsklinikum Essen, hat die Psychologin Sigrid Elsenbruch Patienten mit Reizdarmsyndrom und ihre Schmerzwahrnehmung mit der von gesunden Versuchspersonen verglichen. Diese Patientengruppe war für sie auch deswegen besonders interessant, weil die körperlichen Symptome oft mit psychischen Beschwerden einhergehen.

    "Das sind Emotionen wie Ängstlichkeit oder auch Traurigkeit, also Depressionen und die sind ja auch bei diesen Betroffenen häufig verstärkt. Also ein größerer Prozentsatz der Patienten mit Reizdarm leidet auch unter Ängstlichkeit oder Depressivität. Wir wissen nicht genau, warum das so ist, es kann auch Folge dieser dauernden Belastung durch die Symptome sein."

    Irgendeine Verbindung zwischen den körperlichen Symptomen und den psychischen Zuständen scheint es zu geben. Patienten mit Reizdarmsyndrom machen oft die Erfahrung, dass ihr Leiden bei Stress oder psychischer Anspannung schlimmer wird. Dann bekommen sie Bauchschmerzen und ihre Verdauung ist verändert. Verstopfung und Durchfälle können sich abwechseln. Wie sie mit den für ihre Erkrankung typischen Schmerzen umgehen, hat die Essener Psychologin im Kernspintomographen untersucht. Während die Patienten in der Röhre lagen, führte sie einen kleinen Katheter in den Enddarm ein. Dieser Katheter enthielt einen Ballon, der sich unterschiedlich stark aufblasen lies. Dadurch entstand dann zunächst ein unangenehmes Völlegefühl und bei weiterem Aufblasen sogar ein Schmerz. Tatsächlich reagierten die Patienten mit dem Reizdarmsyndrom in diesem Experiment völlig anders als gesunde Versuchspersonen. Elsenbruch:

    "Der Schmerz hat für die eine ganz andere Bedeutung, der löst mehr Ängste aus, die gleichen Reize werden als wesentlich unangenehmer eingeschätzt."

    Dass die Angaben der Patienten über ihre Schmerzwahrnehmung korrekt war, konnte Sigrid Elsenbruch auch an der Aktivität im Gehirn ablesen. Nur bei den Reizdarmpatienten, nicht aber bei den gesunden Versuchspersonen waren auch jene Hirnbereiche aktiv, die einen Menschen Angst fühlen lassen. Aber das erklärte noch nicht, warum sie stärkere Schmerzen spürten. Die Psychologin vermutete, dass ihre Versuchspersonen vielleicht besonders sensibel auf alle Empfindungen im Darmbereich reagieren. Dann hätten die Reizdarmpatienten auch schon bei deutlich schwächerem Aufblasen des Katheters einen Schmerz empfinden müssen.

    "Was wir gesehen haben, diese Schmerzschwellen, die sind gar nicht unterschiedlicher. Die sind gar nicht sensibler, also die merken das gar nicht früher, aber die bewerten es eben als viel schlimmer. Das heißt also die Schmerzbewertung ist verändert und da spielt eben diese Ängstlichkeit und wahrscheinlich auch diese Depressivität eine große Rolle."

    Wenn ein Mensch Schmerzen spürt, sind im Gehirn eine Vielzahl von Arealen aktiv. Einige davon verarbeiten lediglich die Sinneswahrnehmungen der Schmerzrezeptoren, andere bewerten den Schmerz. Auch jene Hirnteile, die für die Verarbeitung von Gefühlen verantwortlich sind, stehen mit den Schmerzarealen in Verbindung. Obwohl gesunde Versuchspersonen und Reizdarmpatienten in diesem Experiment dieselben Schmerzen zugefügt wurden, unterschieden sich die Aktivierungsmuster in ihrem Gehirn. Elsenbruch:

    "Wir sehen da in präfrontalen Arealen Aktivierungen, die auch für Vermeidungsverhalten wichtig sind. Weil als Patient oder Patientin will man ja auch möglichst es vermeiden, diese Schmerzen zu erleben, und deswegen sind da Kognitionen mit verknüpft, die für dieses Vermeidungsverhalten wichtig sind."

    Die Erfahrung mit Schmerzen verändert nicht nur die Aktivierungsmuster im Gehirn. Auch die Hirnstruktur verändert sich. Das konnten chinesische Forscher 2010 beweisen. Sie untersuchten die Gehirne von Frauen mit starken Menstruationsschmerzen und verglichen sie mit Gehirnen von Frauen, die nicht unter solchen Symptomen litten. Bei den Frauen, die monatlich unter Regelschmerzen litten, war die graue Hirnmasse in einigen Teilen des Schmerznetzwerkes geschrumpft, in anderen dagegen angewachsen. Die regelmäßige Schmerzerfahrung hat das Gehirn also regelrecht verformt. Lange glaubten Forscher nicht, dass solche strukturellen Veränderungen auch wieder rückgängig gemacht werden können.

    "Wenn man bei Patienten vor und nach einer Hüftoperation – vor einer Hüftoperation haben viele Schmerzen und danach ist es weg – und wenn man vorher und nachher sich das Gehirn anguckt sieht man tatsächlich, dass nach Auflösung der Schmerzen sich diese Strukturveränderungen wieder auflösen. Das heißt, wir verstehen jetzt besser, dass das Gehirn einfach ein Organ ist wie ein Muskel, der wächst ja auch wieder, wenn ich den trainiere und wenn ich einen Monat gar nichts mache, dann entwickelt sich der wieder zurück und so ähnlich ist das mit dem Gehirn auch."

    Und wenn schließlich eine vernunftbegabte Seele in dieser Maschine sein wird, wird sie ihren Hauptsitz im Gehirn haben und dort wie der Quellmeister sein, der den Verteiler, an dem alle Röhren dieser Maschine zusammenkommen, bedienen muss, wenn er in irgendeiner Weise ihre Bewegungen beschleunigen, verhindern oder verändern will.
    Rene Descartes

    "Ich habe schon seit vielen Jahren Schmerzen – Fibromyalgie. Rückenschmerzen habe ich schon mein Leben lang – seit meiner Jugend. Ich hatte verschiedene Therapien im weitesten Sinne – ausprobiert, Psychotherapie, naturheilkundliche Verfahren - eigentlich sind die Schmerzen immer schlimmer geworden."

    Anna Geiger war Lehrerin. Ihre täglichen Schmerzen machten es ihr irgendwann schwer, noch etwas an die Tafel zu schreiben. Sie strickte gerne und musste auch dieses Hobby aufgeben. Vor ihrer Krankheit trieb sie viel Sport: Trampolinspringen, Turnen und Fahrradfahren – all das war irgendwann nicht mehr möglich. Der Schmerz stand irgendwann im Zentrum ihres Lebens.

    "Generell Schmerzen ist ja häufig mit Depression oder depressiven Verstimmungen oder schlechten Stimmungen verbunden und das war eben ein häufiger Begleiter, was eigentlich die Situation wieder verschärft und das ist eben ein ewiger Teufelskreis."

    Das Gehirn ist so etwas wie das Organ, das unsere psychischen Zustände steuert. Gleichzeitig werden von dort aus wichtige körperliche Prozesse überwacht und kontrolliert. Hirnzellen können durch die Aktivierung von Nervenbahnen oder die Ausschüttung von Hormonen und Botenstoffen den Herzschlag beschleunigen, die Atmung verändern oder auch die Aktivität des Immunsystems kontrollieren. Gleichzeitig können viele Organe oder auch Immunzellen auf ähnlichem Weg die Zustände des Gehirns und damit auch der Psyche verändern. Körper und Geist sind untrennbar miteinander verbunden. Das ist mittlerweile sogar wissenschaftlich bewiesen. Was lässt sich aber nun mit diesem Wissen anfangen? Können Ärzte es nutzen, um Kranken zu helfen? Auf welche Weise lassen sich die inneren Heilungsressourcen eines Patienten am besten wachrufen? Antworten auf diese Fragen sollen einige größere Studien liefern, die zur Zeit in Deutschland laufen. Im Fokus stehen Krankheiten wie Krebs, Herzleiden, Chronischer Schmerz, Parkinson – Krankheiten, mit durchaus beachtlichen Fallzahlen.

    Eine Pilotstudie zu Rückenschmerzen hat Regine Klinger in Hamburg durchgeführt. Dazu hat sie schlichtes Wasser mit Lebensmittelfarben rot eingefärbt und ihm zusätzlich einen bitteren Geschmack verliehen. Patienten, die unter starken, schwer zu behandelnden Rückenschmerzen litten sagte sie, dass es sich um ein neues hochwirksames Medikament handele.

    "Wir haben dann eben die Patienten bevor sie diesen Placebo bekommen haben, getestet in ihrer Beweglichkeit und haben dann nach dieser Prozedur wiederum die Beweglichkeit wieder überprüft und natürlich auch das Rückenschmerzgeschehen überprüft und konnten dann eben nach dieser vermeintlich schmerzlindernden Tinktur eine deutliche Bewegungssteigerung nachweisen und auch eine deutliche Linderung der klinischen Rückenschmerzen."

    Rückenschmerzen sind in Deutschland die zweithäufigste Ursache für Arztbesuche. Siebzig Prozent aller Bundesbürger klagen mindestens einmal im Jahr über Schmerzen im Rückenbereich. Außerdem sind solche Beschwerden der Anlass für die meisten Frühverrentungen. Jährlich entstehen der deutschen Volkswirtschaft durch Rückenleiden Kosten von knapp 18 Milliarden Euro. Gleichzeitig fehlen aber wirksame Therapien. Schmerzmittel greifen bei vielen Patienten nicht und Experten halten 85 Prozent der in Deutschland durchgeführten Bandscheibenoperationen für überflüssig. Das Schadensbild, das Ärzte in Kernspintomographen sehen, korreliert meist nicht mit den Schmerzen der Patienten. Bei manchen sind die Schäden groß, aber kaum Schmerzen vorhanden, bei wieder anderen kommt es regelmäßig zu starken Schmerzen, aber im Kernspinbild ist kein Schaden sichtbar. Was würde es bedeuteten, wenn es gelänge, bei all diesen Patienten jene inneren Kräfte zu aktivieren, die auch den Placeboeffekt hervorrufen? Klinger:

    "Wir haben sie dann hinterher auch aufgeklärt und ihnen klargemacht, dass sie auch selber diesen Prozess hergestellt haben. 99 Prozent derjenigen, die darüber die Aufklärung bekommen haben, waren sehr, sehr begeistert, dass so etwas überhaupt möglich ist, dass sie es selber schaffen, ihre Beweglichkeit zu verbessern, allein durch die Umstrukturierung ihrer Gedanken."

    Als Anne Geigers Alltag sich fast nur noch um die Schmerzen drehte, erfuhr sie durch Zufall von der "Schmerzpsychotherapie", die Regine Klinger am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf anbot.

    "Die Erwartung: Schaden kann es nicht. Hatte mir zwar nicht große Hoffnungen gemacht, aber dachte mir, dass es mir wahrscheinlich helfen würde – zumindest ein bisschen."

    Letztlich war sie dann aber doch überrascht wie diese Form der Schmerztherapie ablief:

    "Man würde vielleicht in Neudeutsch sagen, mir kam es vor wie ein Coaching. Es war so ganz konkret: Welche Probleme liegen an, wo haben Sie Schwierigkeiten, was bewältigen Sie schwer. Es werden am Anfang kurzfristige, langfristige Ziele gesetzt und aufgesetzt. Und da geht es erst einmal mit Plänen los, dass man einen Tagesplan macht, was mache ich, was kann ich überhaupt machen. Dass man realistisch sieht, übernehme ich mich eigentlich jeden Tag. Und das ist ja auch Frust, wenn ich nicht das geschafft habe, was ich eigentlich schaffen wollte."

    Wer jahrelang unter Schmerzen leidet, passt sein Verhalten diesem Zustand an. Die meisten Patienten mit Rückenschmerzen beispielsweise vermeiden Bewegungen. Sie haben irgendwann die Erfahrung gemacht, dass ihnen das Schmerzen bereitet, also bewegen sie sich nicht mehr. Durch den Bewegungsmangel bauen sich aber die Muskeln ab und das führt dann letztlich zu noch mehr Schmerzen. Die Erfahrungen, die ein Patient gemacht hat, verändern schließlich sein Verhalten. Regine Klinger:

    "Erwartung und Lernen spielen eben bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Krankheiten, speziell auch bei Schmerz, eine sehr große Rolle. Und diese Erwartungen gilt es eben zu verändern und da eben auch eine andere Erwartung beziehungsweise eine neue Erfahrung einzubauen, damit diese Erwartung eben auch verändert wird. Das wäre eben etwas, was man in der psychologischen Behandlung deutlich versucht und eben auch umsetzt."

    Mit positiven Erwartungen können jene inneren Ressourcen wachgerufen werden, durch die auch der Placeboeffekt Schmerzen lindern kann. Rückenschmerzpatienten beispielsweise muss ein Therapeut dazu bringen, sich wieder zu bewegen. Damit das gelingen kann, muss erst einmal die Krankheit aus dem Zentrum des Lebens entfernt werden. Klinger:

    "Also sozusagen zu gucken, wie kann ich mein Leben organisieren, ohne dass ich ständig diesen Schmerz im Mittelpunkt habe. Wie kann ich etwas tun, obwohl ich Schmerzen habe, aber was dann eben meine Aufmerksamkeit bündelt und wo ich mich darauf konzentrieren kann und wie kann ich das ermöglichen."

    Anna Geiger hat früher viel Sport gemacht und so fällt es ihrer Therapeutin nicht schwer, sie wieder zu mehr Bewegung zu motivieren. Aber auch da muss sie Grenzen akzeptieren. Fahrradfahren wie früher kann sie nicht mehr. Es ist aber machbar mit einem sogenannten E-Bike, einem Fahrrad also, das ihre Trittbewegung durch einen kleinen Elektromotor unterstützt. Immer wieder findet sie in der Therapie Lösungen, wie sie trotz ihrer Krankheit ein aktives Leben führen kann.

    "Wenn ich hier rausging, das war eigentlich nach jeder Stunde, war ich immer sehr optimistisch und gut gelaunt. Das hat sich manchmal gelegt wieder im Lauf der ein oder zwei oder drei Wochen, je nachdem wie die Intervalle waren. Es war eigentlich nicht schwierig. Ich habe zwar am Anfang nicht geglaubt, wie Frau Dr. Klinger sagte, wenn man bestimmte Sachen eine Zeitlang macht, dann verändern sich auch Strukturen im Gehirn oder auf Zellebene. Dachte ich, bei mir läuft das bestimmt nicht, aber es waren eben viele hilfreiche Tipps und irgendwann kam dann der Durchbruch."

    Jeder Mensch kann innere Ressourcen aktivieren, die seine Schmerzen und auch andere Symptome lindern können. Es sind dieselben Mechanismen, die auch den Placeboeffekt hervorrufen. Sie wachzurufen, kann aber nur gelingen, wenn sich die Rolle des Patienten im Medizinbetrieb ändert. Zurzeit ist ein Kranker eher so etwas wie ein Konsument. Er bekommt Medikamente, Operationen und andere Therapien verordnet. Die Verantwortung für seine Heilung liegt in den meisten Fällen bei den Ärzten, denn sie allein verfügen über die notwendige Kompetenz. In gewisser Weise ist also jeder Kranke auch unmündig. Wer die inneren Ressourcen eines Patienten nutzen will, muss also die Rolle des Patienten stärken.

    Der Arzt muss nicht nur bereit sein, selber seine Pflicht zu tun, er muss sich auch die Mitwirkung des Kranken, der Gehilfen und der Umstände sichern.

    Dieses Zitat stammt von Hippokrates. Der wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer griff es auf, als er sich im März 2011 zu den neuesten Erkenntnissen der Placeboforschung äußerte:

    Da der Placeboeffekt bei nahezu jeder Behandlung auftreten kann, kommt die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats zum Schluss, dass es absolut notwendig und dringlich ist, Ärztinnen und Ärzten bereits in der Ausbildung sowie in der Weiter- und Fortbildung Kenntnisse der Placeboforschung zu vermitteln.
    Bundesärztekammer (PDF)

    An Lehren lässt sich aus den jüngsten Forschungsergebnissen so einiges ziehen. Zum Beispiel über das Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Ärzte bewirken offenbar vor allem dann viel bei ihren Patienten, wenn sie selbst hohe Erwartungen an den Therapieerfolg haben. Umgekehrt scheinen Erfolge nicht von Dauer zu sein, wenn einer positiven Erwartungshaltung kein fühlbarer Effekt folgt. Die bislang eindrucksvollsten Ergebnisse stammen aus der Schmerzforschung. Hier zeigen erste Studien, dass die innere Einstellung unter Umständen ähnlich viel bewirkt wie das Medikament selbst. In Kooperation mit dem Hamburger Kopfschmerzzentrum hat Regine Klinger eine Studie mit 100 Kopfschmerzpatienten durchgeführt. Alle erhielten die dort übliche optimierte Medikamentenbehandlung. Ein Teil von ihnen lernte aber zusätzlich in psychologischen Therapien, den Umgang mit ihrer Krankheit zu verändern und ihre Selbstwirksamkeit zu aktivieren. Das Ergebnis:

    "Man kann sagen, dass ungefähr ein Viertel bis ein Drittel der Effektivität noch dazu gekommen ist. Diese zusätzliche Variante haben wir abgelesen an der Schmerzintensität und an der Schmerzhäufigkeit und es ist so, das Wesentliche ist ja auch diese Langzeiteffekte zu haben, also nach einem Jahr noch mal zu gucken, sind diese Effekte jetzt noch aufrechtzuhalten. Also bei jemandem, der jahrelang unter Migräne leidet, sind kurzfristige positive Ergebnisse da, aber die Frage ist, was ist in der Langzeitperspektive. Und was wir eben gesehen haben, war, dass die Patienten über die Zeit immer deutlich besser wurden, während die, die jetzt nur diese optimierte Behandlung bekommen haben, keinen weiteren Zuwachs sozusagen da hatten."

    Dass eine veränderte Erwartungshaltung Placeboeffekte hervorruft und Schmerzen lindern kann, ist keine neue Erkenntnis. Allerdings haben erst die neuesten Studien beweisen können, dass sich durch solche psychologischen Mechanismen tatsächlich auch langfristige Behandlungserfolge erzielen lassen. Wie groß diese Erfolge sind, hängt auch von der Erkrankung und der Art der Symptome ab. Regine Klinger:

    "Bei Kopfschmerzen – also chronischer Kopfschmerz vom Spannungstyp oder Migräne – kann man davon ausgehen, dass Migräneattacken noch bestehen bleiben, aber in einer deutlich niedrigeren Frequenz. Kopfschmerz vom Spannungstyp, wenn die nicht gerade ein Dauerzustand waren, sind die sehr, sehr gut beeinflussbar, so dass nach einer psychologischen Schmerztherapie die Patienten auch wirklich schmerzfrei sind. Und bei Rückenschmerzen auch wieder sehr stark abhängig, wie der Vorbefund war, aber generell kann man sagen, dass durch eine psychologische Schmerzpsychotherapie in Kombination mit einer Physiotherapie mit körperlichen Aktivitätsaufbau es zu einer deutlichen Reduktion bis hin zu fast 50 Prozent Schmerzlinderung eintreten kann."

    Anna Geiger: "Was ich eben als positiv erlebe, wenn Schmerzen einsetzen. Dann sage ich mir: 'Ach wenn es schlimmer wird, dann nimmst Du eben einfach eine Tablette.' Und dann brauche ich die gar nicht immer. Manchmal ja und manchmal nein. Aber es entsteht nicht mehr die Panik: 'O, Gott, was machst du wenn, das wird ja immer schlimmer.'"

    Regine Klinger: "Ganz wichtig ist, dass diese Panik: 'O, Gott, was mache ich denn jetzt..' oft der eigentliche Auslöser für diese Schmerzverstärkung ist. Und das ist durch diese Gedanken, über das Bewusstwerden, ich habe eigentlich Möglichkeiten damit umzugehen, schon erledigt. So dass dann häufig die Tablette auch gar nicht mehr erforderlich ist."

    Geiger: "Ich kam nach Hause, habe gesehen, nächsten Morgen ist Sperrmüll und ich habe also einen wahnsinnsschweren Schreibtisch da raus geschleppt. Ich wollte ihn unbedingt loswerden. Ich wusste, das gibt hinterher Schmerzen. Und dann habe ich alles rausgeschleppt, war total zufrieden, habe zwei Schmerztabletten genommen, habe Entspannungsübungen gemacht und gut war es."

    Medikamente können nur dann gut wirken, wenn ein Patient an ihre Wirkung glaubt. Einige Studien haben beispielsweise gezeigt, dass ein Wirkstoff seine schmerzstillende Wirkung nicht entfalten kann, wenn die Versuchsperson gar nicht weiß, dass sie ihn bekommt oder davon ausgeht, dass er sowieso nicht wirkt. Eine negative Einstellung zu einem Medikament kann nicht nur seine Wirkung blockieren, sondern auch das Auftreten von Nebenwirkungen fördern. Umgekehrt kann eine positive Haltung die Wirksamkeit fördern und Nebenwirkungen minimieren. Die Mechanismen, die den Placeboeffekt hervorrufen, sind vermutlich bei jeder Therapie, die ein Arzt verabreicht, vorhanden. Und sie wirken nicht nur bei Schmerzen, sondern auch bei anderen Erkrankungen. Studien an Parkinsonpatienten haben beispielsweise gezeigt, dass ein Scheinmedikament im Gehirn dieselben Reaktionen auslöst wie ein echtes Medikament. Bestimmte Nervenzellen schütten Dopamin aus und das Zittern der Patienten hört vorübergehend auf. Andere Studien wiederum haben gezeigt, dass auch Patienten mit juckenden Hautausschlägen profitieren. Selbst bei Krebserkrankungen lassen sich bessere Behandlungserfolge erzielen, wenn die Erwartungshaltung der Patienten positiv beeinflusst wird. Das konnte die Psychologin Yvonne Nestoriuc an der Universität Marburg bei einer Studie mit Brustkrebspatientinnen nachweisen:

    "Da ging es darum, wie die Erwartungen an eine Therapie die Lebensqualität beeinflussen, weil die, wenn sie einen hormonrezeptorpositiven Brustkrebs haben, was auf etwa 80 Prozent dieser Patientinnen zutrifft, in der Regel über fünf Jahre eine antihormonelle Therapie einnehmen müssen. Also jeden Tag eine Tablette über fünf Jahre und diese Therapie bringt potentiell auch einige Nebenwirkungen mit sich und zwar durch das künstliche Einleiten der Menopause eben diese menopausalen Beschwerden, wie Gelenkschmerzen, Hitzewallungen, Schlafstörungen und die Patientinnen leiden also unter diesen Nebenwirkungen und müssen die Therapie trotzdem über fünf Jahre fortsetzen."

    Wie würden sich die Erwartungen der Brustkrebspatientinnen auf das Auftreten von Nebenwirkungen auswirken? Um das herauszufinden, befragte die Psychologin 100 Brustkrebspatientinnen vor Beginn der Therapie und nachdem sie die Hormonpräparate schon einige Monate eingenommen hatten.

    "Wir konnten dann sehen, dass das, was die Patientinnen eingangs an Erwartungen über die Therapie mitbringen über sämtliche medizinische Faktoren hinaus - also Krankheitsschwere, Symptomstatus vor der Behandlung - einen wichtigen Beitrag zum Auftreten von Nebenwirkungen und zu der Lebensqualität leistet."

    Die Brustkrebspatientinnen entwickelten überdurchschnittlich häufig ausgerechnet jene Nebenwirkungen, vor denen sie schon vor Beginn der Therapie die meiste Angst hatten. Jene Patientinnen, die Hitzewallungen befürchteten, bekamen sie auch und diejenigen, die Angst vor einer Osteoporose hatten, litten tatsächlich unter Gelenkschmerzen. Für Yvonne Nestoriuc war nach diesem Ergebnis klar: Die Patientinnen müssen über das Medikament und die damit verbundenen Nebenwirkungen gründlicher aufgeklärt werden.

    "Das haben wir auch schon in unserer Studie gezeigt, dass sich die Erwartungen beeinflussen lassen und zwar in dem Fall allein schon durch ein einfaches Informationsgespräch. Wir haben uns mit den Patientinnen hingesetzt und noch einmal genau erklärt, was sind die Nebenwirkungen die auftreten können und mit welcher Wahrscheinlichkeit treten die auf und haben das in einer verständlichen Weise erklärt, zum Beispiel in der Form, dass wir gesagt haben: 'Von 100 Frauen, die das Medikament nehmen, bekommen 35 Schweißausbrüche.' Ohne das jetzt in Wahrscheinlichkeiten oder%angaben zu verstecken und das wurde als sehr positiv von den Patientinnen erlebt."

    Durch die Aufklärung der Patientinnen veränderten sich auch deren Erwartungen an die Therapie. Bei jenen Frauen, die mit einer positiven Einstellung an die Einnahme der Hormone herangingen, traten 30 Prozent weniger Nebenwirkungen auf. Normalerweise brechen bis zu 60 Prozent der Frauen in den Brustkrebszentren aufgrund von Nebenwirkungen diese Therapie ab. Sie kann aber nur ihre Wirkung entfalten, wenn sie über fünf Jahre regelmäßig eingenommen wird. Dann aber reduziert sie das Risiko für einen neuen Tumor um die Hälfte. Wenn eine gute Aufklärung die Rate der Nebenwirkungen und der Therapieabbrüche verringert, rettet sie faktisch also Leben. Yvonne Nestoriuc erarbeitet zur Zeit in einer weiteren Studie Strategien und Maßnahmen, wie genau eine bessere Aufklärung von Brustkrebspatientinnen durchgeführt werden könnte. Ihre Ergebnisse sollen dann in Form von Leitlinien Ärzten zugänglich gemacht werden. Auch in der Schmerztherapie und in anderen Bereichen der Medizin könnten Ärzte viel bessere Therapieerfolge erzielen, wenn sie ihre Patienten nur gründlich aufklären würden. Nach Meinung von Regine Klinger geschieht das im medizinischen Alltag viel zu selten:

    "Da wissen die meisten Patienten meist überhaupt nicht, was für Medikamente da auf ihrem Nachttisch in diesem kleinen Kästchen liegen. Also, die wissen definitiv nicht, was sie da eigentlich einnehmen. Das heißt also, dass wir davon ausgehen können, dass die Wirksamkeit von Medikamenten im Krankenhaus um ein Großteil reduziert ist. Diesen Verlust, den wir da in Kauf nehmen, das wäre etwas, was also dringend verändert werden muss."

    Ärzte, die in Krankenhäusern arbeiten, argumentieren in der Regel, dass ihnen die Zeit für eine gründliche Aufklärung fehlt. Das ist allerdings ein Argument, das Regine Klinger nicht gelten lassen will:

    "Ich glaube nicht, dass es eine Sache ist, die sehr viel mehr Zeit in Anspruch nehmen muss, um solche Prozesse zu nutzen. Also man kann durch eine einfache Instruktion der Patienten – und die muss wirklich trainiert werden, die muss auch mit den Schwestern am Krankenbett trainiert werden, kann man eben den Patienten in diese Selbstwirksamkeitsschiene hineinbringen. Aus meiner Sicht ist es immer viel aufwendiger einen Patienten vor sich zu haben, der unter chronischen Schmerzen leidet und der ständig klingelt um noch neue Medikamente zu ordern, das ist viel zeitaufwendiger, als wenn ich das erste Mal eine gute Instruktion gebe, was er oder sie eben selber dazu beitragen kann, um eben diese Schmerzbehandlung jetzt zu unterstützen - da gibt es im Krankenhaus sehr viele Möglichkeiten."

    Alle Tätigkeit der Seele besteht aber darin, dass allein dadurch, dass sie irgendetwas will, sie bewirkt, dass die kleine Hirndrüse, mit der sie eng verbunden ist, sich in der Art bewegt, wie erforderlich ist, um die Wirkung hervorzurufen, die diesem Willen entspricht.

    Aus heutiger Sicht hat Descartes das Leib-Seele Problem erst in die Welt gesetzt. Für ihn war es allerdings kein Problem. Der große Denker glaubte, dass es eine göttliche Verbindung zwischen beidem gäbe. Die Seele steuere über die Hirnanhangdrüse die Körperfunktionen. Dazu reiche allein der Wille. Nie wäre es Descartes in den Sinn gekommen, dass ein Arzt die Seele einfach ignorieren könnte.

    Anna Geiger: "Wenn mich so in den letzten Jahren Leute gefragt haben: 'Wie geht’s?' Habe ich entweder 'schlecht' oder 'geht so' oder 'na, ja einigermaßen' oder 'abwechselnd'. Und die letzten Monate habe ich gesagt: 'Ganz gut.' Und jetzt sage ich: 'Gut.' Das habe ich seit ewigen Jahren nicht mehr gesagt."