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Manuskript: Gipfelrausch

4000, 5000 Meter – für den Menschen sind das extreme Bedingungen. Zehntausende Bergsportler erleben es am eigenen Leib, wenn Sie kurz vor dem Ziel aufgeben müssen. Der Sauerstoffmangel, die sogenannte Hypoxie, kann starke Kopfschmerzen verursachen, Schwindelanfälle, im schlimmsten Fall ein Lungen- oder Hirnödem auslösen. Welche Prozesse dabei ablaufen, verstehen die Forscher erst langsam.

Von Anne Kleinknecht | 05.08.2012
    "Wir haben’s geschafft: Wir waren im Everest-Basis-Lager. Es war eine sehr schöne Tour. Wir hatten gutes Wetter, die Aussicht ist wirklich fantastisch. Man sieht hier schön die ganzen Berge. Der Lhotse war ein bisschen versteckt hinter den Bergen"

    Rolf und Astrid Heikamp blättern versonnen in ihrem Fotobuch. Die Eindrücke von ihrer Reise nach Nepal sind noch ganz frisch.

    "Wir sind in einem Paralleltal gegangen, dem Gokyo-Tal. Das ist ein sehr schönes Tal. Dann ging es rüber über einen Pass, das war vielleicht das Schwierigste von der ganzen Tour. Der ist auch schon so über 5300 Meter. Und dann kommt man in dieses eigentliche Tal, wo man zum Everest-Basis-Lager geht."

    Das Münchner Paar hat sich mit der Trekking-Tour einen Traum erfüllt. Allerdings keinen besonders exotischen. Zehntausende Bergsportler dürften ähnliche Fotos besitzen. Reisebüros bieten mittlerweile Touren in die höchsten Regionen der Welt an. Auch Touristen ohne viel Bergerfahrung trauen sich, 5000 bis 7000 Meter hohe Gipfel zu erklimmen. Dabei sind die Bedingungen für den Menschen in dieser Höhe extrem. Astrid Heikamp:

    "Wir waren vor ein paar Jahren am Kilimandscharo,ich hatte schon auf 4000 Meter Höhe Kopfschmerzen. Und du hattest Appetitlosigkeit. Das sind so Vorstufen von der Höhenkrankheit."

    Rolf Heikamp: "Wir sind, glaube ich, bis 5200 bis 5300 Meter, schon relativ hoch. Aber es ging einfach nicht mehr, körperlich auch nicht. Ich fing zum Schluss an zu schwanken und dann haben wir gesagt: Jetzt ist Schluss, aus. Es bringt nichts."

    Eins ist klar: Der Mensch ist nicht für die Höhe gemacht. Wenn er seinen gewohnten Lebensraum verlässt, muss sich sein Organismus auf Sauerstoffmangel einstellen – die sogenannte Hypoxie. Der Sauerstoffanteil in der Luft liegt zwar bis auf etwa 15 Kilometer über dem Meeresspiegel konstant bei circa 21 Prozent. Was sich jedoch ändert ist der Luftdruck. Er nimmt mit steigender Höhe ab. Mit ihm sinkt der Sauerstoffteilchendruck. Und das hat Folgen für den menschlichen Körper. Welche Prozesse dabei genau ablaufen, erschließt sich den Forschern erst ganz allmählich.

    "Wir liegen mitten in den Bergen. Sie sehen, es ist nahezu zum Greifen nahe. Auf der einen Seite im Norden die so genannte Nordkette mit dem Hafelekar, auf das eine Seilbahn von Innsbruck hoch führt."

    Nur eine Straße trennt das Institut für Sportmedizin vom Innsbrucker Flughafen. Dahinter geht ein kleines Stückchen Wald schon nach wenigen hundert Metern in karge Gebirgsfelsen über. Für Professor Martin Burtscher sind die Bedingungen ideal.

    "Binnen 20 bis 30 Minuten kann man hier Höhen von etwa 2500 Meter erreichen. Für uns auch interessant, um kurzfristig Höhenuntersuchungen zu machen, da 2000 bis 2500 Meter schon eine Provokation in unserem Organismus darstellt."

    Burtscher hat schon vor einigen Jahren einen Höhenverträglichkeitstest entwickelt. Er misst, wie gut jemand seine Atmung an den Sauerstoffmangel anpasst. Atmet jemand in der Höhe ganz normal weiter, können die Blutkörperchen die Zellen im Körper nicht mehr mit genügend Sauerstoff versorgen.

    "Wir haben eine Untersuchung an etwa 500 Personen durchgeführt, wo wir nach rund einer halben Stunde gemessen haben, wie gut oder schlecht die Atemantwort der Probandinnen ist. Und wir haben ganz charakteristische Zusammenhänge zwischen dem Abfall der Sauerstoffsättigung und der Neigung, bergkrank zu werden, gefunden."

    Ein Mitarbeiter von Martin Burtscher, Martin Faulhaber, führt den Höhenverträglichkeitstest heute im Labor durch. In einem durchsichtigen Plastikzelt wartet eine Studentin.

    "Das ist eine einfach konstruierte Höhenkammer, in der wir Höhen auf bis zu 6000 Meter simulieren können. Bei diesem System haben wir getrennte Generatoren, die Stickstoff produzieren und wir leiten die Luft von den Generatoren, die dann eben einen geringeren Sauerstoffgehalt und mehr Stickstoffgehalt hat, in diese Kammer ein. Unsere Probandin, die Frau Friesinger, setzt sich jetzt in die Höhenkammer und hält sich circa 20 bis 30 Minuten passiv darin auf. Wir haben eine Höhe von etwas über 3000 Meter simuliert und nach 30 Minuten werden wir eine kleine Messung bei ihr durchführen, um den Sauerstoffgehalt im Blut abschätzen zu können. Und mit diesem Messergebnis können wir dann schauen, ob sie mit großer Wahrscheinlichkeit anfällig ist für Höhenerkrankungen, Kopfschmerzen, Erbrechen, Übelkeit, oder nicht. Franziska, wie geht es Dir?"

    Friesinger: "Noch gut. Noch spüre ich fast nix. Ein ganz bisschen vielleicht, dass ich mehr atmen muss, aber sonst fühle ich mich wohl."

    Martin Faulhaber klipst das Pulsoxymeter an den Zeigefinger der Probandin. Das Gerät misst mit Hilfe von Infrarotlicht die Sauerstoffsättigung und den Puls. Faulhaber:

    "Man sieht jetzt: Der obere Wert ist die Sauerstoffsättigung. Bei ihr sind das 88 Prozent. Wenn man draußen messen würde, auf Innsbruck-Höhe, wären es fast 100 Prozent. Fast alle roten Blutkörperchen wären mit Sauerstoff beladen."

    Kein Wunder, dass die Sportstudentin gehörig ins Schnaufen kommt. Ihr Körper gleicht den Mangel aus. Doch irgendwo hat jeder Organismus seine Grenze. Ab einer Höhe von 4500 Metern leidet rund jeder zweite nicht-akklimatisierte Bergsteiger an der Höhenkrankheit. In dieser Region steigt auch die Wahrscheinlichkeit für das seltene, aber gefährliche Höhenhirnödem und das Höhenlungenödem. Bei wenig Sauerstoff verengen sich die feinen Lungenarterien; dadurch steigt der Druck in den Gefäßen und es wird mehr Körperwasser in die Lungenbläschen gedrückt. Beim Hirnödem passiert das Gleiche: Auch hier sammelt sich Flüssigkeit im Gewebe. Diese Hirnschwellung kann zu Blutungen führen. Im schlimmsten Fall endet sie tödlich, denn der Schädel hat keine Möglichkeit, sich auszudehnen. Wenn der Hirnstamm eingeklemmt wird, fällt auch der fitteste Bergsteiger ins Koma. Mediziner dachten lange, die Symptome der Bergkrankheit – also Kopfweh oder Übelkeit – entstünden auf ähnliche Weise wie die Ödeme. Peter Bärtsch hat dieser Vermutung aber nie ganz getraut.

    "Bei der gewöhnlichen Bergkrankheit ist die Hauptmeinung, dass das Gehirn anschwillt und uns Kopfschmerzen macht. Wir konnten jetzt aber zeigen mit modernen Techniken der Gehirndarstellung, mit Magnetresonanzspektroskopie oder mit Computertomographie des Gehirns, dass diese Schwellung so minim ist, dass diese Hypothese eigentlich nicht aufrechterhalten werden kann."

    Die Höhenkrankheit treibt den Heidelberger Professor für Sportmedizin schon seit Jahren um. Seine Hypothese: Höhenkranken ergeht es wie Migränepatienten

    "Wahrscheinlich kommt es zuerst zu einer Ausweitung der Gefäße und dadurch kommt es zu einer Reizung von Schmerzfasern, die die Gefäße umgeben. Und das wird ins Gehirn geleitet über den Hirnstamm, wo vegetative Zentren sitzen. Also Zentren, die den Kreislauf, die Atmung, die Darmtätigkeit regulieren und dass von dort aus die Magen-Darm-Symptome kommen, die Übelkeit, das Erbrechen. Und ganz ähnlich stellt man sich vor, dass die Ausweitung der Gefäße, wenn ich Sauerstoffmangel habe, dass das eine ähnliche Reaktion auslösen kann."

    Auch wenn der Mechanismus hinter der Höhenkrankheit noch nicht restlos geklärt ist - Medikamente sind längst auf dem Markt. Sie sorgen dafür, dass der Körper im Notfall mit ausreichend Sauerstoff versorgt wird. Darauf sollte sich jedoch niemand verlassen, meint Jutta Stephan. Ihr Konzept:

    "Man muss Zeit mitbringen, um dem Körper eine Chance zu geben, sich daran zu gewöhnen."

    Die Sportwissenschaftlerin betreibt seit 2008 das Institut für Höhentraining im Münchner Stadtteil Pasing. Die Räume liegen im Untergeschoss eines Wohnhauses. Der erste Blick fällt auf eine Sitzecke mit Ledersesseln. Kühl ist es hier. Die Klimaanlage läuft. Und manchmal springt ein Generator an, der sauerstoffarme Luft produziert.

    "Hier im zentralen Bereich findet das passive Training statt, wo man sich in den Sessel oder aufs Sofa setzen kann. Bekommt dann über eine Maske gefilterte Luft. Da kann ich die Höhe auf Knopfdruck regulieren. Wir können hier zügig bis auf 6500 Meter rauf gehen. Insgesamt haben wir vier Trainingsräume oder vier Räume, die wir unter Höhe setzen können, in denen wir das aktive Training durchführen."

    "Hereinspaziert. Wir betreten einen unserer Trainingsräume, den wir speziell fürs Ausdauertraining nutzen. Er ist ein kleines bisschen größer. Wir haben hier vier Trainingsgeräte. In dem Fall sind es zwei Laufbänder, ein Crosstrainer und ein Liegendfahrrad - wir nutzen es gerne für den Reha-Bereich."

    Auf den beiden Laufbändern schwitzen Rolf und Astrid Heikamp. Immer die Zahlen auf dem kleinen Bildschirm an ihrem Gerät im Blick. Und die zeigen…

    Rolf Heikamp: "Also einmal die Steigung: 15 Prozent und dann die Geschwindigkeit: 4,5 Stundenkilometer. Und zusätzlich kann ich meine Pulswerte messen: Pulsschlag, Frequenz und die Sättigung im Blut. Mit dem Reden ist es jetzt natürlich etwas anstrengender. Und der Puls, da schaue ich, dass ich bei 120 bis 130 liege maximal."

    Für 15 Trainingseinheiten mit Beratung legt man im Institut für Höhentraining knapp 500 Euro auf den Tisch. In anderen Einrichtungen sieht das Programm ähnlich aus. Wie Pilze sind sie in den letzten Jahren aus dem Boden geschossen. Grund genug für den Sportmediziner Peter Bärtsch, das Konzept genauer zu prüfen. Der Forscher teilte für seine Untersuchung Studienteilnehmer in zwei Gruppen auf. Die eine Hälfte trainierte in normaler Luft, die andere unter sauerstoffarmen Bedingungen.

    "Wir haben dann in dieser Art etwa 40 Leute untersucht, die Hälfte hat dreimal die Woche über 90 Minuten bei einer moderaten Intensität auf dem Fahrradergometer trainiert. Und dabei hat der Sauerstoffdruck initial einer Höhe von 2500 Meter entsprochen. Ist dann gesteigert worden auf 3000 und 3500 Meter. Jede Woche eine Stufe höher. Insgesamt wären das neun Trainingseinheiten. Und in der letzten Woche wurde auf zwölf Prozent Sauerstoff zurückgegangen. Das entspricht einer Höhe von 4500 Meter. Da haben die Leute nicht mehr trainiert, sondern sind nur ruhig dagesessen."

    Vier Tage nach der letzten Behandlung wartete auf die Studienteilnehmer an der italienisch-schweizerischen Grenze eine Etappe bis auf 4550 Meter.

    "Wir haben sie in die Margherita-Hütte aufgenommen. Schnell. Wir haben bewusst einen schnellen Anstieg gewählt, weil wir wissen wollten, ob die Maßnahme hilft, die Bergkrankheit zu verhindern."

    Das Ergebnis: ernüchternd

    "Ich lese aus diesen Daten, dass ein Training in einem Fitnessstudio, drei bis vier Mal die Woche bei zwölf bis 15 Prozent Sauerstoff wahrscheinlich keine großen Effekte hat. Es ist meiner Ansicht nach sehr fraglich, ob man diese Investition bringen will oder nicht."

    Für Jutta Stephan sind solche Forschungsergebnisse aber noch lange kein Grund, das Institut für Höhentraining zu schließen. Sie meint:

    "Um zu belegen, dass es diesem einen Menschen geholfen hat, müsste er eigentlich einen Klon mit an den Berg nehmen. Der nicht trainiert hat und unter Umständen Probleme bekommt. Das kann man nicht beweisen. Es ist wie bei einer Arztwahl, es ist auch eine Frage des Vertrauens: Vertrauen zu uns, zu unserem Training."

    Schon heute heißt für viele die Alternative zum Schwitzen in der Höhenkammer: Schlafen im Hypoxiezelt. Auch diese Variante der Akklimatisierung hat Bärtsch getestet. Das Ergebnis: Probanden, die den Sauerstoffgehalt in ihrem Zelt jede Nacht etwas verringerten, litten deutlich weniger unter den Symptomen der Bergkrankheit als solche, die in normaler Luft geschlafen hatten. Entscheidend war offenbar der Faktor Zeit. Bleibt die Frage, wie Bergliebhaber die Erkenntnis in die praktische Reiseplanung einbauen möchten. Bärtsch:

    "Das ist nicht sehr bequem. Es wird ungefähr zwei Grad wärmer in diesen Zelten, Sie haben den Lärm des Generators und es ist nicht jedermanns Sache, sich so vorzubereiten. Der Aufwand ist relativ groß, sie müssen die Zelte mieten. Und man fragt sich, ob man nicht einen solchen Aufwand vermeiden kann und einfach ein paar Tage früher anreist und sich in mittleren Höhen vorakklimatisiert."

    Extreme Gipfel und dünne Bergluft können tückisch, ja sogar lebensbedrohlich sein. Doch Sauerstoffmangel kann den Organismus auch zu Höchstleistungen treiben. Unter Hypoxie funktioniert er nach völlig anderen Regeln: Die Zahl der roten Blutkörperchen nimmt zu, das Hormon Erythropoetin, also Epo, hilft dem Blut, mehr Sauerstoff zu die Zellen zu transportieren. Die Zellen wiederum stellen ihre Arbeit so um, dass sie den Sauerstoff besser ausschöpfen können. Martin Burtscher:

    "Am Anfang sind diese Veränderungen ungeordnet, der Organismus ist noch nicht an die Höhe gewöhnt. Und die Reaktionen bedingen, dass verschiedene Symptome auftreten. Allerdings lernt der Organismus, so wie das bei einer körperlichen Belastung ist, immer besser, mit diesem Stressor Höhe umzugehen. Und das geht so weit, dass wir diese Anpassung sogar gesundheitlich oder in Bezug auf veränderte Leistungsfähigkeit nutzen möchten. So richtig aufgegriffen wurde die Thematik der Leistungsbeeinflussung durch die Höhe, als in Mexiko City 1968 die olympischen Spiele stattgefunden haben. Man hat gewusst, dass in 2300 Meter die Leistungsfähigkeit reduziert ist. Man weiß, dass ab etwa 1500 Meter pro weiteren 1000 Höhenmetern die Leistungsfähigkeit um etwa zehn Prozent reduziert ist. Jetzt wollte man eine optimale Basis schaffen, um die Leistungsfähigkeit möglichst wenig zu reduzieren. Man hat die Athleten entsprechend früher exponiert. Man hat in der Höhe geschlafen und in der Höhe geleistet. Das ist das klassische Konzept."

    Sportler, die auf einer Höhe von über 1000 Metern gegeneinander antreten, reisen auch heute noch gern früher an, um dünne Luft zu schnuppern. Zum Beispiel bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika. Obwohl die höchste Spielstätte damals nur auf 1753 Metern lag, entschied sich die Mehrheit der Mannschaften, ihr Lager in der Höhe aufzuschlagen. Dort nimmt die Leistung wegen des Sauerstoffmangels zwar erst einmal ab, nach ein paar Tagen kann der Körper aber umso mehr Einsatz zeigen. Heute nehmen sogar Sportler den Weg nach oben auf sich, die mit den Bergen eigentlich nichts am Hut haben. Auch Triathleten, Schwimmer oder Marathonläufer vertrauen auf die Wirkung dünner Luft. Und das geht so. Burtscher:

    "Ich nutze die Höhe, um Blutneubildung und die Sauerstofftransportkapazität des Blutes zu steigern. Und ich trainiere aber im Tal, weil ich dort unter höherer Intensität trainieren kann. Und dort Reize auf die Muskulatur entsprechend und die entsprechenden Anpassungen aufrechterhalten kann. So ist das Konzept 'live high and train low' entstanden."

    Auch 34 Kilometer von Innsbruck entfernt versuchen Sportler, ihre Leistung nach diesem Konzept zu steigern. Es geht über kurvige Bergstraßen. Zuerst noch an saftigen Wiesen vorbei. Dann werden die Hügel immer karger bis schließlich große Schneeflecken daran erinnern, dass der Winter in der Höhe einfach länger dauert.

    "Wir sind jetzt mit dem Auto von Innsbruck auf knapp 600 Meter ins Kühtai in diese Ortschaft, in diese Feriensiedlung gefahren auf über 2000 Meter. Und dort gibt es neben vielen Bergen und schönen Bergtouren und Wandermöglichkeiten auch eine kleine Trainingsanlage für Läufer."

    Martin Faulhaber steht ein bisschen verloren auf der menschenleeren Dorfstraße. Rund ein Dutzend Hotels gibt es hier. Jetzt, zwischen der Ski- und der Wandersaison, haben viele noch die Fensterläden geschlossen. Der ideale Zeitpunkt für Sportler, die nachts von der Höhenluft profitieren, aber tagsüber in der Ebene trainieren möchten.

    "Es bedarf, um das halbwegs praktikabel anwenden zu können, einen Ort, wo man übernachten kann, der auf 2000 bis 2200 Meter liegt. Und gleichzeitig braucht es Trainingsmöglichkeiten in Tallage, um hoch intensive Trainingseinheiten absolvieren zu können mit maximalen Bewegungsgeschwindigkeiten. Das ist am Kühtai recht gut gegeben. Wie selten irgendwo in den Alpen. Dass man in ungefähr 30 Minuten von 2000 Meter auf 600 Meter ist."

    Doch seriöse und vor allem eindeutige wissenschaftliche Hinweise darauf, dass ein Konzept wie am Kühtai tatsächlich die Leistung steigern kann, fehlen bislang. Bei den meisten Studien hapert es an den Methoden: Zu wenig Studienteilnehmer, keine Placebo-Gruppe… das sind nur zwei Kritikpunkte, die die Forschungsergebnisse anfechtbar machen. Eine der ersten wirklich korrekten Studien kommt aus der Schweiz. Ein Zürcher Forscher hat 2011 das Konzept "live high and train low" – also in der Höhe leben und in der Ebene trainieren – auf den Prüfstand gestellt. Mit einem ernüchternden Ergebnis, wie Dr. Rainald Fischer meint. Der Pneumologe arbeitet am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

    "Leistungsradfahrer, die 16 Stunden unter Sauerstoffmangel waren ohne Training und dann acht Stunden am Tag trainiert haben mit genügend Sauerstoff, das heißt im Tal, da fand sich placebo-kontrolliert kein Unterschied zwischen beiden Gruppen. Da war der Effekt nicht so gut."

    Bleibt abzuwarten, ob andere placebo-kontrollierte Studien mit genügend Probanden diese Fakten erhärten.

    "Ich glaube, dass nur ein individuelles Training einen Effekt machen kann. Und das in Studien herauszufinden ist eine spannende Aufgabe, das steht noch aus."

    Martin Burtscher: "Kurzfristige Aufenthalte haben wir auch mit Patienten durchgeführt. Mit Herzpatienten, mit Patienten, die unter chronisch obstruktiver Lungenkrankheit leiden, und hier haben wir zeigen können, dass nach wiederholten passiven Ruhe-Höhenaufenthalten die Belastungstoleranz nachher unter Normalbedingungen verbessert worden ist. Nicht enorm, aber sie ist verbessert worden."

    Herz- oder Lungenkranke, die sich in Hypoxie aufhalten, kommen später in normaler Umgebung nicht mehr so rasch aus der Puste. Ihre Herzfrequenz steigt langsamer als vorher - ideale Voraussetzungen also, um sich wieder mehr zu bewegen, meint Sportmediziner Burtscher.

    "Laufen, wandern, radeln und so weiter sind heute evidenzbasiert die beste Intervention, um unserem Organismus Gutes zu tun. Um Risikofaktoren zu reduzieren, um die Lebenserwartung zu steigern. Und die Hypoxie als gezielter Stressor könnte eventuell zusätzlich eingesetzt werden."

    Auch bei Menschen mit Übergewicht. Der Münchner Internist Rainald Fischer stieg mit Leuten, die einige Kilo zu viel auf die Waage bringen, in luftige Höhen. Dort, rund 2600 Meter über dem Meeresspiegel, hatten Fischers Probanden plötzlich viel mehr Lust sich zu bewegen als vorher im Tal.

    "Wir haben Männer mit über 100 Kilo für eine Woche im Schneefernerhaus gehabt. Und wir haben ihnen eigentlich nicht viel mehr gesagt, als dass sie sich dort eine Woche aufhalten sollen, essen, trinken können so viel sie wollen. Und wir haben vorher eine Leistungsfähigkeitsuntersuchung gemacht oben und am Ende eine Leistungsfähigkeitsuntersuchung auch noch einmal nach vier Wochen Tieflandaufenthalt. Und haben in der ersten noch nicht ganz so gut kontrollierten Studie gesehen, dass die Leistungsfähigkeit besser war. Und wollten das später noch einmal gut kontrollieren."

    Im zweiten Versuch speckten die Probanden sogar deutlich ab. Hypoxie führt offenbar dazu, dass der Stoffwechsel Kalorien besser umsetzt. Und das ist nur einer von vielen Stoffwechseleffekten. Sportmediziner und Internisten kommen immer häufiger zu dem Schluss: Die Höhe kann weit mehr, als Bergsteiger mit Kopfschmerzen und Übelkeit plagen. Martin Burtscher:

    "Untersuchungen mit Sauerstoffmangel sind für die gesamte Medizin interessant, weil Notfallsituationen fast immer mit Sauerstoffmangel einhergehen. Und Sauerstoffmangelzustände immer eine kritische Situation darstellen. Früher war man der Meinung, dass jeder Sauerstoffmangel automatisch negativ ist. Und man hat lernen müssen, dass Sauerstoffmangelperioden, wenn sie so getimt sind, dass der Organismus Zeit hat, sich anzupassen, positiv eingesetzt werden können; und in der Medizin sich dadurch eine Vielzahl von Möglichkeiten des therapeutischen und präventiven Einsatzes bieten."

    Davon ist auch der leidenschaftliche Bergsteiger Mike Grocott überzeugt. Der Professor für Anästhesie und Intensivmedizin entdeckt immer wieder Parallelen zwischen seinem Hobby und dem, was seine Patienten am Universitätsklinikum in Southampton erleben.

    "Wir hatten die Idee, gesunde Personen extremen Umgebungen auszusetzen. Umgebungen, in denen ihre Physiologie an ihre Grenzen stößt wird und manchmal noch darüber hinaus – Menschen können in diesen Umgebungen sterben. Das könnte uns helfen, die menschliche Physiologie besser zu verstehen. Und es könnte uns nützliche Informationen für Patienten liefern. Denn die Physiologie von Patienten wird in ganz ähnlicher Weise an ihre Grenzen gebracht."

    Der Brite hat nicht den einfachsten Weg gewählt. Statt im Labor Zellen zu zerlegen oder Lungenkranke zu befragen, unternahm er eine Expedition zum Mount Everest - zum höchsten Berg der Welt - 8848 Meter über dem Meeresspiegel.

    "Die Caudwell Extreme Everest Expedition hat im Frühjahr 2007 stattgefunden. Mehr als 60 Forscher waren daran beteiligt. Und mehr als 200 Studienteilnehmer. Die Probanden nahmen alle den gleichen Weg hoch zum Everest Basislager. Ein Teil der 60 Forscher, 24 Personen, ging auch zum Basislager und blieb zunächst drei Monate lang dort. So konnten wir beobachten, wie sich ein langer Aufenthalt in sauerstoffarmer Luft in der Höhe auswirkt. Einige Forscher stiegen weiter auf. Und ein paar wenige erreichten den Gipfel."

    Grocott und seine Kollegen nahmen viele tausend Meter über dem Meeresspiegel Blut- und Urinproben, sie untersuchten bei Eiseskälte Muskelfasern, testeten das Reaktionsvermögen in sauerstoffarmer Luft und überprüften die Atemfunktion. Dabei überraschte eines ganz besonders:

    "Eines der sehr faszinierenden Ergebnisse war der Sauerstoffgehalt im Blut von Bergsteigern, die ganz nah an den Gipfel des Everest herangekommen waren. Der lag nämlich sehr niedrig. So niedrig wie er zuvor noch nie in einem fitten, normal funktionierenden, wachen Organismus gemessen wurde. Einen solch' niedrigen Sauerstoffgehalt kennt man nur von Menschen mit Herzstillstand, von bewusstlosen Menschen oder solchen, denen es sehr schlecht geht. Das könnte bedeuten, dass wir manchen Personen deutlich weniger Sauerstoff geben müssen als wir es derzeit tun. Sie benötigen nur genügend Zeit, sich daran zu gewöhnen. Das heißt, wir vermeiden folgendes Problem: Wenn zum Beispiel die Lungen eines Patienten nicht gut arbeiten, müssen Sie ihm ziemlich viel Sauerstoff geben. Das kann schädlich sein. Es könnte also besser sein, ihm etwas weniger zu geben, um so weniger Schaden anzurichten."

    Und noch eine Beobachtung lässt Grocott nicht mehr los, seit er vom Everest zurück ist:

    "Mehr Stickstoffmonoxid im Blut zu haben scheint gut zu sein. Interessant ist, wenn sie sich Tibeter ansehen, die in großer Höhe leben, dann haben die einen sehr hohen Gehalt an Stickstoffmonoxid im Blut. Das scheint vorteilhaft zu sein, wahrscheinlich weil es den Blutfluss an die Sauerstoffnutzung anpasst."

    Offenbar produzieren nicht nur die Bewohner der tibetischen Hochebene mehr Stickstoffmonoxid, sondern auch viele Bergsteiger. Das Gas lässt kleine Blutgefäße noch enger werden. So fließt das Blut langsamer und die roten Blutzellen haben mehr Zeit, den Sauerstoff zum Gewebe zu transportieren. Grocott:

    "Wir beginnen gerade eine Studie, in der wir herausfinden möchten, ob Stickstoffmonoxid den Blutfluss zu den Zellen von Patienten mit schweren Infektionen verbessern kann."

    Gleichzeitig steckt Grocott schon wieder mitten in den Planungen für die nächste Expedition: 2013 will er noch einmal den höchsten Berg der Welt in die höchste Forschungsstation verwandeln. Diesmal mit dabei: Zwillingspaare, ältere Kinder und Sherpas, die die Höhenmedizin vielleicht wieder einen Schritt voranbringen. Auch Rolf und Astrid Heikamp zieht es wieder in die Höhe. Nicht, weil sie Rekorde brechen oder ihre Grenzen austesten möchten. Astrid Heikamp:

    "Die Berge bei strahlendem Sonnenschein. Wir hatten traumhaftes Wetter. Wirklich nur da zu stehen, nichts zu machen und zu genießen. Ich muss da nicht auf jeden Gipfel hochkraxeln können. Einfach nur da zu stehen und es in sich hineinzusaugen... Das war schön."