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Manuskript: Preisrevolution

Mehrere Tausend Euro im Monat kostet das Medikament, das der krebskranke Wolfgang B. bekommt. Ob es sein Leben verlängert oder nur sein Leiden, kann allerdings niemand sagen. B. hat Nierenkrebs in fortgeschrittenem Stadium. Bis vor wenigen Jahren gab es für Patienten wie ihn kaum Behandlungsmöglichkeiten. Doch seit 2006 sind mehr als ein halbes Dutzend neue, teure Medikamente auf den Markt gekommen. Über ihren Nutzen wird gestritten. Die Kriterien, nach denen Fortschritte in der Krebstherapie beurteilt werden, sind in die Diskussion geraten.

Von Martina Keller | 27.01.2013
    Wolfgang Behling: "Ich werde jetzt meine Untersuchung haben, und ist natürlich erst mal ein Hoffen da: Hoffentlich wirkt es, hoffentlich wirkt es möglichst lang, wenn es denn schon wirkt. Aber: Ich weiß nicht, ob es wirkt."

    Die Hoffnung – für Wolfgang Behling hat sie die Farbe Weiß und ist in Form einer Tablette in sein Leben gekommen. Afinitor heißt das Medikament, das er einnimmt, zehn Milligramm täglich, seit fünf Monaten schon. Eine Zeit, für die Behling dankbar ist, weil keine Woche und kein Tag mehr selbstverständlich sind für ihn, seit dieser Diagnose: Nierenkrebs im fortgeschrittenen Stadium.

    "Irgendwann wird es wiederkommen, weil es ist ja immer nur ein Aufschub, man ist nicht geheilt, das Präparat schiebt das nur ein bisschen in eine andere Richtung, von der Größenordnung her: Summe x an Tagen, und irgendwann wird es halt kommen."

    Behling ist die Krankheit kaum anzusehen. Er ist ein schlanker, aber nicht dürrer Mann mit vollem weißen Haar. Im Wohnzimmer seines Einfamilienhauses sitzt er in einer ausgepolsterten Fensternische und schaut in den Garten. Hier hat er vor zwei Jahren seinen 50. Geburtstag gefeiert, mit einem großen Feuerwerk. Ein Nachbar rief wegen des Lärms die Polizei, aber Behling war das egal. Ein Jahr älter war er geworden, das musste gefeiert werden.

    "Es gibt ja keinen Tag, wo man nicht an die Krankheit denkt und auch genau weiß, man wird daran irgendwann sterben. Weil es geht ja nicht darum, ob ich an dieser Krankheit sterben werde, sondern nur wann, weil schulmedizinisch gibt es ja momentan noch keine Heilung für dieses Problem."

    Durchschnittlich lebt man mit Wolfgang Behlings Diagnose nicht länger als 15 Monate. Behling ist jetzt in seinem siebten Jahr. Im September 2012 hat er mit seiner Frau den 30. Hochzeitstag gefeiert. Er war dabei, als seine Tochter 18 wurde. Er möchte ihre Abiturfeier im Mai erleben. Es gäbe noch so vieles ... Die Horizontlinie seiner Planungen reicht nicht weit in die Zukunft wie bei anderen Männern seines Alters, die sich mitten im Leben wähnen. Dass er überhaupt noch planen kann, davon ist Behling überzeugt, ist auch den neuartigen Medikamenten gegen den Nierenkrebs zu verdanken.

    "Ich habe die Hoffnung, dass das Präparat, was ich einnehmen werde, egal welches das nun sein mag, wirkt und einen gewissen Aufschub an Lebenszeit mit sich bringt, und innerhalb dieses Aufschub ist es ja durchaus möglich, dass die Schulmedizin etwas erfindet, herausbekommt, was einem dann auch wieder helfen könnte."

    Nierenkrebs ist eine tückische Krankheit. Lange Zeit hatten die Ärzte ihren Patienten im fortgeschrittenen Stadium kaum etwas anbieten können. Dann kamen innerhalb kurzer Zeit gleich sechs neue Medikamente auf den Markt, Afinitor ist eines davon. Ein siebtes Präparat folgte 2012, ein achtes steht vor der Zulassung. Die Mittel setzen an "Schaltern" in der Zelle an, die für die Krebsentwicklung wichtig sind, man spricht deshalb von "gezielten Therapien". Dank dieser Mittel sei die Behandlung revolutioniert worden, schwärmen manche Krebsexperten – dankbar, dass sie ihren verzweifelten Patienten endlich etwas verschreiben können. Doch nicht alle Onkologen, also Fachärzte für Krebsleiden, teilen die Euphorie.

    "Wenn man über die begeisterte Presse ein wenig hinausguckt, ist es eben so, dass trotz der vielen neuen Mechanismen die Krankheit nicht heilbarer geworden ist."

    Sebastian Fetscher ist Chefarzt an den Sana-Kliniken Lübeck. Außerdem leitet er die Arbeitsgruppe Onkologie bei der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft.

    "Mich stört am allermeisten als Onkologe die Diskrepanz zwischen der Tonlage, den zwischen den Zeilen stehenden Versprechungen und der Wirklichkeit dieser Erkrankung, die auch heute noch nicht so viel schöner ist als vor zehn Jahren. Die ist infaust im metastasierten Stadium, die Patienten leiden entsetzlich, kriegen eine Menge schwerer Komplikationen, haben auch unbehandelt … manchmal einen sehr unberechenbaren Verlauf – das hat sich alles wenig geändert. Geändert hat sich eben die Messbarkeit von vielen Effekten und das Verständnis, was an der Tumorzelle dieser Krankheit genutzt werden kann, um sie zu behandeln, aber nichts davon ist kurativ. Also, wir haben verschiedene Schlüssel zu den äußeren Türen dieser Festung gefunden, aber in das Zentrum der Festung sind wir niemals eingedrungen."

    16.000 bis 17.000 Menschen erkranken jährlich neu an Nierenkrebs, 7000 entwickeln Metastasen oder haben sie bereits zum Zeitpunkt der ersten Diagnose. Fetscher:

    "In Deutschland sind es, glaube ich, im Jahr 6000 Patienten.Wenn Sie so wollen, es ist ein brachliegender Markt, die Patienten sind da, die metastasierte Situation ist bei vielen da, wir haben natürlich auch einen Therapiebedarf, auch einen Therapiewunsch, und dann hat man Medikamente entdeckt, um diesen Markt zu bedienen, und dann hat man aus dieser Krankheit, denke ich, in einem System, das kapitalistisch funktioniert, in relativ kurzer Zeit einen ungeheuren Umsatz gemacht."

    Die Hersteller lassen sich die neuen Medikamente teuer bezahlen. Für jede Monatspackung Afinitor gibt Wolfgang Behlings Krankenkasse rund 4000 Euro aus. Das sind fast 50.000 Euro pro Jahr. Und Afinitor ist keine Ausnahme. Es gibt Krebsmedikamente, die noch teurer sind.

    "In den USA kommen die meisten neuen Behandlungen auf 5000 bis 10.000 Dollar im Monat, in sechs Monaten sind das leicht 50.000 bis 100.000 Dollar für die neue Behandlung, das ist viel Geld in den USA. Das ist auch viel Geld in Deutschland, oder?"

    Tito Fojo ist Senior Researcher am Nationalen Krebsinstitut der USA. Er leitet die Abteilung für Experimentelle Therapien.

    "Die meisten von uns würden sagen, es ist OK, viel Geld zu bezahlen für ein Medikament, das Krebs heilt. Wenn eine Firma mit einer Heilungschance für eine Krebserkrankung daherkommt, egal welche, würden die meisten Menschen sagen, das ist viel Geld wert. Wenn ein Medikament das Leben nur zwei Wochen verlängert, würden die meisten sagen: Das ist nicht viel Geld wert. Es ist etwas wert, aber nicht viel Geld. Das Problem ist: Manchmal zahlen wir eine Menge Geld für Medikamente, die wirklich nicht sehr wirksam sind."

    Durchbrüche in der Krebsbehandlung sind selten, denn der Krebs ähnelt dem Typhon, jenem Ungeheuer aus der griechischen Sagenwelt, das 100 Schlangenköpfe besitzen soll. Ähnlich vielfältig sind die krebsauslösenden Veränderungen im Genom von Tumorzellen. Gegen sie ein Mittel zu finden ist schwierig. Spektakuläre Behandlungserfolge wie bei der Kinderleukämie liegen teils Jahrzehnte zurück. Krebszellen sind hoch flexibel, können auf Angriffe reagieren und Blockaden umgehen. Deshalb stagniert der Kampf gegen den Krebs, trotz großer Fortschritte in der Grundlagenforschung. Die neuen gezielten Krebstherapien können einen einzigen Durchbruch vorweisen, in der Behandlung der chronischen myeloischen Leukämie. Hinzu kommen Fortschritte, etwa bei Brustkrebs, Hautkrebs oder beim nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinom. Die meisten Resultate sind jedoch bescheiden – und Pharmafirmen verkaufen sie dennoch als Erfolg. Die Frage in nur, was man als Erfolg definiert. Tito Fojo ist ein Trend aufgefallen, den man auch an den sieben Mitteln gegen Nierenkrebs ablesen kann: Für die große Mehrzahl der neu zugelassenen Krebsmedikamente ist nicht bewiesen, dass sie tatsächlich das Leben der Patienten verlängern. Der Grund: Die Hersteller legen ihre Studien auf ein schnell überprüfbares Zwischenziel aus, einen so genannten Ersatzparameter: das progressionsfreie Überleben. Fojo:

    "Das ist eine von vielen Möglichkeiten, Krebsmedikamente zu bewerten, … Sie besagt, wie lange es dauert, bis der Krebs des Patienten bis zu einem bestimmten Punkt fortgeschritten ist - dieser Punkt wird im voraus definiert. Nehmen wir an, ein Wachstum von 20 Prozent wird als Fortschreiten der Krebserkrankung betrachtet. Wenn man also einen Tumor hat, der einen Zentimeter groß ist, und bei der nächsten Kontrolle ist er 1,22 Zentimeter, dann ist das mehr als 20 Prozent und somit ein Krankheitsfortschritt. Am liebsten hätten wir natürlich, dass ein Tumor überhaupt nicht mehr wächst oder sogar verschwindet, aber in der Mehrzahl der Fälle ist das schwer zu erreichen. Also will man das Wachstum des Tumors, solange wie möglich hinausschieben. Aber ist das Hinausschieben ein echter Nutzen? Das ist es nur dann, wenn am Ende die Gesamtüberlebenszeit verlängert wurde. Wenn nicht, ist es nur eine Messweise, die man gewählt hat, aber nichts, was dem Patienten viel bringt. Wenn aber ein Mittel weder das Leben eines Patienten verlängert noch sein Befinden verbessert hat, was soll das dann überhaupt aussagen?"

    Für Afinitor existiert eine recht prägnante Marketingaussage. Der Schweizer Pharmakonzern Novartis gab auch einen kurzen Trickfilm in Auftrag, um den Fortschritt in der Behandlung darzustellen. In der Animation rollt ein kraftloser Schnellzug an einem Bahnhof aus. Die Passagiere steigen in den goldgelben Afinitor-Zug auf dem Gleis gegenüber um – und der fährt sie in ein Land ohne Grenzen. Bewiesene Wirksamkeit, so das Werbeversprechen: Nimm den Afinitor-Zug!
    "Ich finde die Form der Reklame einfach geschmacklos, um es klar zu sagen…"

    Wolf-Dieter Ludwig ist Chefarzt am Helios-Klinikum Berlin-Buch und der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft.

    "… weil wir ganz genau wissen, dass es kein Hochgeschwindigkeitszug ist, in den man umsteigt, sondern wenn überhaupt eine Regionalbahn, die einem vielleicht noch wenige Wochen oder Monate in der Situation bringt."

    Der Nutzen von Afinitor sei wie der von vielen anderen Krebsmedikamenten völlig unzureichend belegt, sagt Ludwig, die Preise nennt er "schlicht obszön". Ludwig ist nicht der einzige Arzt, der die Praktiken der Firmen kritisiert. Er gehört zu einer kleinen, aber wachsenden Gruppe kompetenter Krebsmediziner, die sich freier äußern können als andere, weil sie von der Pharmaindustrie unabhängig sind – beispielsweise keine Honorare von Konzernen beziehen. Wie Ludwig denken auch der Lübecker Onkologe Fetscher, Arnold Ganser, Klinikdirektor an der Medizinischen Hochschule Hannover und Axel Heyll, Leiter des Kompetenz-Zentrums Onkologie der Medizinischen Dienste in Düsseldorf. Die Geschichte von Afinitor hatte vielversprechend begonnen, auf Rapa Nui, der Osterinsel im südöstlichen Pazifik. In den 60er-Jahren nahm ein Forscherteam aus Kanada dort Bodenproben. Aus einer der Proben wurde die Vorläufersubstanz von Afinitor isoliert. Nach ihrem Fundort Rapa Nui nannte man sie Rapamycin. Schon früh erkannte man, dass Rapamycin gegen Krebszellen wirkte. Doch erst neue Erkenntnisse in der Tumorbiologie überzeugten die Novartis-Manager 2002, Rapamycin als Krebsmedikament zu erforschen.

    Normalerweise findet man in der Medikamentenentwicklung ein Eiweiß und versucht es zu hemmen.

    David Lebwohl leitet das weltweite Afinitor-Programm bei Novartis. Der Konzern hat untersagt, das aufgezeichnete Interview im Radio zu senden. Lebwohls Erklärung wird deshalb nachgesprochen.

    Hier war es umgekehrt. Mit Rapamycin hatte man einen Stoff gefunden, der ein bestimmtes Molekül hemmte, das am Ende -tor genannt wurde - Target of Rapamycin.

    Target of Rapamycin heißt so viel wie Zielstruktur von Rapymycin. Wissenschaftler hatten herausgefunden, was in menschlichen Zellen passiert, wenn Nierengewebe hemmungslos zu wuchern beginnt: Insbesondere ein bestimmtes Eiweiß, das Wachstum und Vermehrung der Zellen regulieren hilft, ist dann im Übermaß vorhanden, und genau gegen dieses Eiweiß ist Rapamycin wirksam. Im Dezember 2006 startete Novartis die entscheidende Studie für die Zulassung von Afinitor – so nannte die Firma den von ihr entwickelten Rapamycin-Abkömmling. Mehr als 400 Patienten mit fortgeschrittenem Nierenkrebs nahmen an der Untersuchung teil, bei allen hatte zuvor ein anderes Medikament versagt. Zwei Drittel dieser Patienten bekamen das neue Mittel, ein Drittel Placebo, also ein Scheinmedikament. Novartis-Forscher Lebwohl erinnert sich an einen besonderen Moment.

    Das war, als das unabhängige Prüfkomitee sich zur Zwischenanalyse unserer Nierenzellstudie traf. Ich glaube, es war am 28. Februar 2008. Das Tolle war, dass die ganze Firma zu einem Treffen mit dem Vorstand zusammengekommen war, so konnte ich ihnen die aufregende Nachricht persönlich überbringen: Das Komitee rief mich an und sagte: Ihr habt einen wirklich wichtigen Effekt für die Patienten gezeigt.

    Ein wirklich wichtiger Effekt? Afinitor hatte das Fortschreiten des Nierenkrebses um drei Monate hinausgeschoben, so das Ergebnis der Studie. Längst gilt das Medikament als potenzieller neuer Anti-Krebs-Bestseller. Novartis plant Großes mit Afinitor – eine weltweite Medikamentenkarriere. Nach der Zulassung für fortgeschrittenen Nierenkrebs wird Afinitor auch für andere Krebsarten erprobt, bei bestimmten Formen von fortgeschrittenem Brustkrebs und Bauchspeicheldrüsenkrebs darf es bereits eingesetzt werden. Die Schweizer Analystenfirma Helvea sagte Jahresumsätze von vier zu sechs Milliarden Dollar allein durch Afinitor voraus. Was aber ist für die Nierenkrebspatienten gewonnen? Leben sie länger, wenn ihre Krankheit unter der Behandlung mit Afinitor drei Monate länger Ruhe gibt?

    Wolf-Dieter Ludwig: "Dazu gibt es inzwischen eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben. Man kann sagen, die einzige Tumorerkrankung, für die es bisher in Studien gut gezeigt wurde, ist das metastasierte kolorektale Karzinom…"

    ...fortgeschrittener Darmkrebs also…

    "...dort hat man in der Tat gezeigt, dass das progressionsfreie Überleben ganz gut korreliert mit dem Gesamtüberleben. Bei allen anderen Tumorentitäten – Brustkrebs, Nierenzellkarzinom: überhaupt keine Daten bisher, das heißt Übereinstimmung von progressionsfreiem Überleben und Gesamtüberleben ist nicht gezeigt beim Nierenzellkarzinom."

    Es klingt wie ein Widerspruch: Wenn das Krebswachstum um einige Monate hinausgeschoben wird, heißt das noch nicht, dass die Patienten auch länger leben. Es existieren sogar Beispiele für das Gegenteil. Mitunter kämpfen Medikamente Krebszellen für einige Zeit nieder – dafür wachsen andere, besonders bösartige, anschließend umso schneller. Dem vorübergehenden Stillstand der Erkrankung folgt eine umso rasantere Verschlechterung, und die Menschen sterben womöglich sogar früher. Um hierzu mehr zu erfahren, hatte das wissenschaftliche Komitee der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA die Firma Novartis bei der Planung ihrer Nierenkrebsstudie beraten. Im Bewertungsbericht der EMA heißt es:

    Das Komitee betonte in seiner wissenschaftlichen Empfehlung, wie wichtig es wäre, einen Nutzen bei der Gesamtüberlebenszeit zu zeigen, und es hinterfragte die Entscheidung für das progressionsfreie Überleben als vorrangigen Endpunkt.

    Nach Auffassung der EMA sollte die Studie so angelegt werden, dass am Ende bewiesen wäre: Die Patienten leben mit Afinitor länger – oder eben nicht. Doch Novartis setzte sich über den Rat der Zulassungsbehörde hinweg – Firmen sind nicht gezwungen, ihn zu befolgen. Als nach einer Zwischenanalyse klar war, dass der Krebs unter Afinitor langsamer voranschreitet, brach das Unternehmen die Studie ab. Dennoch hat die EMA Afinitor zugelassen. Hält sich die Arzneimittelagentur nicht an ihre eigenen Empfehlungen?

    "Da war der klare Rat, und der besteht auch fort, prinzipiell sehen wir Cross-over Designs kritisch."

    Harald Enzmann war der deutsche Vertreter in dem EMA-Komitee, das über die Zulassung von Afinitor entschied. Er arbeitet seit 2002 beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Zuvor hatte er mehrere Jahre für den Bayer-Konzern geforscht.

    "Wenn jedoch eine Firma auf ihr eigenes Risiko gegen diesen Rat handelt und die Daten hinreichend belastbar sind und sie einen vernünftigen Fall präsentieren kann, der eine entsprechende Folgerung erlaubt, dann ist es doch unsinnig und auch für die Patienten schädlich, wenn man dann sagt: Nur weil wir anders geraten haben, egal, was die Firma gezeigt hat, bestehen wir auf aus formalistischen, ich würde fast sagen, rechthaberischen Gründen, darauf, das Präparat nicht zu akzeptieren."

    Ludwig, der Chef der Arzneimittelkommission, sieht das anders als der ehemalige Bayer-Mann.

    "Grundsätzlich ist es so, dass, wenn man in Onkologie, und das hat in den letzten Jahren ja deutlich zugenommen, Studien vorzeitig abbricht, wegen einer angeblich überlegenen Wirksamkeit, man es immer mit ethischen Gründen rechtfertigt. Genau das Gegenteil ist richtig: Wenn man eine Studie beginnt, bei der man nicht weiß, welcher der beiden Arme besser ist, und wenn man diese Studie vorzeitig abbricht, dann geht man das große Risiko ein, dass man die Wirksamkeit dieser Wirkstoffe eindeutig überschätzt, Risiken, die bei einer längeren Beobachtung auftreten, gar nicht mehr registrieren kann, und das Gesamtüberleben entfällt dann als Kriterium vollkommen."

    Für Patienten kann es gefährlich sein, wenn Zulassungsbehörden sich auf Ergebnisse zum progressionsfreien Überleben verlassen. Das zeigt ein Beispiel aus jüngerer Zeit, das Schlagzeilen machte: Die Firma Roche hatte in den USA die Zulassungserweiterung für ihr Medikament Avastin bei fortgeschrittenem Brustkrebs beantragt. Eine Studie hatte Hinweise auf einen möglichen Nutzen geliefert: Bei Patientinnen, die in Verbindung mit einer Chemotherapie Avastin bekamen, schritt die Krankheit sechs Monate später voran als bei Patientinnen, die nur die Chemotherapie erhielten. Die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA erteilte die Zulassungserweiterung für Avastin 2008 in einem so genannten beschleunigten Verfahren. Diese Variante der Zulassung soll neue Medikamente selbst bei dünner Datenlage möglichst früh verfügbar machen. Dafür muss der Hersteller jedoch Auflagen erfüllen: Roche beispielsweise sollte belegen, dass die Patientinnen infolge der Behandlung auch länger leben. 2010 lagen die Ergebnisse zweier Folgestudien vor. Tito Fojo fasst den neuen Wissensstand in Sachen Avastin zusammen:

    "Das ist ein Medikament, das das Fortschreiten der Erkrankung hinausgeschoben hat, aber offenbar keinen Effekt auf die Gesamt-Überlebenszeit hatte. Zugleich waren mit der Einnahme mit schweren Nebenwirkungen verbunden. Somit hat die FDA entschieden, es gibt keine Beweise, dass Avastin das Überleben verlängert, und nur das Fortschreiten hinauszuschieben rechtfertigt die Anwendung nicht, da das Präparat ja mit schweren Nebenwirkungen verbunden ist. Somit wurde die Zulassung widerrufen. "

    Die Entscheidung vom November 2011 ist durchaus im Sinne der Betroffenen. Fojo:

    "Die meisten Patientinnen würden wohl sagen, ich nehme alles auf mich, wenn es mich länger leben lässt. Aber die Patientinnen werden auch sagen: Ich nehme die Nebenwirkungen nicht auf mich, wenn das Mittel nur das Fortschreiten meiner Erkrankung aufhält – und ich sterbe zur selben Zeit."

    Die durch die Untersuchungen zu Tage geförderten Nebenwirkungen waren teils lebensbedrohlich: Frauen, die zusätzlich mit Avastin behandelt wurden, hatten ein erhöhtes Risiko, durch einen Schlaganfall oder eine Herzattacke zu sterben. Zudem war ihr Risiko, eine schwerwiegende Blutung zu erleiden, fünfmal höher als bei den Frauen, die lediglich die Chemotherapie bekommen hatten. Trotz dieser Gefährdungen ist die EMA dem Beispiel der Schwesterbehörde FDA nicht gefolgt. In Europa ist Avastin weiterhin für die Behandlung von fortgeschrittenem Brustkrebs zugelassen, wenn auch mit Einschränkungen. Das Äquivalent zum beschleunigten Verfahren heißt in Europa bedingte Vermarktungserlaubnis. Medikamente, die mit einer solchen Einschränkung zugelassen sind, sollen künftig immerhin ein schwarzes Symbol in der Packungsbeilage bekommen, so dass sie für Patienten leichter identifizierbar sind. Dem Chef der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, dem Onkologen Wolf-Dieter Ludwig, reicht das noch nicht.

    "Ich finde es wirklich skandalös, dass bei fortgeschrittenen Tumorerkrankungen heute Wirkstoffe zugelassen werden – obwohl die europäische Zulassungsbehörde selber konstatiert: Wir wissen nicht, ob das Gesamtüberleben verlängert wird, wir wissen nicht, ob der Patient wirklich einen Nutzen von diesem Wirkstoff hat – nur aufgrund von Surrogatparametern."

    In dieser Auseinandersetzung sind todkranke Menschen wie Wolfgang Behling die Testkandidaten. Sie nehmen die neuen Medikamente ein, ohne zu wissen, ob sie davon einen Nutzen haben – oder nur Nebenwirkungen. In dem Jahr 2005, als Behling die Diagnose Nierenkrebs erhielt, war das erste der sieben neuen Mittel gegen fortgeschrittenen Nierenkrebs zugelassen worden: Sutent von Pfizer. Als bei Behling 2006 Tochtergeschwülste festgestellt wurden, bekam er Sutent verordnet – und die Metastasen schrumpften. Irgendwann waren sie nicht mal mehr im Röntgenbild sichtbar. Keine Heilung, aber ein Zeitgewinn. Dafür nahm Behling die Nebenwirkungen in Kauf.

    "Durchfall, Hand-Fuß-Syndrom, was also bedeutet, dass also die Nervenenden sehr, sehr sensibel sind und Schmerzen, gerade in den Fußsohlen oder in den Fingerspitzen. Ich hatte ständig Geschmacksverlust, das einzige, was also man noch geschmeckt hat, war süß oder sauer, aber kein Salz, und wenn Salz fehlt, schmeckt halt alles nicht mehr, Erschöpfungserscheinungen ... Was war noch alles? Also eigentlich so, was dieses Medikament hergab an Nebenwirkungen, habe ich also wirklich auch hier geschrien und hab also alles mitgenommen."

    Behling arrangierte sich mit seiner Krankheit – und den Nebenwirkungen. Er nahm das Medikament immer abends ein, damit ihn der Durchfall nicht tagsüber quälte. Er begann wieder zu arbeiten, als Filialleiter im Reifenhandel. Sogar einen alten Traum wollte er sich erfüllen: eine Reise nach Kanada. Dann kam der 9. April 2010, die zehnte Kontrolluntersuchung.

    "Wir wussten auch bei dem Sutent, dass irgendwann der Tag kommen wird, wo das Präparat nicht mehr wirkt. Und trotzdem ist es erst mal blöd, wenn dann der Tag da ist. Man wusste, dass der Tag kommt, aber wenn er wirklich dann da ist, ist es natürlich trotzdem beschissen."

    Die Metastasen in der Lunge waren wieder da. Behling stornierte den Flug nach Kanada. Mutlos war er dennoch nicht. Denn jetzt gab es ja die nächste Waffe: Afinitor. Die nächste Hoffnung, das nächste Versprechen. Und wieder Nebenwirkungen.

    "Mit Beginn der Einnahme von dem Afinitor hab ich insgesamt zehn Kilo abgenommen gehabt innerhalb von knapp vier Monaten. Mit dem Afinitor hatte ich keinen Süßgeschmack, was also dann nach sich gezogen hat, dass ich so gut wie nichts Süßes mehr gegessen habe, natürlich keine Schokolade mehr, gar nichts mehr, weil erst mal hab ich es nicht geschmeckt, und wenn man süß nicht schmeckt, schmeckt man nur noch Bitterstoffe. Beispiel Ketchup, ein ganz markantes Beispiel. Als ich das erste Mal Ketchup gegessen habe, als ich diesen Süßgeschmack nicht hatte, spürt man das Süße nicht, man schmeckt nur die Bitterstoffe, und man kann sich nicht vorstellen, wie furchtbar Ketchup schmeckt, wenn kein Zucker drin ist – man kann es wirklich nicht essen."

    Ende 2010 legte sich Wolfgang Behling wieder in den Computertomographen. Auf den Bildern sah der Arzt eine weitere große Metastase in der Lunge. Er riet ihm, Afinitor abzusetzen. Das Medikament wirke nicht mehr. Nach knapp fünf Monaten Afinitor zog Behling Bilanz:

    "Zu Beginn der Einnahme von dem Afinitor hatte ich ja nun sehr starke Nebenwirkungen, mit Ausschlag am ganzen Körper, mit Juckreiz, dass ich nicht schlafen konnte. Bedingt durch das Nichtschlafen war man sehr aggressiv. Für mich stellt sich das im Nachhinein eigentlich so dar, dass die Nebenwirkungen, die man erfahren musste, nicht im Einklang mit dem Nutzen des Präparats steht, für mich persönlich jetzt, bei anderen mag das vielleicht ganz anders aussehen. Wenn ich dann die Nebenwirkungen, wie ich das gerade sagte, dagegen stelle, waren es vielleicht verschenkte fünf Monate, aber das ist eine Mutmaßung, das ist einfach ein Gefühl."

    Wolfgang Behling versuchte es nach Afinitor mit einem weiteren neuen Medikament, Nexavar von Bayer. Die Nebenwirkungen hielten sich diesmal in Grenzen, die Wirkungen aber auch. Die Metastasen in der Lunge wuchsen, und Behling setzte das Mittel bald wieder ab. Auf Anraten der Ärzte probierte er es erneut mit Sutent, dem Präparat, das er zu Anfang genommen hatte. Die Hoffnung: Der Krebs würde nach einer Behandlungspause wieder auf das Mittel ansprechen. Eine Zeitlang ging es Behling tatsächlich ganz gut, dann wuchsen die Metastasen weiter.

    "Die großen Highlights, die jahrelangen Effekte einer Chemotherapie, wie wir sie bei Blockbustern wie Imatinib gesehen haben, das sind die seltenen"

    Harald Enzmann, der frühere Bayer-Forscher und heutige Abteilungsleiter im Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte.

    "Die große Mehrzahl der Erfolge, ja der begrenzten Erfolge, die die Krebstherapie bisher hat, ist eine Aufaddierung verschiedener, nicht umwerfender, verschiedener kleiner Effekte.Deshalb auch bei verschiedenen soliden Tumoren die Abfolge von mehreren Therapien, die alle ein bisschen eine gewisse Zeitlang beitragen und die aufaddiert durchaus signifikante auch Lebensverlängerungen geben."

    Wolf-Dieter Ludwig: "Dass man neue Wirkstoffe braucht zur Behandlung des Nierenzellkarzinoms wird von keinem Onkologen kritisiert. Kritisiert wird, dass in einem Zeitraum von drei bis dreieinhalb Jahren insgesamt sechs neue Wirkstoffe auf den Markt gekommen sind. Diese Wirkstoffe sind nicht Head to Head, das heißt gegeneinander, verglichen worden. Wir wissen derzeit gar nicht, welcher dieser Wirkstoffe ist eigentlich der beste Wirkstoff. Wir wissen nicht, wie lange müssen wir behandeln, bevor wir das Ansprechen beurteilen können. Wir wissen nicht, wie ist die Sequenz, das heißt, wenn der Wirkstoff A nicht mehr wirkt, gebe ich dann den Wirkstoff B? Das heißt: Alle wissenschaftlich fundierten Daten für die Behandlung dieser Krebspatienten fehlen, und das vorwiegend aus Marketinggründen, weil die Hersteller schnell den Wirkstoff auf den Markt bekommen wollen, und er dann dort unkontrolliert eingesetzt wird, und das ist unsere konkrete Kritik. Dass Patienten geholfen wird, damit, ist unbestritten, auch wir setzen die Wirkstoffe ein, allerdings weitgehend im Blindflug, und das ist das große Problem."

    Nierenkrebspatienten im fortgeschrittenen Krankheitsstadium werden nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum behandelt. Wolfgang Behling geht es mittlerweile schlechter. Er hustet viel, spuckt manchmal Blut, hat Schmerzen, schläft nicht sonderlich gut. Die Ärzte verordneten ihm Bestrahlungen, doch sie halfen ihm nicht. Für kurze Zeit waren die Behandler ratlos. Doch dann entschieden sie, dass Behling es wieder mit einem neuen Medikament versuchen soll: Axitinib von Pfizer, zugelassen im September 2012. Für Ärzte ist es mit das Schwerste, einem Patienten zu sagen, sie hätten nichts mehr im Schrank. Es ist das fünfte Mittel in der Behandlungsserie von Wolfgang Behling. Kosten pro Monat: rund 6000 Euro. Ob Behling einen Nutzen davon haben wird oder aber nur Nebenwirkungen - ist ungewiss.