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Manuskript: Hirngespinste

Über eine Milliarde Euro werden auf Initiative der Europäischen Union bereitgestellt, um das "Human Brain Project" zu fördern. Das ehrgeizige Ziel des Vorhabens: Supercomputer der neuesten Generation sollen die Arbeit des Gehirns simulieren – inklusive der Aktivität von über 100 Milliarden Nervenzellen. Doch das Projekt stößt auch auf Kritik.

Von Michael Lange | 14.04.2013
    Es wiegt gerade einmal 1,4 Kilogramm und passt in einen Schuhkarton. Und dennoch gilt es als genialste Entwicklung der Natur. Ein riesiges Netzwerk aus 100 Milliarden Nervenzellen, verknüpft über annähernd 100 Billionen Kontaktstellen: Das menschliche Gehirn.

    "Wir sind uns selbst fremd, weil wir unser Gehirn nicht verstehen. Es schleudert uns herum, wie ein wildes Pferd. Wir sind ihm ausgeliefert."

    Henry Markram, der Kopf des Human Brain Projects. 1,2 Milliarden Euro europäisches Forschungsgeld sollen helfen, dem Gehirn seine Geheimnisse zu entreißen.

    "Tieferes Verständnis unseres Gehirns auf grundlegender Ebene wird eine gewaltige Auswirkung haben auf die Gesellschaft."

    Hirngespinst. Von Forschern, die auszogen, das Denken zu simulieren
    Eine Sendung von Michael Lange.



    Wer über das Human Brain Project berichten will, kommt an Henry Markram nicht vorbei. Der Schweizer "Tagesanzeiger" nennt ihn:

    "Einen Reisenden durch den Kosmos des menschlichen Gehirns."

    Und die "Wochenzeitung", ebenfalls aus der Schweiz, schreibt:

    "Ist er ein Scharlatan, ein Guru oder ein verkanntes Genie?"

    Markram stammt aus Südafrika, ist israelischer Staatsbürger und fünffacher Vater. Seine zweite Frau ist ebenfalls Neurowissenschaftlerin, ein Sohn aus erster Ehe leidet an Autismus. Seit über zehn Jahren leitet er an der Technischen Hochschule von Lausanne in der Schweiz das Brain Mind Institute.

    Das Gehirn – Geist – Institut.

    Das alles erfahre ich aus Zeitungsberichten, über den Mann der soeben den Forscher-Jackpot gewonnen hat. Das von ihm initiierte Human Brain Project soll in den nächsten zehn Jahren 1,2 Milliarden Euro erhalten. Damit gehört es zu den größten Forschungsprojekten aller Zeiten - gleich hinter der Mondlandung oder dem Human Genom Projekt.

    "Unser Ziel ist die Simulation des menschlichen Gehirns innerhalb von zehn Jahren",

    erklärt Henry Markram in einem Interview, das als Video im Internet betrachtet werden kann. Befragt wird er von der EU-Kommissarin Neelie Kroes. Die Stellvertreterin von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso wirkt euphorisch.

    Unglaublich komplex und ambitioniert ist es in der Tat, was Henry Markram hier vorhat. Er schlägt die Beine übereinander und lächelt.

    "Das ist ein großes Risiko. Aber wir sind so leidenschaftlich, dass es funktionieren muss. Es muss geschehen und zwar jetzt. Die neue Technologie steht bereit. Mit ihrer Hilfe können wir es schaffen."

    "Wir wollen ein CERN für das Gehirn aufbauen. Wir brauchen dazu weltweite Zusammenarbeit. Eine gewaltige Kraftanstrengung, um das Gehirn zu verstehen."

    In der Schweiz soll ein neues Forschungszentrum entstehen. Heißen soll es: Neuropolis.

    In Lausanne werden die Fäden zusammen laufen, die Forschung findet an verschiedenen Standorten statt. Etwa 80 Arbeitsgruppen sollen beim Human Brain Project mitmachen, die meisten aus Europa. Die Schweiz gehört in Forschungsfragen als voll zahlendes Mitglied zum Forschungsrahmenprogramm der EU. Weitere Partner kommen aus Israel und den USA.

    "Wir müssen alle Daten zusammenfügen. Alles Wissen, das in 200 Jahren Neurowissenschaft zusammengetragen wurde."

    Aber nicht alle Neurowissenschaftler und Hirnforscher haben sich von Henry Markrams Begeisterung anstecken lassen. Um das herauszufinden, reichen mir einige Telefongespräche. Da fallen Worte wie Größenwahn, Milliardengrab, Sackgasse.

    Und sogar: Hybris ohne gleichen.

    Skepsis gegenüber einem milliardenschweren Forschungsprogramm für die eigene Zunft. Das ist bemerkenswert. Schließlich fordern gerade die Hirnforscher lautstark immer wieder mehr Fördermittel.

    "Also ich denke, es ist sehr gut, dass die Notwendigkeit, die Hirnforschung massiv zu intensivieren, dass die erkannt ist."

    Christian Elger leitet die Klinik für Epileptologie, und er ist ein gestandener Hirnforscher. Immer wieder wendet er sich an öffentliche und private Geldgeber, um die Hirnforschung voranzubringen.

    "Das Wissen über das Gehirn ist sehr verteilt. Und die grundsätzliche Idee, das nun zusammenzutragen, ist eine gute Idee. Das Problem ist, dass die Qualität dieses Wissens sehr unterschiedlich ist. Da wird eine höchstwertige Untersuchung heruntergebrochen auf eine niederwertige, und beides wird zusammengelegt. In der Wissenschaft gibt es den Spruch: Garbage in, garbage out. Also Müll hinein, dann kommt auch Müll heraus."

    Unsere alternde Gesellschaft muss mehr tun, um Gehirnkrankheiten zu verhindern und zu bekämpfen, davon sind Christian Elger wie Henry Markram gleichermaßen überzeugt. Aber Markrams Vision von der großen Gehirnsimulation im Computer will Christian Elger nicht folgen.

    "Aus meiner Sicht ist es ein Jahrzehnt, vielleicht auch zwei Jahrzehnte zu früh. Vielleicht geht es auch überhaupt nicht. Denn im Gegensatz zum Computer zeigt das Gehirn eine unglaubliche Komplexität und auch Variabilität."
    Die Grundeinheiten des Gehirns sind Nervenzellen. Über Hunderte Synapsen ist jede von ihnen mit anderen Nervenzellen verbunden. Diese Kontakte können sich lösen oder neu knüpfen.

    "Das Gehirn hat eine ungeahnte Komplexität. Und diese ungeahnte Komplexität hat auch noch eine zeitliche Flexibilität. Das heißt: Dinge ändern sich zum Teil recht schnell, innerhalb von Stunden. Andere Dinge ändern sich im Laufe der Entwicklung des Menschen. Dieses alles heraus zu bekommen auf einer Ebene von 100 Milliarden Nervenzellen, die untereinander Billionen von Kontakten haben, da kann ich mir nicht vorstellen, dass man das herausbekommen kann, dass da irgendetwas in etwas Sinnvolles umsetzbar ist."

    Um mehr über das Human Brain Project und das simulierte Gehirn zu erfahren, fahre ich nach Jülich. Das dortige Forschungszentrum ist mit 3000 Mitarbeitern eines der größten in Europa. Der Campus liegt mitten in der rheinischen Tiefebene, im Zuckerrübenland zwischen Köln, Aachen und Mönchengladbach. Mit acht beteiligten Teams ist Jülich der wichtigste Standort des Human Brain Projects noch vor London, Paris, Berlin und Lausanne.

    Ich treffe Katrin Amunts, Neurowissenschaftlerin am Forschungszentrum Jülich und Professorin für Hirnforschung an der Universität Düsseldorf. Sie kommt gerade von einer Besprechung mit den Computerexperten. Das sei anstrengend gewesen, aber sehr wichtig, sagt sie.

    "Als Neurowissenschaftlerin möchte ich das Gehirn verstehen. Das ist mein oberstes Ziel. Und die Entwicklung in den nächsten Jahren zeigt immer deutlicher, dass dieses umfassende Verständnis des Gehirns eben genau diese Supercomputertechnik benötigt. Da führt kein Weg mehr dran vorbei. Man kann heute keine Hirnforschung mehr betreiben und nur an seinem Laptop sitzen."

    Auf ihrem Laptop hat Karim Amunts als gelernte Anatomin viele Bilder des Gehirns gespeichert. Ihr Forschungsthema ist seine Feinstruktur. Dabei geht es nicht nur um Zentimeter große Regionen, wie sie durch moderne Großgeräte sichtbar gemacht werden. Es geht auch um kleine Regionen im Mikrometerbereich. Das sind tausendstel Millimeter.

    "Wir entwickeln einen mikrostrukturellen Atlas basierend auf der Kartierung von Gehirnen von Verstorbenen. Diese Karten rekonstruieren wir dreidimensional. Die haben eine sehr hohe räumliche Auflösung. Wir können die unter dem Mikroskop anschauen, die verschiedenen Gewebeschnitte, die wir haben. Und wir bringen dann diese Information zusammen mit der funktionellen Information, die wir aus dem Kernspintomografen von lebenden Probanden bekommen."

    Das Human Brain Project will die verschiedenen Größenordnungen in einem 3D-Modell im Computer zusammenführen: Die Nervenzellen im Mikrometerbereich mit den großen Regionen im Zentimeterbereich. Im Computer können die Forscher dann Aktivitäten des Gehirns nachspielen. Das ist die eigentliche Simulation. Dazu müssen sie zunächst den Aufbau des Gehirns in allen Einzelheiten kennen. Sie müssen wissen, welchen Weg elektrische Signale nehmen, von Zelle zu Zelle und von Areal zu Areal. Denn diese Signale sind es, die das Gehirn denken lassen. Ohne dass bislang die Bedeutung der einzelnen Nervensignale bekannt wäre, will die Hirnsimulation die Signale nachahmen.

    "Ich stelle mir das so vor, dass wir nach zehn Jahren ein Verständnis dafür haben können, warum bestimmte Hirnregionen in einer Art und Weise aufgebaut sind, die es ihnen eben ermöglicht, Verhalten oder kognitive Funktionen zu machen. Warum ist ein Areal, das Motorik, also Bewegung, steuert, so aufgebaut und nicht anderes? Was unterscheidet das von einem Seh-Areal? Was sind wirklich die biologischen Mechanismen? Was ist der biologische Code, der dahintersteht, eine kognitive oder emotionale Reaktion im Gehirn zu realisieren?"
    Die Simulation eines menschlichen Gehirns ist nicht das Ziel, sondern ein Schritt zum besseren Verständnis unseres Denkorgans, betont Katrin Amunts. Letztlich gehe es um Parkinson, Alzheimer oder Schlaganfälle. Wenn die Wissenschaft das Gehirn besser verstehe, könne Patienten besser geholfen werden. Das ist Katrin Amunts wichtig.

    Mich aber zieht es zur Technik. Ich will wissen, wie ein solcher Supercomputer aussieht, der menschliche Denkvorgänge simulieren soll. Denn eines ist klar: Ohne Supercomputer wäre Jülich nicht eines der Zentren des Human Brain Projects.

    "Das ist eine Schleuse, die wir hier jetzt durchqueren."

    Norbert Attig, der stellvertretender Leiter des Supercomputerzentrums, führt mich in eine Maschinenhalle. Nebeneinander stehen dort etliche zwei Meter hohe dunkle Schränke.

    "Wir stehen hier vor Juqueen, dem derzeit leistungsstärksten Rechner Europas. Er besteht aus insgesamt 28 telefonzellengroßen Schränken, die zusammen eine Einheit bilden. In diesem System sind insgesamt 450.000 Rechenkerne verbaut. Und diese Rechenkerne arbeiten an großen Programmen. Und es ist unsere Herausforderung, möglichst viele Rechenkerne an einem einzigen Programm arbeiten zu lassen."

    Zurzeit beschäftigt sich Juqueen mit Plasmaphysik, Proteinfaltung, Klimaforschung und anderen Dingen. Alles gleichzeitig. Die Forscher programmieren, und Juqueen rechnet.

    "Bei der Leistungsfähigkeit könnte man ungefähr sagen, dass dieses System, was vor uns steht, in etwa 100.000 derzeitigen Durchschnitts-PCs entspricht. Und der Energieverbrauch liegt bei ungefähr zwei Megawatt."

    Etwa so viel, wie 200 Einfamilienhäuser. Und dennoch gilt Juqueen als besonders energieeffizient. Das zeigt der Vergleich mit dem Vorgänger Jugene, der noch vor wenigen Monaten an dieser Stelle stand.

    "Die Leistungsfähigkeit hat sich praktisch gegenüber dem Vorgängermodell um den Faktor sechs erhöht. Das ist erstmal die schiere Leistungsfähigkeit, wobei zu betonen ist, dass gleichzeitig der Energieverbrauch praktisch konstant geblieben ist. Das Vorgängermodell hat etwa 2,3 Megawatt verbraucht, dieses System hier zwei Megawatt."

    Noch spielt das Gehirn im Arbeitsprogramm von Juqueen eine untergeordnete Rolle. Das wird sich ändern mit dem Fortschreiten des Human Brain Projects. Hirnähnlicher wird Juqueen deswegen noch lange nicht, betont Norbert Attig, als wir die Maschinenhalle wieder verlassen.

    "Unser Gehirn kommt mit 20 Watt aus, und Juqueen braucht zwei Megawatt. Der andere Unterschied ist: Juqueen ist unglaublich schnell im Rechnen, viel schneller als alle Menschen auf der Welt zusammen. Aber es ist einfach dumm. Es hat keine eigene Intelligenz, sondern es macht einfach das, was wir ihm im Programm vorschreiben. Aber das sehr schnell."

    Und in zehn Jahren könnte in dieser Halle das simulierte menschliche Gehirn arbeiten. Man könnte auch sagen "denken".

    Allerdings nicht mit der Hardware von Juqueen, sondern im Nachfolgemodel. Oder wahrscheinlicher: Im Nachfolger vom Nachfolger.

    Diese zukünftigen Supercomputer werden voraussichtlich als sogenannte Exascale-Systeme 1000 Mal schneller arbeiten als heutige Supercomputer. Aber es werden immer noch Computer sein, die ihre Informationen digital verarbeiten, in einem binären Code aus Nullen und Einsen. Sie werden nicht lernfähig sein, und ihre Arbeitsweise wird ganz anders sein, als die eines Gehirns.

    Um Computer dazu zu bringen, wie Gehirne zu arbeiten, ist eine spezielle Simulations-Software notwendig. Entwickelt wird sie von spezialisierten Neurowissenschaftlern, Informatikern, Mathematikern und Physikern. Scherzhaft auch genannt: Die Simulanten.

    Um sie zu treffen, fahre ich nach Freiburg zu einer Tagung, organisiert vom Bernstein-Zentrum für Computer Neurowissenschaften. Beim Weg zu Fuß durch das Universitäts-Viertel komme ich am Herder-Verlag vorbei. In großen goldenen Buchstaben steht dort über dem Portal:

    "Geist schafft Leben"

    Ein Zitat aus dem Johannes-Evangelium. Eine theologische Aussage. Biologisch gesehen ist es umgekehrt.

    Leben schafft Geist.

    Und wie aus Signalen von 100 Milliarden lebender Nervenzellen Geist entsteht, das wollen die Neurowissenschaftler nun also endlich herausfinden. ]

    "Der Ausgangspunkt jedes Naturwissenschaftlers ist, und das muss auch so sein, dass die Hardware, das Substrat, was unser Gehirn ausmacht, alle Funktionen des lebendigen Menschen hervorbringt, und letztlich auch das, was wir Geist oder Bewusstsein nennen."

    Der Leiter des Bernstein-Zentrums Stefan Rotter hat die Tagung in Freiburg organisiert. Sie bringt Teilnehmer des Human Brain Projects und Außenstehende zusammen. Befürworter und Gegner der großen Simulation.

    "Komplexe Gedanken und Gefühle zurückzuführen auf die Aktivität einzelner Nervenzellen, dürfte eine wissenschaftliche Leistung sein, die nicht im Laufe der nächsten zehn Jahre zu erreichen ist, sondern ich denke, da wird eher eine Zeit in der Größenordnung von 100 Jahren vergehen, dass diese Hierarchie von Abstraktion wirklich verstanden wird."

    Warum viele Neurocomputerwissenschaftler so vorsichtig sind, hat mit einem Begriff zu tun, den viele Experten nur ungern aussprechen. Dabei handelte es sich einst um ein Modewort:
    Künstliche Intelligenz.

    "Die klassische AI, also artificial intelligence, oder künstliche Intelligenz, ist tatsächlich etwas, was unter Hirnforschern keinen guten Ruf mehr hat, aufgrund der – ja, ich würde sie schon Misserfolge nennen – in den 80er- und 90er-Jahren, damit wesentliche Funktionen des Gehirns zu erklären."

    Inzwischen hat sich die Herangehensweise grundlegend verändert. Ging es bei der künstlichen Intelligenz noch um Nachahmung von intelligentem Verhalten durch einfache Software, sollen nun die Prinzipien des Nervensystems analysiert und von Grund auf nachgebaut werden. In Forscherkreisen heißt das:

    Von unten nach oben. Dabei geht es allerdings nicht um das Innere oder die Arbeitsweise von Nervenzellen, ihre Gene, Proteine oder die Botenstoffe, die sie produzieren. Die Biochemie bleibt außen vor. Was die "Simulanten" zu Grunde legen, sind vielmehr die elektrischen Erregungen, die von den Nervenzellen ausgehen und sich entlang der Fasern ausbreiten: die Aktionspotenziale. Dabei gibt es nur ein "ja" oder "nein" – wie im Computer null oder eins. Die Wege dieser Signale im Netzwerk wollen sie nachstellen, nicht aber ihr Entstehen. Das Modell ist ambitioniert, aber immer noch stark vereinfachend.

    In einem früheren Projekt hatte das Team um Henry Markram die Aktionspotenziale schon einmal simuliert - dem Blue Brain Project.

    Nachgespielt hatten die Forscher die Zusammenarbeit von 10.000 Nervenzellen in einem kleinen Ausschnitt des Rattengehirns. Das Ergebnis blieb umstritten. Vielleicht auch deshalb, weil kein ganzes Gehirn im Computer simuliert wurde. Nun richten sich viele Erwartungen auf die große Simulation des menschlichen Gehirns. Stefan Rotter aber bleibt zurückhaltend.

    "Es wird schon möglich sein, Teilfragen zu beantworten, Teilsysteme zutreffend zu simulieren und Vorhersagen zu machen, für bestimmte Fehlfunktionen des Gehirns. Aber das Gehirn als Ganzes mit all seinen Funktionen von morgens Aufstehen, über das Mittagessen bis abends Nachrichtengucken und dann ins Bett gehen, das scheint nicht möglich zu sein. Das scheint mir insgesamt weit jenseits der gegenwärtigen Möglichkeiten zu sein."

    Auf der Tagung in Freiburg wird viel diskutiert. Möglicherweise wird es in zehn Jahren wirklich eine Simulation des menschlichen Gehirns geben, aber ob sie der Wirklichkeit entspricht? Das ist die große Frage. Der erste Schritt muss jetzt getan werden, sagen die Vertreter der Human Brain Projects. Aber sie können nicht alle überzeugen. Ad Aertsen vom Freiburger Bernsteinzentrum:

    "Das Experiment hat die entscheidende Kraft, nicht die Simulation. Wichtig ist, dass ich das echte Gehirn verstehen möchte und nicht ein hoch komplexes Modell. Denn dann hat man nachher zwei Probleme: Das Gehirn, das man immer noch nicht verstanden hat, und ein Modell, das man dann auch nicht verstanden hat."

    Mit einer großen Simulation zu beginnen, bevor die Bedeutung der einzelnen Signale besser erforscht ist, ergibt aus seiner Sicht keinen Sinn.

    "Man kann nicht einfach sagen: Ich simuliere dies oder jenes. Wenn man so eine Simulation baut, dann muss man da Wissen hineinstecken. Man muss wissen, wie die Komponenten miteinander verknüpft sind, wie die mit einander reden. Das muss alles da rein kommen. Und wenn man das nicht richtig reintut, kommt natürlich nur Unsinn raus. Eine Simulation ist nur so gut bestenfalls, wie das Modell, das dahinter steckt."

    Je mehr ich mich mit dem Human Brain Project beschäftige, umso deutlicher wird: Das Projekt polarisiert. Es rüttelt auf.

    "Meine Position ist, dass wir noch nicht genug wissen. Und dass man damit Gefahr läuft, eine große Menge Geld relativ schnell zu verbrennen."

    Der Europäischen Union ist es gelungen, die Neurowissenschaften und die Computertechnik gleichermaßen in Erregung zu versetzen.
    Ausgegangen ist das alles von Brüssel, von der EU-Kommission.

    "Digitale Agenda" - dafür ist Neelie Kroes zuständig, die Stellvertreterin von Kommissionspräsident José Manuel Barroso. In ihren Bereich fällt alles, was mit Computern und Informationstechnik zu tun hat. Auch die Forschung in diesem Bereich. In einem riesigen Gebäude treffe ich Carl-Christian Buhr. Der Deutsche gehört zum Kabinett von Neelie Kroes und ist hier für die Förderung der Computertechnik zuständig.

    "Wir machen ein Großprojekt. Wir machen einen sehr sorgfältigen Auswahlprozess, um so etwas auf die Beine zu setzen. Wir müssen ambitioniert sein. Zehn Jahre, eine Milliarde, das hört sich ambitioniert an."

    Man wollte in Europa nicht immer in der zweiten Reihe stehen, wie bei der bemannten Raumfahrt, der Genom-Forschung oder in den Bereichen Computer und Mobilfunk. Die FED-Flaggschiffe sollen Neuland für die Computertechnik entdecken und erobern. In einer Vorauswahl wurden sechs Ideen identifiziert. Und eine unabhängige Jury wählte zwei Flaggschiff-Projekte aus.

    "Es gab Nobelpreisträger in diesem Gremium, es gab hochrangige Vertreter der Industrie, hochrangige Forscher und andere Experten aus den relevanten Bereichen. 25 Vertreter im Ganzen, die sich die sechs Vorschläge angeschaut haben, und zu diesem Ergebnis gekommen sind."

    Im Graphen-Projekt geht es darum, ein neues Material für künftige Rechner zu entwickeln. Im Human Brain Projekt sollen Computertechnik und Hirnforschung voneinander profitieren. Der 100-seitige Report nennt drei Schwerpunkte: Neurowissenschaft, Medizin, Zukünftige Computertechnik.

    Die Simulation ist also nur eines von zehn Forschungsfeldern des Projektes, erfahre ich.

    "Ich wage mal zu behaupten, dass der Erfolg oder Misserfolg dieses Projektes sich nicht nur daran bemisst, ob man in zehn Jahren etwas präsentieren kann, was von Außenstehenden als korrekter Nachbau oder als korrekte Simulation eines menschlichen Gehirns angesehen werden wird."

    Auch in den USA steht die Erforschung des Gehirns vor einem Boom. Über drei Milliarden sollen für eine Aktivitätskarte des Gehirns zur Verfügung gestellt werden. Die Brain Activity Map. Wegen der Fürsprache des amerikanischen Präsidenten auch genannt: Obama-Brain.

    Bei der Europäischen Union sieht man das amerikanische Projekt nicht als Konkurrenz, eher als Ergänzung. Jeder konzentriert sich auf seine Stärken. In den USA stehen Molekular- und Zellbiologie im Vordergrund. In Europa dagegen gehe es mindestens so sehr um Computer, wie um das Gehirn, so Buhr. Auf der Suche nach der Computertechnik von Morgen soll das menschliche Gehirn entscheidende Impulse geben. So gesehen sei die Hirnforschung eine Hilfswissenschaft für die Computertechnik.

    Vielleicht erklärt das die Skepsis vieler Neurowissenschaftler gegenüber dem Human Brain Project. Für die eigene Zunft erwarten sie keinen Durchbruch, und viele würden das Geld gerne anders einsetzen.

    Die Computerexperten hingegen bekommen leuchtende Augen. Sie erwarten einen Schub durch die Fördermillionen aus Brüssel. Mehr Geld für Supercomputer und neue Ideen für die Informationstechnik der Zukunft.

    "Wir wissen alle, dass das Gehirn unglaubliche Eigenschaften hat, die wir gerne auch in künstlichen Systemen sähen."

    Der Mann hinter Henry Markram ist der Physiker Karlheinz Meier, der stellvertretende Sprecher des Projektes. Ich treffe ihn im Kirchhoff-Institut für Physik an der Universität Heidelberg. Auf dem Rasen vor dem Institut stehen rote mannshohe Buchstaben aus Metall: "Dem lebendigen Geist".

    Karlheinz Meier entwickelt neuromorphe Computer-Chips. Auch seine Ideen werden nun zum gut geförderten Unterprojekt des Human Brain Projects. Er und sein Team gehen einen Schritt weiter als die Gehirnsimulanten. Sie verändern nicht nur die Software, sondern auch die Hardware des Computers.

    Kondensatoren treten an die Stelle der Nervenzellen. Sie produzieren die elektrischen Impulse. Transistoren ahmen die Synapsen nach. Die Leitungsbahnen dazwischen bestehen – wie in Computern üblich – aus Silizium. So entstehen neuromorphe Computerchips, die ähnlich arbeiten wie ein Nervensystem. Sie verbinden analoge und digitale Elemente. Und was das wichtigste ist: Im Gegensatz zu den Simulationen im Superrechner sind sie lernfähig. Ihre Arbeitsweise entspricht somit einem Gehirn – zumindest teilweise.

    "Wir haben auf einem Wafer 200.000 Neurone. Und etwa 50 Millionen Synapsen. Sie sehen schon, dass die Synapsen, die gewissermaßen die Verbindung darstellen zwischen den Neuronen, in wesentlich höherer Stückzahl vorhanden sind. Das ist etwas, was man auch in der Biologie sieht, und das haben wir auf unserem System realisiert."

    Wie ein Gehirn brauchen die neuromorphen Chips viel weniger Energie als heutige Computer. Und wenn ein paar Teile ausfallen, arbeitet das System zuverlässig weiter, wie ein Gehirn. Vor allem für die Robotertechnik ist das interessant. Deshalb werden in den USA ähnliche Konzepte in einem militärischen Forschungsprojekt verfolgt.

    "Wir bewegen uns im Moment auf dem Niveau eines typischen Insektengehirns. Also eine Biene, die ja ganz tolle Dinge tun kann, hat etwa eine Million Neuronen. Wir wollen in dem Human Brain Project wesentlich größere Zahlen hinbekommen. Also wir denken an etwas, was etwa bei zehn Prozent des menschlichen Gehirns liegt."

    Die neuromorphen Chips verknüpfen die Vorteile der Technik mit den Vorteilen der Biologie. Dabei sind sie 10.000 Mal schneller als natürliche Nervensysteme.

    "Und dieses System setzen wir einer Umwelt aus, einer simulierten Umwelt. Das heißt: wir simulieren einfach nur einen schwarzen Balken, der auf einem weißen Hintergrund liegt. Und unser System kann über einen Aktuator, einen simulierten Arm, diesen Balken verschieben. Und es kann über einen Sensor, also eine Softwarekopie des Sehsystems, sehen, wohin dieser Balken sich verschiebt. Das heißt: Der nimmt seinen virtuellen Arm, schiebt den Balken nach links und sieht: Der bewegt sich tatsächlich nach links."

    Der Computer muss nicht programmiert werden. Statt stur Algorithmen durchzurechnen, lernt er in einer virtuellen Welt.

    "Selbst wenn ich nur ein kleines Fitzelchen gehirninspirierte Biologie verwende, dann kann ich damit neue Methoden der Informationsverarbeitung machen. Und meine Vorhersage ist: Je mehr wir Kenntnis der Biologie in unsere Systeme stecken, desto leistungsfähiger werden die Systeme werden und sich den Fähigkeiten unseres Gehirns annähern. Ob wir in zehn Jahren eine komplette Kopie haben, bezweifele ich. Meine persönliche Vorhersage ist, dass das nicht der Fall sein wird. Aber wir werden wirklich fundamental neue Methoden haben."

    In den nächsten zehn Jahren soll eine Recheneinheit entstehen nach dem Vorbild des menschlichen Gehirns. Und irgendwann vielleicht ein menschlicher Computer. Keine bruchstückhafte Simulation, ein wirkliches Gehirn im Rechner. Doch der Weg ist noch beruhigend weit, zu einem Geschöpf mit eigenen Gedanken, Wünschen und Ängsten, wie im Science Fiction-Klassiker "2001 – Odyssee im Weltraum". Als schließlich der Computer HAL sich bedroht fühlt und die Astronauten aus ihrem Raumschiff aussperrt.

    "Öffne das Gondelschleusentor, HAL."



    Sie hörten:

    "Hirngespinst. Von Forschern, die auszogen, das Denken zu simulieren"

    Eine Sendung von Michael Lange.

    Produktion: Axel Scheibchen
    Redaktion: Christiane Knoll