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Manuskript: Die Neuvermessung des Patienten

Eine neue Art der Diagnose hält Einzug in die Medizin: Mit Sensortechnik lassen sich Zustände und Vorgänge im menschlichen Körper immer genauer erfassen. Winzige Messgeräte überwachen sie dauerhaft und übertragen ihre Ergebnisse in Echtzeit über Funk. Möglich wird dieses kontinuierliche Monitoring, weil kleinere und leistungsfähigere Implantate gebaut werden. Die Abwehrreaktionen des Körpers lassen sich durch neue Materialien und Messprinzipien überlisten, wenigstens für gewisse Zeit. Der Zustand der Patienten wird so transparenter – aber längst nicht alles, was sich messen lässt, nutzt auch für die Behandlung.

Von Matthias Becker | 28.10.2012
    Vergeblich bemüht sich der Kranführer, seine Maschine in Gang zu setzen.

    Sein Stresslevel ist zu hoch, die Maschine verweigert den Dienst.

    Sofort werden die Umstehenden auf der Baustelle gewarnt.

    Seit die Sensornetze überall sind, kommen Arbeitsunfälle kaum noch vor. Die unsichtbaren Alarmanlagen machen das Leben sicher. Sie weisen die Menschen auf heranrasende Autos hin und auf Schadstoffe im Essen. Sie messen die Konzentration von Abgasen und Pollen in der Luft und überwachen den Herzschlag von Säuglingen.

    Maximilian Fleischer: "Ganz viele sich selbst erhaltende Sensorsysteme, die eben sehen: Ist die Umgebung gesund für uns, verhalten wir uns gesund, die kranke Leute anhand von physiologischen Parametern überwachen und rechtzeitig Warnungen absondern. Und die letzten Endes, in der letzten Ausbaustufe, auch feststellen werden, wie wir uns fühlen."

    Das digitale Netz um uns herum wird dichter. Elektronische Schaltungen schrumpfen, die Preise sinken. So wird es attraktiv, Informationen aller Art automatisch zu erheben. Gerade auch die medizinische Diagnostik verändert sich: Maschinen übernehmen, was Ärzte bislang in Handarbeit und mit ihren Sinnesorganen ermittelten – die Körperhaltung eines Patienten, sein Essverhalten oder seinen Blutdruck, die Schwankungen des Blutzuckers oder den Geruch des Atems. Winzige Messfühler rücken immer näher an die Kranken heran – und wandern schließlich in sie hinein.

    In der Werkstatt des Fraunhofer-Instituts für biomedizinische Technik in Potsdam erinnert nichts an die sterile Atmosphäre eines Labors. Hier sieht es eher aus wie in einer geräumigen Fabrikhalle. Sebastian Schmitz-Hertzberg hat vor sich eine Schale mit einem feinen weißen Pulver. Sorgfältig füllt der Biotechnologe die Substanz in eine Pressform aus Metall

    "Gut! Dann setzt ich das mal zusammen. So!"

    Eine Heißpresse übt bei genau definierter Temperatur einen präzisen Druck aus. Das Ergebnis: eine kleine weißliche Plastikkapsel. Auf den ersten Blick wirkt sie unscheinbar: Die Außenseite besteht aus einer Mischung aus Polylactid und Polyglycolid, also aus Milchsäure und Glucose – Stoffe, die in anderer Form ohnehin im menschlichen Körper vorhanden sind. Das macht die Kapsel besonders verträglich, "biokompatibel". Die Hitze in der Heißpresse ist gerade groß genug, dass die Moleküle der beiden Stoffe miteinander verkleben, aber nicht so groß, dass sie verschmelzen. - Zwei günstige Materialeigenschaften verbinden sich: Die Milchsäure macht die Kapsel widerstandsfähig, das Polyglycolid nachgiebig. Außerdem mischt der Chemiker noch Kochsalz in das Komposit.

    "Der Sinn davon ist, dass diese Kapsel einfach in Wasser geworfen werden kann und dann, im nächsten Zuge das Salz aus der Kapselform wieder herausgewaschen wird. Dadurch entsteht quasi eine poröse Struktur, die einer Membran dann sehr ähnlich ist. Und diese Poren ermöglichen anschließend den Analyten von außen durch die Kapsel ins Innere zu gelangen, um abschließend den Sensor zu erreichen."

    In dem Gehäuse sollen winzige elektronische Bauteile untergebracht werden: Sensoren, Batterie, Funksender - ein kleines, aber effizientes Labor. Frank Bier, der Leiter des Potsdamer Fraunhofer-Instituts:

    "Das Ziel ist es eben, eine solche Kapsel zu haben, die zum Beispiel eben in der Intensivstation eingesetzt werden kann, dort dem Patienten einmal eingesetzt wird am Anfang der Behandlung, verhindert, dass Blut ständig abgenommen werden muss und trotzdem Parameter ständig übermittelt werden können, die für die Kontrolle der Grundfunktionen natürlich wichtig sind: Wie geht es dem Patienten? Und: Achtung, jetzt muss ich was tun!"

    Ende nächsten Jahres soll der Prototyp fertig sein. Die Kapsel soll bis zu zwei Wochen im Körper des Patienten verbleiben, in der Lymph- oder Gewebeflüssigkeit, vielleicht sogar im Blutstrom. Dort erstellt sie ein Blutbild, misst beispielsweise die Konzentration von Leukozyten und Hämoglobin. Bier:

    "Es ist letztendlich eine Plattform. Es ist hinterher egal, welchen Sensor ich da integriere, wenn ich es irgendwie elektronisch umgesetzt bekomme. Wenn Sie eine Probe heute nehmen, dann ist die in der Regel eine Viertelstunde, 20 Minuten, in aller Regel aber länger unterwegs. Die Probe verändert sich in dieser Zeit, und das ist durchaus in der Fachwelt bekannt, dass sie sich verändert und dass man vermutlich einen großen Teil - da unterscheiden sich ein bisschen die Zahlen - 70 Prozent, 80 Prozent potenzieller Biomarker noch gar nicht kennt, weil man sie bis heute noch gar nicht erfassen kann. Wenn man so nah dran ist im Körper, dann hat man hier noch mal einen ganz anderen Zugriff."

    Monitoring-Systeme liegen im Trend. Mit immer kleineren und aufwändigeren Messsystemen werden körperliche Zustände und Abläufe kontinuierlich erfasst und automatisch analysiert. Sensoren messen nicht mehr nur in einer Gewebeprobe in einer Petrischale, sondern in situ, vor Ort – und das bedeutet oft in vivo, im lebenden Organismus. Die Anwendungsgebiete reichen von der Kontrolle chronischer Krankheiten wie Asthma bis zur Bekämpfung von Krebs. Manche Ansätze sind visionär und werden wohl niemals umgesetzt werden. Andere dagegen schon bald im medizinischen Alltag ankommen. Frank Bier:

    "Der Vorteil ist, dass man in einem kürzeren Zeitintervall Informationen bekommt, die im Prinzip natürlich heute schon zugänglich sind, aber mit Zeitverzögerung, die sogenannte turn around time. Also ich nehme die Probe, schicke die Probe ins Labor, bekomme die Daten zurück. Und diese Zeit, die da verloren geht, hat der Arzt nicht als Zeit zu reagieren. Wenn er sofort die Daten bekommt, wenn er neben dem Patienten steht quasi und gleich reingucken kann, das ist natürlich ein großer Vorteil. Und außerdem besteht ja noch die Möglichkeit, diese Daten über Software aufzuzeichnen und so zu verknüpfen, dass daraus ein Warnsignal entsteht. Also auch wenn der Arzt gerade nicht da ist, die Visite ist abgeschlossen, er kommt erst in zwei Stunden wieder, aber zwischendurch taucht dann ein Signal auf, dann weiß der Arzt, die Schwester: Da müssen wir uns sofort drum kümmern und aktiv werden."

    Mit dem Fortschritt der Sensortechnik wandelt sich der Charakter der medizinischen Untersuchung. Gemessen wird zunehmend automatisch, möglichst dauerhaft und dort, wo die Patienten versorgt werden. Das hat nicht zuletzt wirtschaftliche Vorteile. Ist die Datenerhebung erst einmal automatisiert, lässt sie sich auch aus der Ferne, telemedizinisch durchführen – und daraus wiederum ergeben sich Möglichkeiten der Rationalisierung. Durch den medizintechnischen Fortschritt kommen aber auch neue Messwerte ins Blickfeld, weil die detaillierte Analyse von Biomarkern immer billiger wird. Bier:

    "Ja, auf der technologischen Seite sind wir inzwischen an einem Stand, wo wir nicht mehr prinzipiell uns fragen, kann man das überhaupt messen. Ich möchte mal die Behauptung aufstellen, dass wir für jeden Biomarker, den wir uns heute denken können, auch eine Messmethode finden, die es schon gibt. Da ist einfach in den letzten fast 50 Jahren Biosensorforschung so viel gemacht worden. Wir haben jetzt noch einmal einen Schub in der Biosensorforschung durch die Nanotechnologie. Das kann man jetzt einsetzen, um noch empfindlichere Sensoren zu machen, also da hilft die Technologie schon weiter."

    Chemische Sensoren übersetzen die Konzentration eines bestimmten Stoffs in ein elektrisches Signal. Bei einer Blutzuckermessung beispielsweise reagiert das an die Membran gebundene Enzym Glucoseoxidase mit der Glucose im Blut oder in der Gewebeflüssigkeit. Die Ströme, die dabei zwischen den Elektroden des Sensors fließen, verändern sich mit der Menge des vorhandenen Blutzuckers. So können Diabetiker feststellen, ob ihr Blutzuckerspiegel zu hoch ist und ihn durch eine entsprechende Insulindosis ausgleichen. Glucosesensoren, die im Körper verbleiben und dort zuverlässig Daten erheben, wären eine regelrechte Revolution in der Diabetes-Behandlung. Sie würden den Erkrankten nicht nur das lästige Messen ersparen, sondern auch die schweren Folgeerkrankungen eindämmen, die langfristig durch die Überzuckerungsepisoden entstehen. Seit über dreißig Jahren versuchen Medizintechniker, solche Sensoren herzustellen. Große Summen fließen in entsprechende Forschungsprojekte. Aber bis heute ist ein langfristiges Messen in vivo nicht möglich. Frank Bier erläutert die Schwierigkeit.

    "Wir müssen eine Oberfläche generieren, die sozusagen chemisch transparent ist und bleibt, um wirklich die richtigen Konzentrationen der Analyte wiederzugeben. Das ist eine sehr lange und alte Entwicklung schon, und sie ist immer wieder daran gescheitert an der Abstoßungsreaktion des Körpers."

    Unnachgiebig bekämpft der menschliche Organismus jeden Eindringling. Phagozyten kreisen ihn ein, wollen ihn zerkleinern und nach draußen befördern. Gelingt das nicht, sorgen Fibroblasten dafür, dass der Fremdkörper in neues Bindegewebe eingesperrt wird. Um die Körperabwehr nicht unnötig zu provozieren, verhalten sich herkömmliche elektronische Implantate wie Herzschrittmacher möglichst unauffällig. Sie werden mit einer chemisch inerten Schicht – beispielsweise aus Titan oder Keramik – ummantelt, die Elektronik im Innern hermetisch abgeschirmt. Bei Sensor-Implantaten geht das nicht. Sie müssen schließlich Daten über Funk übertragen und sind für ihre Messungen auf einen Stoffaustausch angewiesen. Die Entwickler stehen damit vor der schwierigen Aufgabe, Implantat und Organismus zu versöhnen: Das Gewebe ist nachgiebig – das Implantat muss stabil sein. Gewebe erneuert sich fortwährend, es ist in ständigem Stoffaustausch – das Gerät muss möglichst lange unverändert bleiben. Das Wässrige gegen das Trockene – das Harte gegen das Weiche – das Stabile gegen das Fließende.

    "So, wir müssen jetzt hier rein! Jetzt brauchen wir die Haube."

    Warnemünde, das Institut für biomedizinische Technik der Universität Rostock. Hier ist der Hauptstandort des Forschungsverbunds Remedis angesiedelt, auch hier werden neue Implantate entwickelt. Bevor die Chemikerin Katrin Sternberg den Reinraum betreten darf, muss sie sich einen weißen Kittel und eine blaue Plastikhaube anziehen. Gerade werden winzige Röhrchen beschichtet – Stents zum Offenhalten von Blutgefäßen. Die Struktur ihrer Oberfläche ist so filigran und empfindlich, dass ein Staubkorn sie zerstören kann. Unter einem Laborabzug steht eine Beschichtungsanlage. Das Implantat ist in einer rotierenden Einspannung fixiert und wird gleichmäßig durch den feinen Sprühstrahl geführt. So entsteht eine dünne Beschichtung aus Polymeren und Wirkstoffen, die nach der Implantation langsam freigesetzt werden: An der Außenseite hemmt sie die Bildung von glatten Muskelzellen, um eine Restenose, das Zuwachsen des Röhrchens zu verhindern. Im Innern dagegen hemmt die Beschichtung die Gerinnung und fördert die Bildung einer dünnen Zellschicht, die den Stent vom Blutstrom abschirmt und ihn so als Fremdkörper unkenntlich macht. Immer häufiger nutzen Medizintechniker solche "Oberflächenfunktionalisierungen", um die Antwort des Gewebes auf das Implantat zu steuern, sagt Katrin Sternberg.

    "Das ist also wirklich das, was man immer mehr auch sieht in verschiedensten Bereichen, wo wir von dieser frühen Entwicklung der drug-eluting stents ausgehend, immer mehr nachgefragt wurden von Medizinern oder eben auch von anderen Partnern. Wo eben auch Elektrodenträger modifiziert werden müssen, um eben beispielsweise auch eine Inaktivierung der Elektroden, die sich auf diesem Träger befinden, durch ein unerwünschtes Zellwachstum zu verhindern."

    Mit neuen Oberflächenstrukturen und Materialien können Mediziner nach und nach etwas mehr "Standzeit" für ihre Sensoren gewinnen. Ein neuartiger Glucose-Sensor der Universität Kalifornien funktionierte im Tierversuch bereits ein ganzes Jahr lang. Allerdings nur im Bindegewebe. Um den Insulinbedarf eines Diabetikers mit ausreichender Genauigkeit festzustellen, müsste man die Messung im Blut durchführen. Das ist weit weniger duldsam gegenüber Implantaten und reagiert auf alle Fremdkörper unmittelbar mit einer Gerinnung. Trotz der Fortschritte der Materialtechnik verhindert diese Abwehrreaktion eine langzeitstabile Messung im Blut immer noch.

    Schüsse, Schreie, das Donnern von Explosionen. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Aber die Führung behält den Überblick. Zu jedem Zeitpunkt registriert sie, wie es den Kämpfern gerade geht: Wer hat zu viel Angst, wer muss den Einsatz abbrechen. Wer ist verletzt. Ein steter Informationsstrom verbindet die kämpfenden Körper mit den Befehlshabern in der Ferne, die ihren Einsatz dirigieren.

    "Laktat, Glucose, der pH-Wert und die Temperatur, all diese Messungen dienen dazu, körperlichen Stress zu diagnostizieren. Bei Individuen, die ein Trauma erlitten haben und die bluten, verändert sich der Laktatspiegel dramatisch. Ein implantierbares Gerät ermöglicht es uns, diese jeweiligen Konzentrationen zu messen. Das ist für das Militär natürlich hochinteressant, weil ein Trauma die häufigste Todesursache von Soldaten auf dem Schlachtfeld ist."

    Am Boden liegen Verletzte. Welche Verwundeten müssen zuerst versorgt werden. Wer ist weiterhin einsatzfähig. Ein letztes Mal schaut der Kommandant auf sein hand held und lässt es dann in seine Tasche gleiten. Der Einsatz ist zu Ende.

    Immer schon hatte das Militär einen Zugriff auf den Soldatenkörper. Geht es nach den Plänen der US-Armee, wird die Entwicklung nun noch einen Schritt weiter gehen. Anthony Guiseppi, ein Biochemiker an der renommierten Clemson University in South Carolina, hat einen Biochip für den Kampfeinsatz entwickelt. Das System verbindet die Messung der Laktat– und Glucose-Konzentration, um daraus eine Wahrscheinlichkeit abzuleiten, mit der ein Verwundeter sterben wird. Um möglichst biokompatibel zu sein, ist der Sensorchip mit einer extrem dünnen Schicht aus einem leitfähigem Hydrogel überzogen. Dieses Polymer bildet eine Art Barriere, die Thrombozyten, Gerinnungsfaktoren und andere Proteine abstößt, elektrische Ströme aber weitergibt. Dass seine Forschung vom US-amerikanischen Verteidigungsministerium finanziert wird, findet Anthony Guiseppi nicht problematisch. Der Wissenschaftler betont die Aspekte des Projekts, die für die medizinische Grundlagenforschung interessant sind

    "Wir sind an den Entscheidungen, wie eine bestimmte Technik auf dem Schlachtfeld eingesetzt wird, nicht beteiligt. Wir betreiben lediglich Grundlagenforschung und Technikentwicklung. Unser Ziel ist herausfinden, was in der entscheidenden ersten Phase geschieht, nachdem eine Person von einem Projektil getroffen wurde und anfängt zu bluten oder eine schweren Verletzung erleidet. Bisher wissen wir noch sehr wenig darüber, was physiologisch in dieser Situation vorgeht. Dadurch werden wir hoffentlich herausfinden, welche Art der Wiederbelebung für eine bestimmte Person die beste ist."

    Gegenwärtig wird der Biochip an Mäusen und Schweinen getestet. Dort erkennt er die typischen Schwankungen des Laktatspiegels, wenn die Tiere nach einem Trauma bluten. Die Wissenschaftler streben eine Standzeit von sechs Wochen an. Um möglichst biokompatibel zu sein, ist der Sensorchip mit einer extrem dünnen Schicht aus einem leitfähigem Hydrogel überzogen. Dieses Polymer bildet eine Art Barriere, die Thrombozyten, Gerinnungsfaktoren und andere Proteine abstößt, elektrische Ströme aber weitergibt. Für Guiseppi ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Probleme der Biokompabilität gelöst sein werden.

    "Es gibt eine starke Bewegung unter den Wissenschaftlern hin zu Messungen von körperlichen Zuständen in Echtzeit. Wir können nicht nur einmal messen und dann sagen: 'Das ist eine gute Diagnose!' Es zeigt sich, dass die Entwicklung im Zeitverlauf genauso wichtig ist. Solche Daten sind viel wertvoller. Ich glaube, wir werden gewaltige Veränderungen erleben. Der wissenschaftliche Fortschritt, besonders in bestimmten technischen Feldern, geht sehr schnell. Ich gehe davon aus, dass wir noch zu unseren Lebzeiten solche Messungen erleben werden, sei es von Laktat oder Glucose oder den pH-Wert oder die Temperatur. Wir machen das bereits in Tieren. Das einzige, was uns bisher davon abhält, es auch in Menschen zu tun, ist nur eine Frage von Stabilität, Zuverlässigkeit und Funktionalität."

    Anfang des Jahres veröffentlichte die Forschungsbehörde des US-Militärs, die Defence Advanced Research Projects Agency Darpa, eine Ausschreibung für innovative "Anwendungen und Methoden für die kontinuierliche Überwachung der körperlichen Chemie". Neue Biosensoren sollen unter anderem die Konzentration von Hormonen wie beispielsweise Cortisol und Histamin erfassen. Damit ließen sich nicht nur Rückschlüsse auf den körperlichen, sondern auch auf den psychischen Zustand der Soldaten ziehen.

    Der militärischer Einsatz markiert nur die Speerspitze einer allgemeinen Entwicklung: Technisch lassen sich heute nahezu alle körperlichen Vorgänge erfassen und in elektrische Signale verwandeln. Besonders interessant für Mediziner wäre eine kontinuierliche Überwachung von Biomarkern wie Hormonen, Antigenen oder Zytokinen im Blutserum. Bis dafür langzeitstabile Biosensoren einsatzfähig sind, wird es noch dauern und so behelfen sich die Mediziner mit anderen Strategien: avancierten Algorithmen etwa, um die nachlassende Genauigkeit der Sensoren aus den Ergebnissen wieder herauszurechnen oder von der Messung im Gewebe auf die Konzentration im Blut zu schließen. Andere Forscher versuchen das Problem zu umgehen, indem sie von außen messen.

    Mühsam schiebt der alte Mann seinen Rollator über den Platz und blickt immer wieder über seine Schulter. Offenbar hat er vergessen, wo er sich befindet, wohin er geht. Gut, dass der Sensorschwarm anhand der Bewegungsmuster des Mannes sofort auf die Demenzerkrankung schließt! Sofort erfahren seine Angehörigen, wo er sich befindet.

    Der internationale Forschungsverbund Guardian Angels beispielsweise setzt auf nicht-invasive, dafür empfindlichere Funksensoren. Sie sollen mit wesentlich weniger Energie auskommen und diese aus ihrer Umgebung gewinnen. Wenn das gelingt, könnten sie weiter verkleinert und am Körper, beispielsweise in der Kleidung, und im öffentlichen Raum angebracht werden. Maximilian Fleischer ist mit der Entwicklungsabteilung von Siemens an Guardian Angels beteiligt.

    "Das sind bekannte Sachen wie Herzschlag, Herzrhythmus, das ist die Leitfähigkeit unserer Haut, die sich verändert. Das können sogar schon Signale des Gehirns sein, die zum Beispiel abgenommen werden durch eine Brille oder ein Hörgerät, das wir tragen. Und aus dem Zustand eines Körpers können die Wissenschaftler dann sehr gut zurückschließen, ob der Mensch fit ist, ob der Mensch erschöpft ist, unter Umständen auch, ob jemand übermäßig aggressiv ist, und in speziellen Situationen, wenn wir das wollen, eine Warnung abstoßen."

    "Nature can be hostile and unpredictable. Guardian Angels protect the most fragile among us, communicating what a child cannot tell its parents. Simple, intuitive and affordable, zero energy networks and ad hoc communication systems use autonomous robots to guide us away from dangers before situations become unsafe. Guardian Angels – for a smarter life."

    Die medizinische Sensortechnik ist ein Wachstumsmarkt. An Ideen, was sich alles messen ließe, herrscht kein Mangel: den Aceton-Gehalt im Atem mit Gassensoren – den Blutzuckerspiegel in der Tränenflüssigkeit mit Biosensoren – das Essverhalten von Patienten in Pflegeeinrichtungen mit akustischen Sensoren, die Kaugeräusche protokollieren. Es sind in der Regel Ingenieure, die die technische Entwicklung vorantreiben – nicht Mediziner, die nach Lösungen für ihre Probleme suchen. In allen Fällen gehen die Entwickler davon aus, dass mehr Informationen zu einer besseren Diagnose und damit zu einer wirksameren Therapie führen. Aber ist das wirklich immer der Fall?

    Vor seinem Büro am Münchner Heinz Nixdorf-Lehrstul für medizinische Elektronik hat der Biologe und Ingenieur Bernhard Wolf eine kleine Werkstatt eingerichtet, samt Schraubzwinge, Feilen und Spannungsprüfer. In der Hand hält er einen kleinen grauen Kasten aus Plastik, nicht einmal halb so groß wie eine Streichholzschachtel. Dieses Implantat soll Krebstumore sowohl überwachen als auch behandeln.

    "Wir profitieren von den Entwicklungen, die für smartphones, die für andere technische Entwicklungen gemacht werden, und können daraus eben Bausteine beziehen, die es uns erlauben, solche, wie man sagt low-power–Schaltungen aufzubauen.Das größte Problem oder die Größe von diesem Chip, das ist auch noch interessant, die wird dadurch bestimmt, wie groß der Medikamentencontainer ist. Wenn Sie eben, sagen wir mal, einen halben Mikroliter verbauen wollen, dann müssen Sie ein Volumen vorhalten für einen Tank, der einen halben Mikroliter behält. Und damit ergibt sich die Größe vom System."

    Das Implantat, das Wolf und sein Team entwickelt haben, ist für Tumoren gedacht, die langsam wachsen oder schwer zu entfernen sind. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass einige Tumorzellen mehr Sauerstoff verbrauchen als gesunde Zellen. Wolf:

    "Wir haben dann mit Arbeiten begonnen, einen Sensor zu machen, der implantierbar ist, der sich auch mit Energie entweder versorgt oder mit kleinen Energieversorgungssystemen auskommt, der den Metabolismus misst. Und dass ich dann diese Messung möglichst noch kombiniere mit der Wirkstoffabgabe. Das heißt, dass ich sagen kann: Gut, wenn dieser Tumor in dem und dem Umfang metabolisch aktiv ist, dann gebe ich auch die oder jene Menge an Wirkstoff ab. Im Wesentlichen ist das eine Art regeltechnische Prothese, die wir an das Gewebe geben, damit das Gewebe wieder unter Normalbedingungen Stoffwechsel betreiben kann."

    Weil Tumorzellen Glucose nicht vollständig abbauen, sondern nur bis zur Milchsäure, säuern sie das umliegende Gewebe an. Deshalb soll der Mikrochip Sauerstoffgehalt und pH-Wert messen. Verändern sich diese Werte, so Wolf, sei das ein Hinweis darauf, dass der Tumor aggressiver wird. Allerdings ist die Aussagekraft der Sauerstoffkonzentration im Tumor und dem umliegenden Gewebe unter Onkologen äußerst umstritten. Lässt sich aus der Ansäuerung und dem Sauerstoffumsatz ableiten, wie sich bestimmte Tumorzellen verhalten? Gar wie sie sich in Zukunft verhalten werden und wie sehr sie beispielsweise auf eine Bestrahlung ansprechen werden? Das Beispiel verweist auf das grundsätzliche Problem: Durch avancierte Sensortechnik lassen sich pathologische Vorgänge zwar immer genauer verfolgen. Aber die Werte, die sie ermittelt, müssen aussagekräftig genug sein, um aus ihnen therapeutische Maßnahmen abzuleiten.

    Norbert Schröder ist ein älterer untersetzter Mann mit grauen Haaren und Bauchansatz. Seit einer lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörung gilt er als Risikopatient. Rund um die Uhr wird der Berliner telemedizinsch überwacht. Er empfindet das als Beruhigung.

    "Na ja, mich stört das überhaupt nicht und ich find es super! Das Gerät hat gleich nach ein paar Tagen angeschlagen, und das ist so, als wenn man einen starken elektrischen Schlag kriegt. Und vor allem signalisiert es ja, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Und klar, den anderen Tag hat dann gleich die Frau Schaarschmidt angerufen und hat gesagt: 'Herr Schröder, bei Ihnen war was nicht in Ordnung. Stellen Sie sich mal ein, wir müssen das mal jetzt untersuchen!' Und was hier ganz wichtig war, darüber konnte man ganz hervorragend die Medikamente einstellen."

    Herzschrittmacher und Defibrillatoren werden zunehmend zu Mess- und Kommunikationsgeräten. Sie zeichnen Abweichungen in der Herzrhythmik auf und übertragen sie. Durch die telemedizinische Überwachung gewinnen die Mediziner Zeit zum Handeln, sagt der Kardiologe Friedrich Köhler von der Berliner Charité.

    "Wir können die Patienten nicht bitten zu kommen, wenn es ihnen schlecht geht! Dann ist man sehr tief in der Verschlechterung, sondern wir möchten sie bitten zu kommen, wenn wir bereits hier, in unseren Messprinzipien Veränderungen sehen, wenn der Patient noch gar nicht merkt, dass etwas ist."

    Das Prinzip ist einfach. Auch mit einem geschwächten Herzen versucht der Körper, die Blutzirkulation aufrecht zu erhalten. Erst wenn er die nachlassende Herzleistung nicht mehr ausgleichen kann, stellen sich die bekannten Symptome wie dicke Beine und Atemnot ein. Bis dahin können die Mediziner noch gegensteuern. In diesem Fall führen mehr Informationen tatsächlich zu einer besseren Therapie. Laut einer Studie, an der Friedrich Köhler mitgewirkt hat, profitieren vor allem Patienten nach einem Krankenhausaufenthalt, nicht zu schwacher Herzleistung und ohne depressive Problematik. In dieser Risikogruppe halbierte sich durch die telemedizinische Betreuung die Sterblichkeit wegen Herzinsuffizienz. Die Sensortechnik stellt den Kardiologen immer mehr Informationen zur Verfügung. Die neuen Implantate zeichnen beispielsweise auf, wie sich der elektrische Widerstand zwischen dem Defibrillator im oberen Brustkorb und der Elektrode in der rechten Herzkammer verändert.

    Das Feld zwischen Elektrode und Gerät umspannt den Thorax – und damit auch einen Teil der Lunge. Steigt nun der elektrische Widerstand, kann das an einer Flüssigkeitseinlagerung liegen: Das Herz ist nicht mehr stark genug, um die Flüssigkeit aus der Lunge zu pumpen, ein früher Indikator für eine beginnende Entgleisung! Ein Indikator, betont Friedrich Köhler, aber eben kein eindeutiger Beweis.

    "Das kann auch durch eine Infektion beispielsweise sein, eine Bronchitis beispielsweise. Und dann spielt die Rolle, dass man sich nicht in der Einschätzung auf einen einzigen Parameter stützt, sondern das Gesamtbild hat. Hat der Patient beispielsweise Fieber, hat er Auswurf und andere Dinge. Dieses Verfahren ist noch relativ unspezifisch und befindet sich derzeit auch in großen Studien in der Prüfung, ob die Erwartung, die dieses Messprinzip im Labor erfüllt hat, dann auch im Alltagsleben dann tatsächlich so eintritt. Die Gesamtschau aller Befunde führt zu einer Zustandsbeurteilung. Und nicht wie auf einer Wetterwarte oder einer Wasserwarte sagt: 'So, Wert hoch – Alarm! Wert niedrig – In Ordnung.'"

    "Der Traum von einer kontinuierlichen medizinischen Datenerhebung wird Realität." So jedenfalls steht es in den Werbebroschüren der Medizintechnik-Unternehmen. Die Sensortechnik wird die Medizin verändern, weil mehr Daten für Grundlagenforschung und Diagnose zur Verfügung stehen. Diese Daten entfalten ihre Bedeutung allerdings erst im komplexen und dynamischen Zusammenspiel der Organe. Welche Messungen wirklich für den medizinischen Alltag taugen – das muss sich erst noch herausstellen.