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Manuskript: Die süße Revolution

Die Welt ist voller Zucker: das Holz der Bäume, die Panzer der Insekten bestehen aus Zucker. Jede Zelle ist in einen Zuckerpelz gehüllt, der wichtige Informationen übermittelt - kein Wunder, dass auch Krankheitserreger und Parasiten diese Zucker nutzen, um Zellen zu infizieren. Die Moleküle sind extrem wichtig für die Biologie, gleichzeitig aber auch wesentlich komplexer als etwa DNA oder Proteine. Und so fristeten die Zucker bislang ein Schattendasein in der Forschung. Doch jetzt ist der Durchbruch geschafft.

Von Volkart Wildermuth | 24.03.2013
    Arjit Varki: "Große Zucker sind wie die dunkle Materie der Biologie. DNA, RNA, Proteine, das ist das Standardmodell, damit kann man eine Menge anfangen. Aber man übersieht - wir sagen - den dicken Elefanten dahinter: die Zucker. Sie beeinflussen alles."

    Wer bei Zucker nur an die weißen Kristalle denkt, ignoriert seine spannendsten Seiten. Zu entdecken gibt es ein ganzes Zuckeruniversum.

    Einzelzucker: Glukose, Blutzucker, der schnelle Energielieferant. Fructose, Fruchtzucker, süße Belohnung für die Bienen. Desoxyribose, Rückgrat der Erbsubstanz. Sialinsäure, Ich-Signal fürs Immunsystem.

    Peter Seeberger: "Zucker sehe ich überall. Alle grüne Biomasse, die uns umgibt, besteht zu über 80 Prozent aus Zuckern. Die Bäume, die Pflanzen, die Blumen, alles aus Zucker, viele der Panzer an den Käfern sind aus Zuckern gemacht, aus Chitin."

    Zweifachzucker: Saccharose, Rohrzucker, steckt in jedem Kuchen. Laktose, Milchzucker, Herausforderung für die Verdauung der ersten Viehzüchter. Trehalose, natürliches Frostschutzmittel für Bärtierchen.

    Seeberger: "Zucker sind wichtig für die Kommunikation zwischen Lebewesen, aber auch in Lebewesen. Das heißt, wo ich mich umschaue, sehe ich Zucker."

    Vielfachzucker: Stärke, Energiespeicher. Zellulose, hält Bäume aufrecht. Chitin, bildet Insektenpanzer. Heparin, hemmt die Gerinnung. Glycosaminoglycan, schützt Proteine.

    Peter Seeberger ist Zuckerchemiker. Am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Golm und Berlin synthetisieren er und seine Mitarbeiter die exotischsten Zucker.

    "Zucker sind wichtig in den Gesundheitswissenschaften, von den Impfstoffen bis zu völlig neuen Wirkstoffen im Bereich Diabetes. Sie sind auch wichtig in den Materialwissenschaften. Die Zukunftschancen sind riesig und momentan sehen wir eine sehr starke Entwicklung."

    Fragt sich nur: Wenn die Zucker so wichtig sind, warum hört man so wenig von ihnen? DNA, RNA, Proteine - diese Begriffe kennt inzwischen jeder Zeitungsleser. Aber Glykane, die komplexen Zucker? Für die meisten ein Fremdwort, bedauert Zuckerexperte Arjit Varki von der Universität von Kalifornien in San Diego.

    "Bis in die 70er waren die Zucker und Glykane ein wichtiger Teil der Biologe. Aber dann kam die molekularbiologische Revolution. DNA, RNA und Proteine machten einen großen Sprung nach vorn. Die Glykane blieben zurück. Sie waren viel schwerer zu untersuchen."

    Doch inzwischen haben die Chemiker nachgelegt: Für die Analyse und die Herstellung komplexer Zucker haben sie einfache Methoden entwickelt, die das Tor weit aufstoßen ins Zuckeruniversum. Beobachter versprechen sich viel: von A wie Alzheimermedikament, über M wie Malariaimpfstoff oder T wie Toxoplasmosetest, bis hin zu bis Z wie Zuckertreibstoff. Peter Seeberger:

    "Ich denke, diese Revolution ist momentan in vollem Gange."

    Ein einzelnes Zuckermolekül gleicht einem kleinen Tausendfüßler. Vorne der Kopf: ein Kohlenstoffatom mit doppelt gebundenem Sauerstoff. Chemisch gesehen höchst aktiv, sozusagen das Gebiss des Zuckertausendfüßlers. Hinter dem Kopf reihen sich die Kohlenstoffglieder, jedes mit zwei Ärmchen. Das eine ist eher langweilig, ein Wasserstoff. Das andere aber enthält Sauerstoff, genauer eine Alkoholgruppe, eine Art chemisches Werkzeug. Kopf mit Gebiss, Glieder mit Werkzeugen, bei so viel chemischem Potential auf engem Raum ist es kein Wunder, dass der Zuckertausendfüßler die erste Reaktion meist mit sich selbst eingeht. Der Kopf beißt in einen Arm, ein Ring entsteht. Die anderen Alkoholarme sind aber noch frei, können ihrerseits Verbindungen eingehen. Zuckerchemie ist komplex. Auf der Ebene der Einzelzucker kann jeder Kohlenstoff sein Alkoholärmchen rechts oder links tragen. Dazu kommt, dass jeder Einzelzucker über seine vielen Beinchen mehrere Verbindungen eingehen kann. Während DNA und Proteine jeweils nur lange Ketten bilden, gibt es bei den komplexen Zuckern, den Glykanen, Verzweigungen und damit vielfältig verästelte Baumstrukturen. Eine Sache für Spezialisten. Peter Seeberger war deshalb lange einsam auf dem Feld der Zuckerchemie.

    "Forscher arbeiten gerne an Dingen, wo sie nicht Jahre im Voraus Kleinarbeit verrichten müssen, sondern wo sie vielleicht im Katalog diese Werkzeuge bekommen, die ihnen dann schnell zu Durchbrüchen in der Forschung verhelfen."

    Genau an diesem Punkt stehen die Glykane gerade.

    "Ich habe hier fünf verschiedene Glaskolben, die je nach Reaktionsbedingungen gekühlt, gerührt, erhitzt werden können, oder auf die dann Vakuum, Argon oder verschiedene andere Reagenzien gegeben werden können."

    Stefan Matthies steht an einem Abzug. Hinter der Glasscheibe ein kleiner Wald aus Metallstangen, an denen die Glaskolben wie reife Früchte hängen, verbunden durch Röhren und Schläuche. Kühlgefäße, Bunsenbrenner, Chemikalienflaschen bilden ein unübersichtliches Unterholz. Die Sicht wird erschwert durch die vielen Formeln und Berechnungen, mit denen die Glasscheibe vollgekritzelt ist. Auch Stefan Matthies hat hier seine Doktorarbeit, seine Synthese, mit Filzstift geplant. Es geht um eine spezielle Sialinsäure, auf die Krebsmediziner ein Auge geworfen haben.

    "Ich habe zunächst die Sialinsäure aufgemalt und von dort sehe ich zunächst, dass ein potentieller Bestandteil eine Aminosäure sein kann. Das heißt, man kann seine Synthese so planen, dass die Aminosäure ein Bestandteil seines Moleküls wird."

    Mit kurzen Strichen zerteilt Stefan Matthies die chemische Formel der Sialinsäure in schon bekannte Bruchstücke. Die muss er dann noch zusammensetzen. Die passenden Reaktionen finden sich inzwischen in großen Datenbanken. Doch im Glaskolben verhalten sich die Chemikalien oft ganz anders als auf dem Papier. Die Arbeit des Chemikers besteht nach wie vor zu einem großen Teil im Ausprobieren, im Variieren der Temperatur, der Drücke oder Reaktionsmengen. Frustration gehört zum Geschäft. Stefan Matthies:

    "Im Moment arbeite ich an der dritten Route, das heißt, die ersten beiden Ideen haben leider nicht funktioniert."

    Der dritte Weg zur Sialinsäure sieht aber vielversprechend aus. Alle Atome sind schon am richtigen Platz. Stefan Matthies muss nur noch eine überzählige chemische Bindung aufbrechen, mit Hilfe von Ozon.

    "Dieses Ozon wird dann in diese tiefgekühlte Lösung eingeleitet, das bildet eine wunderschöne tiefblaue Farbe. Und diese Reaktion ermöglicht mir dann eine Kohlenstoff-Kohlenstoff Bindung zu spalten und letztendlich mein Zielmolekül dann zu generieren."

    Fünf Minuten dauert das, dann wird der Ozongenerator abgestellt und wieder Luft eingeblasen, die blaue Farbe verschwindet. Zurück bleibt eine klare Flüssigkeit.
    Stefan Matthies trennt sie auf einer beschichteten Glasplatte auf. Trockenfönen, anfärben. Es zeigen sich lila Flecken - der Moment der Wahrheit.

    "Da gibt es immer freudigen Aufschrei oder Enttäuschung, je nachdem wie die Reaktion verlaufen ist."

    "Es kostet Monate, manchmal Jahre, um einen gangbaren Weg zu einer einzigen Sialinsäure zu finden. Und es gibt viele Sialinsäuren. Wenn sie das Labor des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung verlassen, werden sie zu einem Werkzeug für Mediziner und Biologen."

    Die unterschiedlichen Sialinsäuren sind so etwas wie Wappen oder Banner, mit denen Zellen ihre Identität vor sich hertragen. Gerade erst beginnen Forscher wie Jim Paulson vom Scripps Research Institute im amerikanischen La Jolla diese biologische Heraldik zu verstehen.

    "Alle Zellen sind überzogen mit Glykoproteinen und Glykolipiden, die solche Zucker enthalten. Eine pelzige Schicht, die man sogar im Mikroskop anfärben kann. Das erste, was andere Zellen oder Viren oder Bakterien von einer Zelle sehen, sind diese Zucker."

    Zuckerwechselwirkungen sind vergleichsweise locker. Anders als zwei Eiweiße, die sich fest ineinander verhaken können, sind Zuckerberührungen eher flüchtig. Erst die schiere Masse der Zucker auf der Zelle sorgt für eine sichere Informationsübermittlung. Paulson:

    "Jede Zelle hat viele Zucker an der Oberfläche und andere Zellen reagieren darauf und lesen diese Information. Aber was bedeutet das wirklich?"

    Jim Paulson möchte den Glyco-Code knacken. Derzeit versucht er einen Katalog zusammenzustellen, um dann eine Leber- oder eine Immunzelle nur an ihrem Zuckerprofil zu erkennen. Die Zucker lesen - das können aber nicht nur die Zellen selbst. Wie einen unauffälligen Schafspelz nutzen auch Eindringlinge ihre besonders dichte Zuckerschicht. "Ich bin einer von Euch", sagen gefährliche Krankheitserreger und Krebszellen. "Hier kommt ein freundlicher Bote", signalisieren der Malariaparasit oder das Grippevirus. Der süße Kommunikationskanal wird offenkundig unterwandert. Bei der Infektion nutzen die Erreger meist nur eine einzige Wechselwirkung. Grippeviren zum Beispiel die Sialinsäuren der Schleimhäute. Paulson:

    "Wir wissen inzwischen, dass Viren, die Vögel infizieren, andere Sialinsäuren erkennen als Viren, die Menschen infizieren. Wenn die Viren also von einem Wirt zum anderen wechseln, müssen sie andere Zucker erkennen. Wir können feststellen, welche Zucker ein Virus bindet. Das Schweine-Pandemievirus hat zum Beispiel die gleichen Zucker wie menschliche Grippeviren erkannt. Wir wollen jetzt Vogelgrippeviren überwachen, um die zu finden, die auf dem Weg sind, auch den Menschen zu erkennen und eine neue Pandemie zu starten."

    In La Jolla untersucht die Arbeitsgruppe um Jim Paulson Vogelgrippeviren aus der ganzen Welt. Wann immer eines davon anfängt, sich für die menschlichen Sialinsäuren zu interessieren, informieren die Wissenschaftler die Tierärzte in der Region, damit sie die Geflügelfarmen besonders intensiv überwachen.

    Der genaue Blick auf die Zuckerstrukturen zeigt vor allem eines: sie sind höchst individuell. Sie unterscheiden sich nicht nur von Zelltyp zu Zelltyp sondern auch von Tierart zu Tierart, selbst Menschen und Schimpansen haben ganz unterschiedliche Zuckermuster. Arjit Varki:

    "Die Evolution geht immer weiter und zwar in zwei Richtungen: sie erhält die positiven Funktionen der Glykane im Körper. Auf der anderen Seite binden Erreger wie Grippe, Cholera, Malaria oder Tetanus an diese Zucker. Also drängt die Selektion hier auf Veränderung. Deshalb entwickeln sich die Zucker so schnell."

    In der menschlichen Evolution gab es dabei zwei große Einschnitte. Vor rund zwei Millionen Jahren verloren die Vormenschen eine ihrer Sialinsäuren. Varki:

    "Damals könnte es eine besonders schlimme Form der Malaria gegeben haben, die diese besondere Sialinsäure für die Infektion nutzte. Individuen ohne diesen Zucker hatten einen Überlebensvorteil."

    Ausgesprochen ungewöhnlich: Wirklich alle Vormenschen verloren diese Sialinsäure. Arjit Varki vermutet den Grund in der komplexen Kommunikation über Zucker. Sialinsäuren sind nicht in erster Linie Eintrittspforten für Parasiten, sie signalisieren dem Immunsystem, welche Zellen zum Körper gehören und welche nicht. Zum Problem wird eine Veränderung des Zuckerpelzes beim Sex, wenn eine Frau auf einen Mann mit anderen Zuckern trifft. Auf ihr Immunsystem wirken seine Spermien dann wie Fremdkörper und werden abgetötet. Nur Paare mit gleichem Zuckerstatus konnten sich vermutlich fortpflanzen. Die Malaria könnte den Verlust der Sialinsäure angestoßen haben; in einem zweiten Schritt sorgte dieser Spekulation zufolge dann die Sperma-Unverträglichkeit für die Ausbreitung dieser Mutation

    Vor 100.000 Jahren kam es zu einem zweiten Evolutionsschritt, bei dem Zucker ihre Finger im Spiel gehabt haben könnten. Damals wären die ersten Vertreter des Homo sapiens fast ausgestorben. Parallel verloren sie zwei Eiweiße, die an eine andere Form von Sialinsäure binden. Für Arijt Varki liegt nahe, dass die beiden Ereignisse zusammenhängen.

    "Wir glauben, dass bestimmte Bakterien anfingen, Zellen über diese Zucker zu infizieren. Für die Frühmenschen war der einzige Weg zu überleben, diese Zucker in der weiteren Evolution loszuwerden. Wir wissen, die Bevölkerung schrumpfte damals, nur 5000 bis 10.000 Individuen überlebten. Vielleicht steckte das Klima dahinter oder etwas anders, aber vielleicht war auch eine Infektion verantwortlich."

    Zucker stehen unter erheblichem Evolutionsdruck. Nicht nur beim Menschen und bei Tieren sondern auch bei Pflanzen. Markus Pauly:

    "Die Pflanze hat Zucker en masse, weil die sich durch die Photosynthese damit selbst versorgt."

    Zucker im Überschuss, aus dem die Pflanzen zum Beispiel Holz bilden. Ein besonders eindrückliches Beispiel für die Leistungsfähigkeit dieses natürlichen Baustoffs hat der deutsche Forscher Markus Pauly in seiner Wahlheimat Kalifornien immer vor Augen: die Redwoods. Bäume, bis zu 130 Meter hoch und 500 Tonnen schwer, die auch Dank des Zuckers Zellulose in ihrem Holz den stärksten Winden, den gefräßigsten Käfern widerstehen.

    "Wir als Menschen haben ja die Hybris zu sagen, prima wir nehmen jetzt das Material und innerhalb von zehn Minuten machen wir daraus Energie. Wohingegen 450 Millionen Jahre hat die Pflanze das Material so perfektioniert, dass es nicht abgebaut werden kann, damit die Pflanze überlebt. Und das ist das Problem."

    Die Stabilität, sie ist ein Problem für alle, die aus Pflanzenüberresten grüne Energie, also Biogas oder Biotreibstoff gewinnen wollen. Lösungswege sucht Markus Pauly mit seiner Arbeitsgruppe an der Universität von Kalifornien in Berkeley, an einem unscheinbaren Kraut namens Ackerschmalwand oder Arabidopsis. Die nur 30 cm hohen Pflanzen wachsen dicht gedrängt in den grell erleuchteten Regalen der Klimakammern. Ein kleiner Laborwald, dessen Stängel ganz ähnlich aufgebaut sind, wie die Stämme der Redwoods: vor allem aus langen Fasern des Vielfachzuckers Zellulose.

    "Wenn man sich so eine Zellwand im Mikroskop anguckt, dann sieht das sehr aus wie so ein gestrickter Pullover und wenn Sie sich vorstellen, Sie nehmen zwei Wollknäuel und schmeißen die zusammen, dann haben Sie noch keinen gestrickten Pullover. Und das wissen wir noch nicht, wir wissen nicht, was da molekular passiert, damit aus diesen Wollknäueln dieses Material entsteht, das wissen wir halt nicht."

    Die ordentlichen Muster der Zellulosefasern werden unter anderem von komplexen Zuckern stabilisiert. Markus Pauly kann sie inzwischen mit raffinierten Methoden analysieren. Die Details seiner Techniken erläutert er in Internetvideos, um anderen Forschern den Einstieg in die Zellulosebiologie zu erleichtern.

    "In dem Video wird dann gezeigt, wie das gemacht wird und in dem Video wird auch gezeigt, wie die Zwischenschritte aussehen. Das heißt, wenn da zum Beispiel irgendwann in irgendeinem Schritt so eine schwarze Pampe da entsteht, dann kriegen die Studenten meist immer Panik, Oh, ich hab etwas falsch gemacht und dann sieht man in dem Video: Nein das sieht so aus , keine Panik, das sieht so aus."

    Glykane werden in der Zelle Einzelzucker für Einzelzucker aufgebaut. Dafür sind Enzyme verantwortlich, die sich jeweils auf eine besondere Zuckerverbindung spezialisiert haben. In menschlichen Zellen gibt es knapp 200 dieser Enzyme, in Pflanzen deutlich mehr. Wenn Markus Pauly mit genetischen Tricks das passende Enzym ausschaltet, kann die Pflanze den Zucker nicht mehr bilden. Die Auswirkungen sind in den Klimakammern zu sehen. Wenn der fehlende Zucker wichtig für die Stabilität war, lassen die mutierten Arabidopsispflanzen ihren Stängel schlapp hängen.

    "Und in andern Fällen bekommt man überraschender Weise genau das Gegenteil Man entfernt diesen Zucker genetisch von der Pflanze und dann pappt die ganze Zellwand noch stärker zusammen und man bekommt sie weniger aufgelöst."

    Dann steht die Arabidopsis-Variante geradezu stocksteif im Labor. Noch ist der Zusammenhang zwischen Zuckerstruktur und Zellwandaufbau eben erst rudimentär verstanden. Eher zufällig stießen die Forscher auf eine besonders zuckerreiche Maispflanze. In ihren Blättern finden sich zweieinhalb Mal so viele große Zuckermoleküle wie in gewöhnlichem Mais. Die Variante wurde Candy Leaf getauft. Die Ursache für die "süßen Blätter" fand Markus Paul in einer Mutation: in einem Enzym, das Zuckerketten normalerweise abbaut. Da es fehlt, bleiben die Ketten liegen, bereit für die Ernte durch den Menschen.

    Derzeit wird in Freilandversuchen getestet, ob sich Candy Leaf für die Produktion von grünem Treibstoff eignet. Der Erfolg ist keineswegs garantiert. Wenn die Zucker für den Menschen auf dem Präsentierteller liegen, dann finden vielleicht auch Insekten Geschmack daran und unterm Strich kann gar nicht mehr Biomasse geerntet werden. Pauly:

    "Ich erwarte nicht von meiner Forschung, dass in 30 Jahren die Welt mit bestimmten Pflanzen als Energiepflanzen zugepflanzt ist, die ich so verändert habe, dass man dieses Material besser aufschließen kann. Was ich erwarte ist, dass meine Grundlagenforschung den Prozesstechnikern, den Ingenieuren mitteilt, welche Methode ist denn am sinnvollsten, weil wir wissen, wie so ein Teil zusammengesetzt ist. Weil, wenn ich weiß, wie es zusammengesetzt ist, dann habe ich auch einen Ansatzpunkt wie ich es wieder auflösen kann."

    Zucker als Ersatz für Erdöl. Eigentlich naheliegend, schließlich besteht Erdöl vor allem aus den unter hohen Drücken und Temperaturen umgewandelten Überresten prähistorischer Algenmassen - und damit letztlich aus Zucker. Die begrenzte Ressource Erdöl wird nicht nur von Mineralölkonzernen genutzt, sondern auch von der chemischen Industrie. Die stellt daraus ihre vielen Plastikprodukte her, von Styropor-Dämmungen über PET-Flaschen bis hin zu PVC-Puppen. Nachwachsende Zucker könnten auch hier ein Weg in eine nachhaltige Zukunft sein, hofft Peter Seeberger.

    "Also anstelle, dass man Erdöl nimmt, geht man her, nimmt Pflanzenabfälle und spaltet die Pflanzenabfälle in verschiedene Fraktionen auf. Einige dieser Fraktionen sind dann die Grundstoffe, aus denen die Firmen, große Chemiefirmen wie BASF oder andere in Deutschland ansässige Firmen werthaltig Produkte erzeugen könnten. Das lässt uns großer Hoffnung sein, dass in Zukunft auch ohne Erdöl die komplette Chemieindustrie existieren kann."

    "Das ist ein Zuckersynthesizer."

    Diese Revolution in der Zuckerchemie stellt auf Knopfdruck Komplexzucker nach Maß her.

    "Linkerhand sieht man große Flaschen. In denen befinden sich die Lösungsmittel für die Waschschritte, davon werden natürlich größere Volumina benötigt, wie man sich vorstellen kann. Rechter Hand sieht man etwas kleinere Flaschen, in denen befinden sich die Reagenzien zum Aktivieren der Zuckerbausteine."

    Alles ist in geheimnisvolles blaues Licht getaucht. Nur Design, meint Markus Weißhaupt, schließlich soll der weltweit erste ausgereifte Zuckersynthesizer gut aussehen. 10 Jahre lang hatte das Labor Seeberger zuvor am Prototypen gearbeitet.

    "Und hier oben auf diesem sich drehenden Rad sieht man ganz kleine Fläschchen. In denen befinden sich die Zuckerbausteine."

    An sich hat jeder Einzelzucker viele Reaktionsmöglichkeiten. Nicht so die Einzelzucker in diesem Automaten. Markus Weißhaupt und seine Kollegen haben die chemischen Tausendfüßler sozusagen gezähmt. Mit viel Mühe haben sie die aktiven Sauerstoffatome durch verschiedene Schutzgruppen blockiert. Mit Säuren oder Basen lassen diese sich gezielt wieder entfernen, sodass den Zuckern in den kleinen Fläschchen jeweils nur ein einziger Reaktionsweg offensteht.

    "Das heißt die Synthese des komplexen Zuckermoleküls, des Mehrfachzuckers erfolgt kontrolliert und man weiß, in welchem Verknüpfungsmuster das Endprodukt schließlich vorliegen wird."

    Nach und nach wächst das vorbestimmte Zuckerbäumchen, in einem kleinen, gekühlten Glasrohr mit einer Art durchlässigem Boden, durch den immer wieder Gas blubbert.

    "Man sieht jetzt, dass eine zweite Lösung hinzugefügt wird, das ist die sogenannte Aktivator-Lösung, die dafür sorgt, dass die Zuckermoleküle sich verbinden. Und von oben wird jetzt ein Gasdruck eingelegt und durch eine poröse Schicht im Boden des Reaktionsgefäßes werden alle Lösungen entfernt, während die wachsende Zuckerkette im Reaktionsgefäß verbleibt."

    Die Zuckerbäumchen schweben nicht frei in der Lösung, sondern wurzeln an winzigen braunen Plastikkügelchen. Diese Wurzeln waren der Schlüssel zum Erfolg des Zuckersynthesizers. Denn einerseits muss die Wurzel, oder der Linker, wie die Chemiker sagen, während all der Reaktionsschritte halten, andererseits muss sich der Zucker am Ende schnell und verlässlich ernten lassen. Peter Seeberger:

    "Die Chemie dieses Linkers bestimmt alle Chemie, die in dieser Synthesemaschine gemacht werden kann."

    Über Jahre hat Peter Seeberger nach der perfekten Wurzel gesucht. Am Ende hat sich der Chemiker für eine Verbindung entschieden, die sich durch Licht spalten lässt.

    "Der Trick, den wir jetzt einsetzen, wir nehmen einen durchsichtigen Plastikschlauch, durch den wir die Kügelchen einzeln um eine Lampe herumpumpen. Und auf diese Art und Weise wird jede Plastikperle einzeln belichtet und dadurch kommt es zu einer sehr, sehr effizienten Reaktion."

    Biologen, Mediziner, Botaniker müssen nur die Fläschchen mit den passend gezähmten Tausendfüßlern bestellen und am Computer ihre Wunschzuckerstruktur eingeben. Den Rest macht der Synthesizer über Nacht ganz automatisch. Weißhaupt:

    "Das heißt man bestückt es mit allen Lösungsmitteln, Reagenzien und Zuckerbausteinen, programmiert das entsprechende Programm in den Computer und dieser steuert das Gerät dann bis zum Ende der Synthese."

    Standardisierte Analysemethoden für Glykane und solche Synthesizer zur einfachen Produktion definierter Zucker beflügeln die Grundlagenforschung und darauf aufbauend zunehmend auch Anwendungen in der Medizin. Das fängt bei der Diagnostik an. Mit Robotern lassen sich Hunderte verschiedener Zuckerbäumchen auf definierte Positionen eines Glasplättchens auftragen. Zuckerstrukturen von Erregern genauso wie körpereigene Zucker. Geben die Ärzte dann einen Tropfen Blut dazu, sehen sie genau, worauf die Immunzellen reagieren. So lässt sich eine Infektion nachweisen, der Erfolg einer Impfung oder eine Allergie.

    Glykane bieten auch neue Hebel für die Therapie. Die aktuellen Grippemedikamente greifen ein Virusenzym an, das auf Zucker reagiert. Auch neue Antibiotika-Klassen sind in der Entwicklung. Bei Alzheimermäusen können Zuckerwirkstoffe die Ablagerungen im Gehirn ausbremsen. Und ausgestattet mit dem richtigen Glyco-Code lassen sich Liposomen voller Krebsmedikamente gezielt zu Tumorzellen zu steuern. Auch Allergiker könnten bald profitieren: Die Zuckerhülle von Darmparasiten kann, wie man weiß, Entzündungsreaktionen dämpfen, wie sie bei Morbus-Crohn oder Allergien auftreten. Allerdings können sich die wenigsten Patienten durchringen, ein Glas voller winziger, harmloser Würmer zu trinken. Seeberger:
    "Wir haben versucht, das Ganze etwas sauberer zu gestalten, indem wir die Zucker jetzt nicht mehr durch Schweineparasiten in den menschlichen Körper verbringen, sondern diese Zucker der Schweineparasiten eben haben wir chemisch nachgebaut und diese können hoffentlich in Zukunft verabreicht werden um eine ähnliche entzündungshemmende Wirkung zur Folge zu haben."

    Die meisten der neuartigen Zucker-Medikamente stecken derzeit noch in der Phase der Tierversuche, sagt Peter Seeberger. Heute schon im Einsatz sind drei Impfstoffe auf Zuckerbasis.

    "Wenn ich sage heute, meine ich wirklich mein Sohn wurde also tatsächlich heute gegen Pneumokokken geimpft und diese Pneumokokken-Impfung ist eine kohlenhydratbasierte Impfung."

    Noch werden die Zucker aus den krankmachenden Bakterien isoliert. Peter Seeberger jedoch möchte sie schon bald im Labor mit seinem Zuckersynthesizer herstellen. Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten bei Keimen, die sich nicht so leicht züchten lassen.

    "Wir haben momentan sehr gute Resultate im Bereich der Streptokokken, im Bereich der Gehirnhautentzündungen, der Meningokokken, verschiedene andere bakterielle Infektionen. Wir haben auch sehr gute Resultate im Bereich der Toxoplasmose-Infektion, die von Katzen übertragen wird und die vor allem in schwangeren Frauen zu Problemen führt. Wir haben auch sehr interessante Ergebnisse im Bereich von Clostridium difficile das ist ein Krankenhauskeim, der vor allem in den letzten zehn Jahren in den Krankenhäusern der entwickelten Länder Furore gemacht hat."

    Am meisten am Herzen liegt dem Afrikakenner Peter Seeberger aber ein Impfstoff gegen die Malaria. Jedes Jahr infizieren sich über 240 Millionen Menschen mit dem Malariaparasit, knapp zwei Millionen sterben. Vor allem Kinder haben dem Erreger wenig entgegenzusetzen.

    "Der Impfstoffansatz, den wir gegen Malaria verwenden, richtet sich nicht dagegen, den Parasiten zu töten und zu vernichten, sondern richtet sich rein darauf, einen Giftstoff, den der Parasit auf seiner Oberfläche trägt, zu neutralisieren. Dieser Giftstoff ist ein Zucker, der so im Mensch nicht vorkommt, der aber das menschliche Immunsystem sehr stark anregt, wobei es dann zu schweren Entzündungsreaktionen und zu Problemen und Komplikationen bei den Malariainfektionen kommt."

    Solche Impfungen nicht gegen die Erreger selbst, sondern gegen ihre Giftstoffe haben sich bei bestimmten bakteriellen Krankheiten bewährt. Sie verhindern zwar nicht die Ansteckung, sorgen aber dafür, dass die Erreger keinen Schaden anrichten können, dienen also der Heilung. Peter Seeberger:

    "Wir haben jetzt seit elf Jahren an einem Malaria Impfstoff gearbeitet. Der von uns verwendete Ansatz ist 100 Prozent wirksam im Tiermodell. Wir sind jetzt eigentlich fertig, diese Moleküle im Menschen zu testen. Bislang war es eine rein finanzielle Frage, dass es nicht weiter verfolgt wurde."

    Die Förderorganisationen konzentrieren sich auf die traditionellen Eiweißimpfstoffe. Oft genug ohne durchschlagenden Erfolg. Jetzt müsste endlich den Zuckern eine Chance gegeben werden, fordert Peter Seeberger. Zucker seien sicher kein Allheilmittel, aber die Zeit sei mehr als reif für neue Medikamente und diagnostische Tests, meint auch Markus Pauly.

    "Die Perspektive sehe ich eigentlich sehr gut, weil es ein wichtiges Feld ist für Energie und für Chemikalien und auch für Medizin für Krankheiten auch für den Menschen - es kommt ein bisschen jetzt so ein Boom auf."

    Die Disziplin verzeichnet einen gewaltigen Aufschwung. Immer mehr Forscher beteiligen sich, nehmen das große Ziel ins Visier, den Zuckercode zu knacken und die süßen Botschaften auf den Zellen zu nutzen. Trotz aller Probleme mit der besonderen Komplexität der vielfach verzweigten Zucker ist Jim Paulson davon überzeugt: ein Glyco-Code-Projekt vergleichbar dem Genomprojekt ist machbar.

    "Ja, das geht. Das Herz des Glyco-Codes, das sind die Enden der großen Zuckerstrukturen. Von diesen Endstücken gibt es vielleicht 600, das kann man in den Griff bekommen. Zucker sind extrem vielfältig, aber für den Glyco-Code kommt es vor allem auf diese begrenzte Gruppe der Endstücke an. In der nahen Zukunft werden wir die Komplexität des Zucker-Codes viel besser verstehen."

    Peter Seeberger: "Die Zeit für die Glykane ist reif."