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Manuskript: Der Traum vom aufrechten Gang

18 Jahre lang war sie seit einem Unfall auf ihren Rollstuhl angewiesen. Jetzt könnte Nicole Holland wieder laufen lernen - mit einem Exoskelett. Solche Roboteranzüge sollen nicht nur Soldaten und Arbeitern neue Kräfte verleihen, sondern auch Querschnittsgelähmten.

Von Thomas Reintjes | 01.04.2013
    "Wenn Du in Augenhöhe jemanden antriffst, das ist anders. Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, aber es ist anders. Oder auch so Räumlichkeiten auf einmal wieder so wahrnehmen, wie ich sie früher wahrgenommen hab. So dieses Überschauen, genau das ist es halt einfach: Man kann einfach die Dinge überblicken."

    "In der Regel sind die Patienten mindestens ein Jahr lang nach einem Unfall, also ein Jahr querschnittsgelähmt, einige sind bereits seit 15, 16 Jahren querschnittsgelähmt und sind im Prinzip rollstuhlabhängig."

    "Mit diesen Gurten wird das dann angeschnallt und mit diesem Rucksack wird das System mit Energie und mit Daten versorgt. Und in diesen Kästen hier befinden sich Motoren und Elektroniken und die treiben die Kniegelenke an und die Hüftgelenke an. Und das wird alles über den Computer, der sich hier in diesem Rucksack befindet, gesteuert. "

    "Diese Exoskelette, die setzen natürlich schon so diese biblische Vision um des Paradieses. Lahme werden wieder gehen. Die Frage ist nur: Bringt es den Patienten was?"

    Der Traum vom aufrechten Gang - Exoskelette im Praxistest
    Von Thomas Reintjes

    "Ich bin Karnevalssamstag von der Arbeit gekommen und, aus welchen Gründen auch immer, ich weiß es nicht, also ich wollte eigentlich bremsen und hab Vollgas gegeben. Und dann hat der Wagen sich überschlagen. Und dann bin ich halt da raus und der Wagen ist dann über mich drüber und hat mir dann halt im ersten Lendenwirbel einen Trümmerbruch verursacht."

    Rund 19 Jahre ist das her. Seitdem ist Nicole Holland auf einen Rollstuhl angewiesen. In einem kleinen, wendigen Modell sitzt sie draußen vor einer Art wissenschaftlichem Fitnesscenter und raucht. Sie wartet auf ihr Lauftraining.

    "Der Unfall war '94 gewesen und da hatte man mir gesagt, zu 99 Prozent käme da nichts wieder. Und dann hatte ich gemeint, dass ich dann halt, wenn ich was habe, das feststeht, wo ich mich dann hochziehen konnte, dass dieses das eine Prozent wäre."

    Sich in der Küche mit den Armen an etwas hochziehen, das ging. Sogar Fensterputzen konnte Nicole Holland so. Aber Laufen – undenkbar. Doch sie ist nicht komplett querschnittsgelähmt. Sie kann ihre Beinmuskeln immer noch bewusst ansteuern, auch wenn daraus keine Bewegung entsteht. Das qualifiziert sie für ein spezielles Training, bei dem sie von einer neuartigen Maschine unterstützt wird.

    Mirko Aach, Chirurg am Universitätsklinikum Bergmannsheil in Bochum, legt Nicole Holland ein Exoskelett an, einen Gehroboter.

    "Wir wollen untersuchen, ob wir inkomplett paraplegische Patienten durch eine entsprechende Lokomotionstherapie, also eine Laufbandtherapie mit dem Exoskelett, was wir ausprobieren, mobiler bekommen. Ob wir es schaffen, durch ein entsprechendes Training einerseits die Beweglichkeit mit dem Exoskelett auf dem Laufband zu erhöhen oder ob wir eben andererseits die Patienten auch außerhalb des Exoskeletts, zum Beispiel am Rollator oder Unterarm-Gehstützen, leistungsfähiger bekommen."

    Exoskelette, außen liegende Skelette, sind ein Konzept aus dem Tierreich – Krustentieren verleihen sie Stabilität. Jetzt übertragen Hersteller künstlicher Exoskelette dieses Prinzip auf Querschnittsgelähmte. Die Beinschienen geben ihnen nicht nur Stehvermögen, sondern auch Kraft. Auf Höhe der Knie und der Hüfte befinden sich in den Gelenken Elektromotoren, die das Skelett antreiben. Im Rückenteil sitzen Steuerelektronik und Stromversorgung. So ist es bei dem japanischen Modell HAL, das die Bochumer Patienten nutzen, und so ist es auch bei den anderen: Ekso aus den USA, Rex aus Neuseeland und ReWalk aus Israel. Alle wenden sie sich an ähnliche Zielgruppen. John Frijters von Argo Medical Technologies, den Entwicklern von ReWalk:

    "Leute, die mit einer Handfunktion Krücken halten können, die ihren Körper vertikal belasten können, das heißt, eine vernünftige Knochendichte, ein vernünftiger Herz-Kreislauf, damit ihnen, wenn sie aufstehen, nicht sofort schwarz vor Augen wird, und die lernfähig und lernbereit sind. Das heißt, ich muss eine Grundkondition haben, damit ich tatsächlich auch üben kann. Und unsere Zielgruppe sind dann Querschnittsgelähmte, komplett oder inkomplett, die für diese neue Technik offen sind."

    Auf Videoplattformen im Internet finden sich zahllose Videos, in denen Querschnittsgelähmte den Rollstuhl hinter sich lassen und dank Exoskelett wieder gehen. Sie umarmen ihre Freunde oder Familienmitglieder vor Glück oder begeistern bei öffentlichen Veranstaltungen applaudierende Menschenmengen. Selbstverständlich ist es für die Gelähmten und für ihr gesamtes Umfeld ein sehr emotionaler Moment, wenn sie entgegen aller Prognosen den Rollstuhl verlassen und auf eigenen Beinen stehen können.

    Denise Engelmann, seit zehn Jahren teilgelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen, ist dabei, ähnliche Erfahrung zu machen. In der Heidelberger Orthopädie testet sie gerade ein Exoskelett, ist dazu extra aus dem Hunsrück angereist. Es ist der zweite Tag, an dem sie das Gerät mit dem Namen Ekso für eine Stunde ausprobieren kann. Schon jetzt kann sie damit gehen – zwar betreut, aber im Wesentlichen selbstständig. Auf einem Stuhl sitzend hat ein Vertreter des Herstellers ihr das Exoskelett angelegt, auf Knopfdruck richtet es sie auf. Mit zwei Krücken stützt sie sich ab und geht im Foyer auf und ab. Immer, wenn ihr Therapeut einen Knopf drückt, setzt Denise Engelmann einen Fuß vor den anderen. Mit etwas Übung könnte sie wahrscheinlich schon bald ganz alleine mit Ekso laufen. Immer wieder bleibt der Blick von Passanten – Ärzte, Patienten, Personal – an dem Gehroboter hängen. Schritt für Schritt geht Denise Engelmann und stützt sich mit den Krücken ab, bemüht sich, ihre Unsicherheit zu verbergen und in dem Video, das ihr Partner mit dem Smartphone dreht, gut auszusehen. Das Video wird sie mit nach Hause nehmen und sicher stolz Freunden und Verwandten zeigen. Das 100.000 Euro teure Exoskelett kann sie nicht mitnehmen. Eine herbe Enttäuschung, sollte man meinen. Nicht so für Denise Engelmann:

    "Also für zu Hause selber, privat denke ich, kann man es gar nicht realisieren, weil man ja doch dann zu eingeengt ist dann in dem Ekso selber."

    Es sind nicht nur die Kosten, die die Patientin abschrecken, es ist die Handhabung. Zwar könnte Ekso Schritte mit etwas Übung ohne Knopfdruck auslösen, allein durch eine entsprechende Belastung der Sensoren in den Fußsohlen. Doch ohne Krücken geht es derzeit nicht.

    "Die Hände hat man jetzt auch nicht unbedingt dann frei in dem Ekso, weil man muss sich ja dann doch noch abstützen. Also das ja, also man hat einfach seine zwei Hände nicht frei. Das ist vielleicht für einen Rollstuhlfahrer die Freiheit: die zwei Hände frei zu haben für irgendwas zu machen."

    Mehr Beinfreiheit bedeutet eben noch keine Rückkehr in das alte Leben auf zwei Beinen. Die Hersteller – das zeigen die Videos im Internet – hatten sich das wohl anders vorgestellt. Ohnehin hatte sie zunächst ganz andere Pläne mit den Gehrobotern. Ein großer Teil der Entwicklungsarbeit an Ekso wurde nicht für Patienten gemacht, sondern für Gesunde: Soldaten sollen dank Exoskeletten größere Lasten über längere Distanzen tragen können. HULC heißt einer der Vorgänger von Ekso, inzwischen lizenziert von der Rüstungs-firma Lockheed Martin. Menschen ohne Gefühl in den Beinen lassen sich allerdings nicht so leicht mit Superkräften ausstatten wie kerngesunde Soldaten. Für die Hersteller heißt das: Sie müssen sich vorerst von der Idee verabschieden, Exoskelette als Rollstuhlersatz zu verkaufen. Sandy Laping von Ekso Bionics, weiß das:

    "Wir haben nicht den Anspruch und wir verkaufen auch nicht den Anspruch, dass ein Gehroboter den Rollstuhl ersetzen wird. Was in 10 oder 15 Jahren sein wird, wissen wir nicht. Aber wir sagen ganz klar... Also man darf den Leuten einfach keine falsche Hoffnung machen."

    In Heidelberg führt sie das Gerät während einer Testwoche vor: Patienten wie Denise Engelmann, vor allem aber Personal und Entscheidern in der orthopädischen Klinik – denn das sind die neuen Kunden: Reha-Einrichtungen. An sie wendet sich auch John Frijters mit ReWalk. Für ihn ist der vermeintliche therapeutische Nutzen ein wichtiges Verkaufsargument.

    "Sie können sich das vorstellen: Wenn die Innereien zusammen gequetscht sind, das drückt auf die Lunge, das drückt auf das Herz, dass das über das Leben gerechnet einfach nicht gesund ist. Und eine Vorbeugung ist: In dem Moment, wo ich mal aus dem Rollstuhl komme und stehe und auch gehe, sogar noch aktiv bin, dann ist das für die Verdauung zum Beispiel gut, für den Kreislauf ist es gut, für die Atmung ist es gut und natürlich werden die Gelenke mal bewegt."

    Seit sechs Wochen trainiert Nicole Holland täglich mit dem Exoskelett HAL an der Uniklinik Bochum. Als eine von fünf Probanden trägt sie in einer Pilotstudie dazu bei, den Nutzen der Exoskelette zu eruieren. Es ist das erste Mal, dass die Effekte Laufkorsette in Deutschland systematisch untersucht werden. Bei Erfolg will der japanische Hersteller Cyberdyne die Geräte auch in Europa vertreiben. Die Cyberdyne Gemany GmbH ist bereits gegründet, Firmensitz: Bochum. Nicole Holland hat sich deutlich gesteigert, läuft inzwischen drei Mal zehn Minuten hintereinander auf einem Laufband, ständig beobachtet von Physiotherapeutin Irene Lange. Sie schaut auf ein Display am Rückenteil des Exoskeletts.

    "Man kann die jeweilige Belastung auf dem Fuß, sowohl rechts als auch links sehen, und ob es ein Ausgleich ist oder nicht, ob sie auf einer Seite mehr belastet oder auf einer Seite weniger. Dementsprechend kann man sie dann dahin bringen."

    Sensoren in den Schuhsohlen liefern die Werte, die einerseits der Computer des Exoskeletts, andererseits Irene Lange auswerten.

    "Es ist ziemlich ausgeglichen, das heißt, dass sie ziemlich gleich belastet, also die Standbeinphase auf jedem Bein gleichmäßig lang ist und genauso viel Gewicht drauf ist. Also sie ist besser geworden mit dem rechten Bein, das war am Anfang nicht so."

    Der Gang ist recht flüssig, ab und zu reißt das rechte Bein noch etwas aus, schnellt zu eilig nach vorne. Diese kleinen Fehler aber zeigen deutlich: Es ist Nicole Holland, die dieses Exoskelett steuert und keine programmierte Schrittbewegung, die HAL selbstständig ausführt. Vor jedem Training klebt ihr Irene Lange Elektroden auf die Beinmuskulatur. Sie nehmen wahr, wenn die Patientin ihre Beuger oder Strecker bewegen möchte – es aber wegen der Teil-Lähmung nicht kann. Aus der Trainingshose ragen Kabel heraus, über die die Signale zur Recheneinheit des Exoskeletts gelangen, die schließlich die Schritte auslöst. Die Elektromotoren geben nur so viel Unterstützung wie nötig. So viel wie möglich soll von den Trainierenden selbst kommen. Das hat einen Effekt: Bei Nicole Holland werden die Hosen enger.

    "Also Muskeln auf jeden Fall. Also, ich hab hier schon gut zugenommen, also Umfang aufgebaut im Oberschenkel, beiden, das eine Bein mehr als das andere. Aber, doch: Da hat sich viel getan."

    Muskelkater allerdings...

    "...hab ich leider nicht gespürt. Ich denke mir: bestimmt. Aber den hab ich nicht gemerkt."

    Die Muskeln wachsen, die Querschnittslähmung allerdings bleibt. Chirurg Mirko Aach:

    "Die Leitungsfunktionen am Rückenmark verändern sich erwartungsgemäß nicht. Weil: Der Rückenmarkschaden liegt viele Monate oder Jahre zurück, es hat sich dort eine Narbe im Rückenmark gebildet, und die werden wir nicht wegtherapieren können. Aber die Muskelfunktionen, die da sind, werden eben trainiert im Sinne eines motorischen Lernens. Das führt dazu, dass die Patienten ihre Muskelfunktionen einfach besser einsetzen können."

    Nach dem Exoskelett-Training auf dem Laufband folgt der Zehn-Meter-Gehtest. Den absolviert Nicole Holland heute nicht mehr mit Rollator, sondern mit Krücken. Ein gewaltiger Fortschritt. Irene Lange notiert Messwerte in ihrem täglichen Protokoll: Dauer, Anzahl der Schritte, Blutdruck, Puls. Für ihre Arbeit zählen aber nicht nur die Zahlen.

    "Für uns ist es wichtig, was im Alltag sich verändert. Also Nebensätze sind wichtig, wenn man hört: Da war ich bei meiner Mutter und habe die besucht. Und dann fragt man nach: Wo wohnt die denn? In der ersten Etage. Ach ja, klar, ich bin da ja zu Fuß hochgegangen. Solche Sachen sind für uns wichtig im Verlauf zu hören. Dass die Sachen, die man hier erlernt, im Alltag umgesetzt werden."

    Ohne Exoskelett, wohlgemerkt. Das bleibt im Bochumer Trainingszentrum in seinem Spint. Auch Nicole Holland hat solche Alltagserlebnisse zu berichten. Etwa, dass ein Gang durch einen Supermarkt etwas Besonderes sein kann.

    "Da bin ich dann halt mit dem Rollator in dieses Geschäft rein. Und nach diesen ja fast 19 Jahren über diese Regale, so dieses Darüberhinweggucken, das war eine ganz, ganz neue Erfahrung gewesen. Das macht natürlich dann auch Mut. Und dann muss ich sagen, sehr interessant, an der Kasse stehen ist was anderes wie an der Kasse sitzen."

    Die Querschnittsgelähmte nimmt die Welt anders wahr – und wird selbst anders wahrgenommen. Es treten aber auch ungeahnte Nebenwirkungen auf. Plötzlich muss sich Nicole Holland Gedanken über Schuhe machen.

    "Ich hätte gerne schöne Turnschuhe. Weil: Jetzt kann ich die ja dann auch richtig nutzen. Die sind ja nicht nur einfach Accessoire, sondern dass ich die halt nutzen kann. Da freue ich mich natürlich schon drauf. Ich hab Schuhe, die habe ich schon seit, 15, 16 Jahren oder so. Sind ja nie verschleißt worden."

    Dass die Patienten im Alltag beweglicher werden, sollte das dreimonatige Training in Bochum belegen. Im Fall Nicole Holland ist das schon jetzt kaum von der Hand zu weisen.

    Ingenieure haben die Exoskelette entwickelt, oftmals ohne von Anfang an eine klare Vorstellung von Einsatzzweck und Zielgruppe zu haben. Auch der Medizintechniker Rüdiger Rupp ist begeistert von der Technik:

    "Als Ingenieur ist man natürlich von so einer Technologie hin und weg. Diese Exoskelette, das ist natürlich schon so ein Masterpiece of Engineering, muss man schon sagen. Es sieht erstmal toll aus, es ist eine sehr, sehr interessante Technologie – Motoren, es bewegt sich da was, es ist viel Elektronik dabei. Wenn man einfach so ein Technik-Faible hat, dann muss man davon begeistert sein. Also, das geht gar nicht anders. Das ist eine gewisse Faszination. Das nächste, was man natürlich auch sagen muss: Diese Exoskelette... Man kann sich nicht ganz erwehren... Die setzen natürlich schon so diese biblische Vision um des Paradieses. Lahme werden wieder gehen. Und man sieht halt tatsächlich Leute, die keinerlei Restfunktionen in den Beinen haben, dass die mit einem solchen Exoskelett tatsächlich gehen können."

    Rüdiger Rupp ist aber nicht nur Ingenieur, er ist auch Forscher an der Orthopädischen Uniklinik in Heidelberg. Er beobachtet die Entwicklung der Exoskelette schon lange und ist der Meinung: Ein Rollstuhlersatz sind Exoskelette nicht. Mit Höchstgeschwindigkeiten von um die zwei Kilometer pro Stunde sind sie viel langsamer als Rollstühle. Sie eignen sich außerdem nur für ebenen Untergrund, im Wald oder am Strand spazieren gehen können Träger damit nicht. Manche Geräte, ReWalk zum Beispiel, eignen sich allerdings zum Treppensteigen, vorausgesetzt man bringt viel Zeit mit – etwa zehn Minuten für ein Stockwerk. Dennoch: Nach einer Testwoche mit Ekso sieht Rüdiger Rupp einige Versprechen der Hersteller tatsächlich bestätigt.

    "Alle Patienten, die wir jetzt mit dem Ekso behandelt haben, sagen, dass sie therapeutische Effekte verspüren. Soll heißen: Die Spastik nimmt ab. Das ist ein Problem für Patienten, dass unwillkürliche Muskelzuckungen bei vielen da sind, die sie auch wirklich in ihrem Alltagsleben behindern. Und alle diese Patienten sagten, nachdem sie mit dem Ekso eine halbe Stunde gelaufen sind, ging ihre Spastik zurück. Rumpfstabilität, also dass Sie besser ihren Rumpf kontrollieren können, das ist so ein Thema, das für die Patienten durchaus auch sehr wichtig ist. Durchblutung: Patienten gaben an, dass ihre Durchblutung besser war. Blasenkontrolle, das ist auch so eine relativ wichtige Geschichte für Patienten. Also eher die therapeutische Schiene."

    Allerdings sind diese Effekte nur anekdotisch übermittelt und nicht wissenschaftlich untersucht und belegt. Es gibt keine Studien mit großen Patientenzahlen, die den Nutzen beweisen. Nur Indizien, die nahelegen, dass sich das Wohlbefinden steigern lässt. Rüdiger Rupp glaubt allerdings nicht, dass dafür Exoskelette nötig sind.

    "Es gibt sehr schöne Fahrräder, Ergometer, die in Kombination mit einer Elektrostimulation arbeiten. Die kosten einen Bruchteil von einem solchen Exoskelett. Mit denen kann man wesentlich bessere Effekte, was die Spastikmilderung zum Beispiel angeht, erzielen. Also: Wir haben schon therapeutische Möglichkeiten, die nicht unbedingt eines Exoskeletts bedürfen. Und meine Frage, die ich habe, ist: Wofür setzen wir es wirklich ein? Wo ist der Zusatznutzen, den wir durch so ein System haben?"

    Die Frage bezieht sich auf komplett wie inkomplett Gelähmte gleichermaßen. Bei vollständig Querschnittsgelähmten bringt oftmals schon eine Vertikalisierung die gewünschten Effekte. Die Patienten werden dazu mit einem Stehbrett in eine aufrechte Position gebracht. Zuhause können sie Stehrollstühle nutzen. Patienten, bei denen noch Restfunktionen vorhanden sind, können laut Rupp ebenfalls mit bereits etablierten Therapiewerkzeugen ihre Motorik verbessern. Dazu gehört der Lokomat, eine Art Exoskelett, das allerdings fest auf einem Laufband montiert ist. Studien müssen noch zeigen, dass Exoskelette tatsächlich besser sind als diese Therapien. In Deutschland und Europa sollen dazu noch 2013 mehrere große Versuchsreihen starten. Auch Rüdiger Rupp sieht großen Forschungsbedarf – weiß aber nicht, wo das Geld für die Untersuchungen am besten investiert ist.

    "Also geht man auf diese Side Effects, also dass die Spastik zurückgeht, dass die Blasenentzündungshäufigkeit zurück geht, dann braucht man riesen Patientenzahlen. Und riesen Patientenzahlen ist immer teuer. Oder soll man sich eher bei den inkompletten Patienten, also die Patienten, die noch Restfunktionen haben, soll man sich eher da auf Gehfunktionsverbesserungen stürzen. Und das weiß man nicht so richtig genau, zeigt aber auch genau das Problem der Exoskelette, dass man im Moment noch nicht so richtig weiß: Wofür soll man sie denn auch tatsächlich einsetzen?"

    Die bisher vorliegenden Studien betrachten vor allem Sicherheitsaspekte. Um die für den Vertrieb in Europa nötige CE-Zertifizierung zu erhalten, müssen die Hersteller nachweisen, dass Patienten in den Exoskeletten kein Schaden entsteht. Diese Minimalanforderung kann also als gesichert gelten – zumindest in Reha-Zentren in Begleitung von Fachpersonal. Die Sicherheit zu Hause zu gewährleisten bleibt dagegen ein große Herausforderung, so Sandy Laping von Ekso Bionics.

    "Eine Unit für den Hausgebrauch in Anführungszeichen, ist auch in der Entwicklung, die wird voraussichtlich Ende 2014 auf den Markt kommen. Was uns da aber ganz wichtig ist, dass alles, was so an Sicherheitsfaktoren mit eingeplant werden muss….Wir werden die erst auf den Markt bringen, wenn wir wirklich sicher gehen können, dass das Ding sicher ist."

    Selbst wenn die technische Sicherheit gewährleistet ist, macht manchen Patienten die gefühlte Sicherheit einen Strich durch die Rechnung. Sie fühlen sich unwohl in der inzwischen ungewohnten Höhe. Gerade bei komplett Gelähmten, die ihre Beine gar nicht mehr kontrollieren können, kann das "Gegangen werden" als unangenehm empfunden werden. Das mag sich mit etwas Training von selbst erledigen. Ebenso wie Probleme mit Druckstellen, die Querschnittsgelähmte aufgrund mangelnder Muskulatur sehr schnell entwickeln. Doch Rüdiger Rupp fürchtet, dass sich noch andere unerwünschte Effekte mit der Zeit ergeben könnten.

    "In den 80er-Jahren gab es mal Neuroprothesen für die unteren Extremitäten, wo also auch Leute schon gelaufen sind, mit ihren eigenen Muskeln. Das sind Systeme, die elektrische Impulse abgeben und die Muskulatur zur Zuckung anregen. Das wurde auch an einigen Patienten gemacht, hauptsächlich in Österreich, in Wien. Man hat herausgefunden, dass die Leute das nicht fürs Alltagsleben verwendet habe, sondern wirklich als eine Art Sport. Dass sie eine halbe Stunde auch wirklich mit dem System gegangen sind. Heutzutage weiß man, dass die Patienten viel ihres Gewichtes über ihre Schultern übernommen haben. Und alle, alle diese Patienten haben massive Schulterprobleme entwickelt. Und das sind einfach alles Dinge, die wir in einem Studiensetting testen müssen, aber da gibt's Bestrebungen."

    Gleichzeitig baut Exoskelett-Skeptiker Rüdiger Rupp einen eigenen robotischen Bewegungstrainer. Gemeinsam mit Industriepartnern läuft die Entwicklung eines Prototypen für ein stationäres Trainingsgerät, das die Patienten zu Hause selbst bedienen können sollen.

    In Bochum zeichnet sich unterdessen ein erster Erfolg der Exoskelett-Therapie ab. Die Vorstudie, für die Nicole Holland drei Monate lang ihr Haus in der Eifel gegen ein Pensionszimmer im Ruhrgebiet eingetauscht hat, geht ihrem Ende entgegen. Eine Handvoll Patienten hat teilgenommen, Chirurg Mirko Aach ist mit den Ergebnissen zufrieden.

    "Teilweise sind Funktionen trainierbar gewesen wie zum Beispiel Treppensteigen. Das sind erfreuliche Befunde bei eigentlich chronischer Querschnittslähmung, die nach dem jetzigen Stand der Medizin oder der Wissenschaft ab einem gewissen Zeitpunkt nach Unfall, vorausgesetzt entsprechende Therapien wurden danach gemacht, ist eine solche Querschnittlähmung eigentlich nicht mehr zu verändern."

    Schon nach rund einem Monat hatte auch Nicole Holland angefangen, Treppen zu erklimmen. Drei Monate ist sie jeden Tag zum Training gekommen, mit Pausen an Weihnachten – und Karneval. Nicole Holland, die vor drei Monaten den Rollstuhl kaum verlassen konnte, war mit Krücken feiern.

    "Die ganzen Menschen, also die meisten, die kannten mich ja nur in dieser niedrigen Position. Und dann sind die an mir vorbei und haben mich auch gegrüßt und gingen weiter und dann sah man also wirklich wie die sich nochmal so rumdrehten und: Oh! Und dann direkt auf mich zu: Mensch, Nicole, wie toll! Oder dann kam einer, so Stunden später meinte dann so Stunden später: Jetzt habe ich aber mal ne Frage! Seit wann kannst du denn wieder laufen. Also das ist sehr interessant. Man wird wahrgenommen. Und für mich war richtig schön gewesen: Ich wusste, wo wer steht. Ne andere Perspektive und die war einfach nur schön gewesen."

    Viel hat sich für Nicole Holland verändert. Ging es am Anfang darum, bessere Zeiten, Strecken, Schrittzahlen zu erreichen, stehen inzwischen andere Ziele im Vordergrund. Nach 19 Jahren im Rollstuhl will sie mit aller Kraft zurück ins Leben. Das Haus in der Eifel will sie verlassen, ins Ruhrgebiet ziehen.

    "Stand der Dinge ist, dass definitiv die Wohnung gesucht wird. Und dass ich definitiv eine Sportart ausüben möchte."

    Sie wolle weiter Leistung bringen, sagt sie. Nach vielen Jahren als Hausfrau und Mutter wolle sie endlich auch wieder arbeiten. Für Mirko Aach, der die Untersuchungen am Universitätsklinikum Bergmannsheil durchführt, ist auch offensichtlich, dass die Probandin selbstständiger geworden ist, dass sie wie erhofft, ihre Beinmuskulatur besser einsetzen kann und ihr das im Alltag große Vorteile bringt. Mithilfe eines Magnetresonanztomografen hat er Veränderungen auch im Gehirn der Probanden verfolgt. Areale, die für Arme und Beine zuständig sind, verschoben sich.

    "Man weiß, dass nach einer Verletzung des Rückenmarks es zu einer Veränderung kommt. Dass die ehemaligen Repräsentationen der Beine kleiner werden und sich die Repräsentationen der Arme ausdehnen. Natürlich, weil die Arme viele Funktionen übernehmen. Und wir sehen durch das Training eben tendenziell, dass die Repräsentation der Arme wieder kleiner wird."

    Der Kopf will eine Beinbewegung ausführen, aber an den Beinmuskeln kommen nur schwache Signale an. Das Exoskelett erkennt diese und führt die Bewegung aus. Das wiederum erzeugt eine Rückmeldung an das Gehirn über den Erfolg der Aktion. Auch wenn sich dadurch im Rückenmark keine neuen Nerven bilden, die Querschnittslähmung nicht geheilt wird: die noch erhaltenen Nerven werden offenbar besser genutzt. Noch bessere Effekte erhofft sich Aach, der selbst im Rollstuhl sitzt, bei Patienten, bei denen das Rückenmark noch nicht vernarbt ist.

    "Wir wissen, dass nach einem Unfall es zu Umbauvorgängen im Rückenmark kommen kann, die einerseits Narbenbildung beinhalten, andererseits aber auch eine gewisse Erholung von Nervenfasern und Nervenzellen darstellen können. Und gerade in diesem Bereich ist eine Physiotherapie, ein Lokomotionstraining eminent wichtig, um Funktionen aufzubauen. Wenn man eine besonders effektive Therapie hat, muss man sie natürlich auch anwenden und kann sich natürlich auch funktionelle Fortschritte im Vergleich zu bisher etablierten Therapien natürlich vorstellen."

    Es gibt Hoffnungen, Erwartungen und sicher auch Wünsche. Wissenschaftlich belegt ist das wenigste. Trotzdem setzen viele Rehazentren schon jetzt auf Exoskelette. John Frijters zieht mit seinem ReWalk von einer Querschnittsabteilung zur nächsten und lässt ein Testgerät dort.

    "Das ist jetzt die Runde, die wir jetzt so gehen, dass wir zu Kliniken gehen und sagen: Probieren Sie es doch mal aus! Machen Sie Ihre eigenen Erfahrungen, sprechen Sie mit Ihren Nutzern, sowohl die Therapeuten, die damit arbeiten, als auch die Patienten, oder Rollstuhlfahrer, die Sie da rein stecken, die diese Erfahrung einfach machen. Und danach können Sie entscheiden. Und bisher ist das immer sehr positiv und sehr wohlwollend entschieden worden."

    Frijters wirkt entspannt, das Interesse an den 100.000 Euro teuren Geräten scheint groß zu sein. Der Neuroprothesen-Spezialist Rüdiger Rupp hält den Wirbel um die Gehroboter dagegen für übertrieben.

    "Es ist ein riesengroßer Hype im Moment gerade, was diese Exoskelette angeht. Es ist schon die Frage, wodurch dieser Hype ausgelöst ist. Und fast alle diese Firmen sind kleine Firmen, die diese Exoskelette bauen. Und da stehen Leute hinten dran, Gründungskapitalgeber, die nach etwa fünf Jahren gerne einen Return of Investment sehen würden. Also die hätten ganz gerne das Geld, was sie investiert haben, das hätten sie gerne in irgendeiner Form wieder zurück. Und aus diesem Bereich heraus werden diese Systeme gerade extrem gepusht."

    In Deutschland sind erst fünf ReWalk-Roboteranzüge im Einsatz, von den Konkurrenzsystemen dürften es kaum mehr sein. Tatsächlich sind die Exoskelette vor allem in solchen Ländern gefragt, in denen private Träger miteinander um Patienten konkurrieren.

    "Mit einem solchen Exoskelett kommt man auch ins Fernsehen. Und das ist glaube ich für viele Direktoren, vor allem auch kaufmännische Direktoren von solchen Häusern, ein Argument, dass man ein solches System anschaffen sollte oder muss."

    Etwa 1800 neue Querschnittsgelähmte gibt es in Deutschland pro Jahr. Und nur für zehn Prozent, also 180 Patienten, komme ein Exoskelett in Frage, schätzt Rüdiger Rupp. Für einen Hype bestehe also eigentlich kein Grund. Möglich, dass sich einige Gründungskapitalgeber von der vermeintlichen Ablösung des Rollstuhls durch Exoskelette haben blenden lassen.

    Trotz aller Skepsis ist da allerdings immer noch der passionierte Ingenieur, der hofft, dass Exoskelette besser werden und doch noch ihre Nische finden. Er wünscht sich – und arbeitet auch daran,...

    "...dass sich ein solches System einfach vollkommen selbstverständlich in das Körperschema integriert. Dass ein Patient nicht mehr sagt, Schritt rechts, Schritt links, Schritt rechts, Schritt links, sondern er denkt vorwärts. Und die Maschine setzt genau das um."

    Wie ein Herzschrittmacher solle das Exoskelett einfach tun, wofür es da ist: beim Gehen unterstützen. Vielleicht müssen Exoskelette in einigen Jahren vollkommen neu bewertet werden. Die Hersteller arbeiten daran, sie schlanker, leiser, schneller und sicherer zu machen. Eine intuitivere Bedienung erfordert noch viel Forschungsbedarf, etwa wenn die Exoskelette unterbewusst oder mit Gedankenkraft gesteuert werden sollen. Große Anstrengungen wird es erfordern, bis die Gehroboter auch die Balance halten können. Dann wären Rollatoren und Krücken überflüssig und erst dann wären sie wirklich praxistauglich.