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Manuskript: Schöpfer der Massen

Um das Higgs aufzuspüren, mussten die Teilchenphysiker die grösste Wissenschaftsmaschine aller Zeiten bauen, den 27 Kilometer grossen LHC-Beschleuniger in Genf. Zwar ist mit der Entdeckung das Standardmodell, also das derzeitige Theoriegebäude der Teilchenphysik, weitgehnd fertig - ein eindrucksvoller Triumph.

Von Frank Grotelüschen | 08.07.2012
    "Es sieht so ein bisschen aus wie bei der Nasa. Die Leute sitzen vor Monitoren. Es gibt eine Projektionswand, wo die wichtigsten Informationen projiziert werden."

    Das Cern in Genf, das Europäische Forschungszentrum für Teilchenphysik. Es ist Samstag, der 2.Juni, kurz vor drei am Nachmittag. Der Physiker Michael Hauschild blickt durch eine Glasscheibe in einen Kontrollraum. Dort starren seine Kollegen konzentriert auf Anzeigen, auf Dutzende von Monitoren und die riesige Projektionswand. Der Kontrollraum ist Teil der größten Wissenschaftsmaschine der Welt, des Large Hadron Colliders, kurz LHC. Der stärkste Teilchenbeschleuniger aller Zeiten.

    "Im Moment ist es so, dass wir stabile Strahlen haben. Wir nehmen so viele Daten wie es geht, um Aussagen machen zu können über das Higgs-Teilchen."

    Das Higgs, der heilige Gral der Teilchenforscher. Ein Elementarteilchen, nach dem Tausende von Wissenschaftlern gesucht haben, jahrzehntelang.

    Mittwoch, 4. Juli. Der große Hörsaal am Forschungszentrum Desy in Hamburg ist brechend voll. Gespannt verfolgen Hunderte von Physikern den Fachvortrag, der gerade am Cern in Genf läuft und per Videokonferenz auf die Leinwand projiziert wird.

    "Das ist absolut voll spannend. Wir warten da sehr, sehr lange drauf. Und jetzt sieht man es. Das ist wahnsinnig aufregend!"

    Ingrid Gregor sitzt im Publikum und bekommt gerade eine Gänsehaut. Wie viele hier ist sie an den Experimenten am Cern beteiligt: Dort beschleunigt der LHC Wasserstoffkerne auf unvorstellbare Energien und feuert sie frontal aufeinander. Diese Kollisionen sind wie ein Urknall im Miniformat: Für einen winzigen Augenblick können sich höchst seltene, exotische Materieteilchen bilden. Jetzt zeigt der Redner in Genf die Folie mit den entscheidenden Messdaten. Der LHC hat das meist gesuchte Teilchen der Physik gefunden – das Higgs. Die Möglichkeit eines Irrtums scheint ausgeschlossen, sie liegt bei weniger als 1:1.000.000. Gregors Kollegin, der Italienerin Erika Garutti, kommen die Freudentränen.

    "Das ist ein sehr emotionaler Augenblick. Es ist fantastisch! Mein ganzes Physikerinnen-Leben bin ich schon auf der Suche nach dem Higgs-Teilchen. Und nun ist es endlich da!"

    Die pure Erleichterung, ja, Genugtuung. Jahrzehntelang haben Tausende von Physikern nach dem Higgs gefahndet – und Milliarden an Steuergeldern in den Bau von Beschleunigern gesteckt. Jetzt haben die Forscher geliefert – das erste neu entdeckte Teilchen seit fast 20 Jahren. Die Geschichte beginnt in den 60er Jahren. Damals hatte der schottische Theoretiker Peter Higgs ein Teilchen postuliert, das eine besondere Eigenschaft besitzt: Es verleiht den anderen Elementarteilchen Masse – jenen Grundbausteinen, aus denen Materie aufgebaut ist, also auch wir selbst. Ingrid Gregor:

    "Das ist die Erklärung, warum Masse existiert. Dieses Higgs erzeugt im Grunde genommen die Masse, und damit alles, was da ist: das Universum, die Erde, die Menschen – alles wird dadurch erklärt!"

    Eine Entdeckung, die die Teilchenforscher in Euphorie versetzt. Mit einem Mal scheint die ganze Anspannung abzufallen – die Anspannung von jahrelanger, hochkonzentrierter Arbeit.

    15 Uhr. Schichtwechsel im Kontrollraum am Cern. Ulrike Schnoor, eine Doktorandin aus Dresden, hat die Sicherheitsschleuse passiert und steuert eine Art Cockpit an – Monitore, angeordnet zu einem Halbrund. Ihr Arbeitsplatz für die nächsten acht Stunden. Der Kollege, den Schnoor ablösen soll, haut noch ein paar Programmcodes in die Tastatur. Er muss schnell noch ein Problem aus dem Weg schaffen.Schnoor:

    "Das Logbuch, in dem alle Details der letzten Schicht aufgeschrieben werden, hatte ein kleines technisches Problem. Und das hat die Übergabe jetzt etwas verzögert."

    Die Monitore, die Ulrike Schnoor im Auge behalten muss, stehen im Kontrollraum von Atlas. So heißt einer der beiden Detektoren, die am LHC nach dem Higgs suchen. Eine gigantische Teilchenkamera mit der Aufgabe, die hochenergetischen Kollisionen der Wasserstoffkerne zu beobachten. Atlas ist ein 7000-Tonnen-Klotz, groß wie ein Bürogebäude, vollgestopft mit hochsensiblen Sensoren. Er steckt in einer Riesenhalle 100 Meter tief unter unseren Füßen.

    "37 Länder sind an Atlas beteiligt, aus sämtlichen Kontinenten. Nur die Antarktis macht glaube ich nicht mit."

    Pauline Gagnon ist die Schichtleiterin. Sie muss dafür sorgen, dass hier in den nächsten Stunden alles glatt läuft. Die Frankokanadierin ist eines von 3000 Mitgliedern des Atlas-Teams.

    "Der Kontrollraum ist rund um die Uhr besetzt, mit mindestens zehn Leuten. Jeder hat eine bestimmte Aufgabe. Denn Atlas besteht aus mehreren Komponenten, wir bezeichnen sie als Subdetektoren. Und auf jeden Subdetektor hat hier jemand ein Auge."

    Anhand der Messdaten von Atlas können die Physiker rekonstruieren, welche Teilchen bei den Kollisionen entstanden sind. Sind es altbekannte, zum Beispiel Quarks? Oder neue Teilchen wie das Higgs? Zu diesem Zeitpunkt, Anfang Juni, liegen schon erste Hinweise auf das Higgs vor. Doch bewiesen ist noch nichts. Gagnon:

    "Der Plan für heute ist einfach: Messdaten nehmen, möglichst viele und gute Messdaten! Im Moment läuft alles glatt. Aber es ist enorm wichtig, dass die Crew die ganze Zeit konzentriert bleibt und immer die Anzeigen im Auge behält. Und glauben Sie mir: Es ist alles andere als einfach, sich acht Stunden lang konzentrieren zu müssen."

    Martinus Veltman, Physiknobelpreis 1999:

    "Damit ist ein weiteres Stück des Standardmodells der Teilchenphysik bestätigt, das wohl letzte große Stück. Ein Triumph für das Standardmodell."

    Warum ist die Entdeckung des Higgs so bedeutend für die Teilchenforschung? Nun – das Higgs war der letzte Baustein, der im heutigen Weltbild der Physik noch fehlte. Standardmodell, so heißt dieses Theoriegebäude. Es geht davon aus, dass es zwölf Urbausteine gibt. Sie heißen Quarks, Elektronen und Neutrinos, und es gibt sie in verschiedenen Sorten. Zusammengehalten werden diese Urbausteine durch drei Naturkräfte: die elektromagnetische Kraft, die starke Kraft und die schwache Kraft. Doch damit war das Standardmodell noch nicht komplett. Ein Baustein fehlte. Dass er existieren muss, hatte schon vor Jahrzehnten der schottische Teilchentheoretiker Peter Higgs vorhergesagt. Ein scheuer Zeitgenosse, bescheiden, beinahe schüchtern.

    "Das geht zurück auf das Jahr 1960. Damals stieß ich auf die Arbeiten des Japaners Yoichiro Nambu. Nambu wollte eine neue Theorie über Elementarteilchen aufstellen. Das Problem: Er musste bei seiner Theorie von der Existenz bestimmter masseloser Teilchen ausgehen. Doch solche Teilchen gab es offenbar nicht, sonst hätte man sie damals längst entdeckt. Also suchte ich nach einer Idee, wie man diesen masselosen Teilchen Masse verleihen konnte."

    Jahrelang blieb das Problem ungelöst, erzählt Peter Higgs. Dann endlich stieß er auf die Lösung.

    "Ich schrieb einen kurzen Fachartikel, der einen Ausweg aus dem Problem skizzierte. Und zwar musste man das Problem innerhalb bestimmter Theorien angehen, sogenannten Eich-Theorien. Dabei kam dann ein neues Teilchen heraus, das zwar den Photonen ähnelt, also den Lichtteilchen, das aber dennoch eine Masse besitzt. Und das war es – das war die Lösung!"

    Peter Higgs hatte ein Teilchen postuliert, das allen anderen Teilchen Masse verleiht. Er legt dem Universum ein alles durchdringendes Feld zu Grunde. Durch dieses Feld bewegen sich die Teilchen wie durch einen zähen Sirup. Dabei verspüren sie einen Widerstand, ähnlich dem Widerstand, den der Sirup einem Kochlöffel beim Umrühren bietet. Dieser Widerstand ist es, der den Teilchen Masse verleiht. Man kann sich das Phänomen auch als einen Raum vorstellen, in dem gerade eine Party läuft: Überall, sagt der Desy-Theoretiker Georg Weiglein, stehen Partygäste herum. Sie bilden quasi das Higgs-Feld.

    "Dann kommt jemand rein, der sehr wichtig ist. Und auf einmal sammeln sich die Leute um denjenigen herum. Und wenn der dann versucht, durch den Raum zu gehen, ist es so, als ob er eine größere Masse hätte. Es fällt ihm schwer, durch den Raum durchzugehen."

    Ein Promi, der auf der Party von Gästen umlagert wird und deshalb schwer vorankommt, entspricht in der Physik einem schweren Teilchen. Leichte Teilchen dagegen entsprechen einem Kellner, der sich elegant und weitgehend unbemerkt zwischen den Gästen fortbewegt. Er spürt kaum einen Widerstand, besitzt also nur wenig Masse. Weiglein:

    "Für dieses Leichtgewicht interessieren sich in diesem Bild nicht so viele Partygäste. Deswegen kann dieses Leichtgewicht leichter durchgehen als jemand sehr Schwergewichtiges, um den sich gleich alle scharen und der dann ein großes Problem hat, durch diesen Raum hindurchzugehen."

    Und welche Rolle spielt dabei das Higgs-Teilchen? Nun – es ist so etwas wie eine zufällige Manifestation des Higgs-Feldes – ein flüchtiges Gerücht im Partykeller.
    "Wenn jetzt in diesem Raum einer der Partygäste sagt: 'Oh, ich habe gehört, es kommt gleich jemand ganz Wichtiges', wollen die anderen das auch alle hören. Und obwohl niemand durch diesen Raum hindurchgegangen ist, gibt es auf einmal eine Ansammlung von Partygästen, die dieses Gerücht gehört haben, dass gleich etwas Spektakuläres passiert. Das würde in dem Bild dem Higgs-Boson entsprechen."

    Dieses Higgs-Teilchen haben die Physiker am Cern nun aufspürt. Damit ist klar: Es muss auch das Higgs-Feld geben, und dieses Feld gibt allen anderen Elementarteilchen Masse. Die letzte Lücke im Standardmodell – sie ist geschlossen.

    16 Uhr im Atlas-Kontrollraum. Der LHC läuft auf Hochtouren – und damit auch die Suche nach dem Higgs-Teilchen. Konzentriert blickt Ulrike Schnoor, die junge Physikerin aus Dresden, auf ihre Anzeigen.

    "Im Prinzip sitze ich hier vor diesen Monitoren und überwache alle möglichen Systeme, wo viele hoffentlich grüne Lampen leuchten, die mir sagen: Alles in Ordnung.""

    Im Moment stehen alle Anzeigen auf Grün. Der Atlas-Detektor funktioniert einwandfrei und zeichnet Daten auf, jede Sekunde Hunderte von Teilchenkollisionen.

    "Ich überwache auch schon gleich die Datenqualität. Mit einem groben Überblick: Wie sehen die Daten aus? Sind die ungefähr OK, wie man es erwartet?"

    Dann zeigt Schnoor auf einen der Bildschirme. Ein Muster, das aussieht wie ein Mandala und sich alle paar Sekunden verändert. Es ist ein Schema des Detektors, und die bunten Linien, die erscheinen und wieder vergehen, sind die Spuren von Teilchen, die der LHC ein paar Sekunden zuvor erzeugt hat.

    "Das ist ein sogenanntes Event-Display, wo Ereignisse dargestellt werden. Ereignisse sind die Kollisionen. Und man sieht Teilchen, die da durchgeflogen sind und eine Spur hinterlassen haben."

    Vielleicht ist just in diesem Moment ein Higgs-Teilchen entstanden. Das Problem, so Ulrike Schnoor:

    "Das Higgs zerfällt ja. Wir sehen nie das Higgs selber. Wir sehen nur seine Zerfallsprodukte."

    Die Spuren dieser Zerfallsprodukte müssen die Forscher mühsam zusammenpuzzeln. Rund 700 Billionen Kollisionen hat der Detektor im Laufe der letzten zwei Jahre registriert. Nur bei einigen Hundert ist ein Higgs entstanden. Eine Sisyphusarbeit – schlimmer noch als die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.

    Carlo Rubbia, Physiknobelpreis 1984:

    "Das Higgs hat eine lange Geschichte. Fast ein halbes Jahrhundert hat man nach ihm gesucht. Wenn man es jetzt endlich aufgespürt hat, ist das ein Triumph für die Teilchenphysik in Europa, vor allem für das Cern."

    In den 70er Jahren etabliert sich die Theorie von Peter Higgs. Jetzt wollen sie die Physiker überprüfen und das Higgs-Teilchen finden – und damit den Grund, warum die Welt überhaupt Masse besitzt. Das Problem: Keiner weiß, wie schwer das Higgs-Teilchen ist. Im Prinzip könnte es leicht sein wie ein Wasserstoffatom, aber auch schwer wie ein Uranatom. Die ersten Versuche zeigen: Das Higgs ist kein Leichtgewicht. Deshalb plant das Cern in den 80er-Jahren einen Superbeschleuniger, eingebaut in einen 27 Kilometer großen Ringtunnel in Genf. Der LHC, die aufwendigste Wissenschaftsmaschine aller Zeiten. In diese Zeit fällt auch die Veröffentlichung eines Buches mit dem Titel "Das Gottesteilchen". Der Autor hätte lieber "The god damned particle" gewählt, "Das gottverdammte Teilchen", weil es so schwer zu finden war. Doch der Verlag entschied anders. Seitdem hängt das Gottesteilchen fest in den Köpfen – obwohl die Physik des Higgs-Teilchens mit dem Schöpfer nichts zu tun hat. 1994 wird der LHC bewilligt. Jetzt können seine Komponenten gebaut werden – völlig neuartige Bauteile, absolute Spitzentechnologie.

    "Ein Schwertransport. Der Magnet, den wir hier gerade rausfahren sehen, ist schon voll fertig ausgetestet. Jeder Magnet ist 30 Tonnen schwer. Und davon hat es 1200 Stück."

    Der Magnet ist eine 15 Meter lange Metallröhre. Das Herzstück des LHC, sagt Physiker Jörg Wenninger. Insgesamt passen 1200 dieser starken Magneten in die Ringtunnel des LHC. Sie sollen die schnellen Wasserstoffkerne auf einer Kreisbahn halten. Genauso aufwendig sind die beiden Detektoren, die die hochenergetischen Kollisionen beobachten sollen. Gigantische Kameras für Elementarteilchen.

    "Weltweit das komplizierteste Objekt, das ich kenne. Und ich schließe sämtliche Programme der Nasa dabei mit ein","

    sagt der Physiker Frank Hartmann. Er gehört zum Team von CMS, dem zweiten Detektor am LHC.

    10. September 2008. Endlich soll es losgehen. Die Cern-Experten fahren ihren Beschleuniger zum ersten Mal hoch. Zunächst läuft die Maschine wie geschmiert. Aber dann, neun Tage später, kommt es im Tunnel zu einer Explosion, Flüssighelium verdampft. Die Druckwelle reißt Dutzende von Magneten um. Die Unfallstelle gleicht einem Schlachtfeld. Die Ursache: ein defektes Kabel. Mehr als ein Jahr dauern die Reparaturen. Der Start des Messprogramms verzögert sich. Endlich, am 30. März 2010, ist es soweit. Um 13:06 Uhr beobachtet Cern-Physiker Oliver Buchmüller, dass auf einem der Monitore ein buntes Muster aufleuchtet.

    ""Wir haben unsere ersten Kollisionen gesehen! Wir sind alle sehr, sehr erleichtert. Es waren Jahre der Vorbereitung. Und jetzt zum ersten Mal diese Kollisionen zu sehen, ist schon überragend!"

    Ultraschnelle Wasserstoffkerne sind aufeinander geprallt und haben einen winzigen, aber ungeheuer dichten Energieblitz erzeugt – eine Art Urknall im Miniformat. Endlich nimmt die Maschine Daten. Die ersten Ergebnisse präsentiert der Physiker Dave Charlton auf einer Konferenz im Juli 2011.

    "Wir haben Hinweise darauf, dass der LHC das Higgs-Teilchen produziert hat. Aber um zu sehen, ob diese Spur wirklich heiß ist, ob dahinter wirklich das Higgs steckt oder nicht, brauchen wir noch mehr Messdaten."

    Noch sind die Indizien zu vage. Denn noch ist die Wahrscheinlichkeit zu hoch, dass es sich bloß um einen statistischen Ausrutscher handelt, der das Higgs nur vorgaukelt. Doch die Forscher sind auf der richtigen Spur. Sie sammeln weiter Daten – bis Cern-Direktor Rolf Heuer am Mittwoch den Triumph vermeldet.

    "Ich würde sagen: Wir haben es! Glauben Sie das auch?"

    Auch Peter Higgs, mittlerweile 83 Jahre alt, ist bei der Verkündung der Messdaten dabei.

    "Ich möchte mich bei jedem hier bedanken, der an diesem großartigen Projekt beteiligt ist. Für mich ist das wirklich eine unglaubliche Sache in meinem Leben!"

    Wenige Wochen zuvor, am 2. Juni um 20 Uhr, im Atlas-Kontrollraum. Plötzlich leuchtet es auf den Monitoren rot auf. Hektisch blättern sich die Physiker durch ihre Menüs, doch sie können den Fehler nicht finden. Schichtleiterin Pauline Gagnon rennt von Monitor zu Monitor.

    "Wir wissen nicht, was passiert ist. Ganz plötzlich ist die gesamte Datennahme blockiert, ein Teil des Systems ist abgestürzt. Ein ziemliches Durcheinander, niemand weiß so recht, was los ist."

    Eines der unzähligen Subsysteme des Detektors spielt verrückt, es verursacht einen Datenstau. Die Crew ist mit ihrem Latein am Ende. Sie muss Hilfe anfordern – Hilfe bei Experten, die sich mit dem defekten System im Detail auskennen. Zehn Minuten später sind die Kollegen vor Ort. Fieberhaft hämmern sie in die Tastaturen – und tatsächlich, bald läuft die Datennahme wieder. Ulrike Schnoor ist erleichtert.

    "Das war super. Die haben sehr schnell reagiert. Die Ursachensuche, das ist eine Sache, die die Experten machen müssen. Das macht hier keiner im Kontrollraum direkt."

    Die Experten konnten das defekte System überbrücken, es hält den Datenverkehr nicht länger auf. Atlas kann wieder messen. Die Arbeit geht weiter.

    David Gross, Physiknobelpreis 2004:

    "Es ist die Entdeckung eines neuen Teilchens. Wir hatten sie zwar erwartet. Doch nun geht es darum, die genauen Eigenschaften des Higgs-Teilchens zu erforschen. Und vielleicht kommt dabei ja etwas Neues, Unerwartetes heraus."

    Die Messungen am LHC – sie sind mit der Entdeckung des Higgs-Teilchens nicht am Ende. Im Gegenteil: Die Experten haben noch jede Menge Arbeit vor sich. Denn welche Eigenschaften das Higgs besitzt, wie es im Detail aussieht – das wissen die Theoretiker wie Georg Weiglein noch nicht.

    "Diese Sachen muss man jetzt vermessen, um herauszufinden: Stimmt das wirklich mit den Vorhersagen überein oder nicht?"

    Nur wenn das Teilchen genauso aussieht wie von Peter Higgs einst vorausgesagt, ist das Standardmodell – also das derzeitige Theoriegebäude der Teilchenforschung – endlich komplett. Denn das Higgs-Feld verleiht den fundamentalen Materiebausteinen, den Quarks etwa und den Elektronen, überhaupt Masse. Georg Weiglein:

    "Das Higgs-Teilchen ist das letzte Teilchen, das im Standardmodell vorhergesagt wurde. Und wenn man sagt, das ist jetzt gefunden worden – damit ist das Standardmodell grandios bestätigt."

    Eine Erfolgsgeschichte, sicher. Im Grunde aber hoffen die Physiker, dass, wenn sie das Higgs im Detail unter die Lupe nehmen, das Standardmodell Risse zeigt. Weiglein:

    "Weil wir glauben, dass bei der Vermessung dieses Teilchens sich herausstellen wird, dass man Abweichungen von den Vorhersagen des Standardmodells sieht. Und dass man damit sieht, dass das Standardmodell nicht die fundamentale Beschreibung der Natur ergibt, sondern dass es noch eine fundamentalere zugrundeliegende Theorie gibt!"

    Zwar hat sich das Standardmodell bislang bestens bewährt. Doch auf viele Fragen hat es keine Antwort, sagt Kerstin Borras, Mitglied im CMS-Detektor-Team. Wesentliche Rätsel der Physik bleiben ungelöst.

    "Das Higgs ist ein Puzzleteilchen, das zum Standardmodell gehört. Dieses Standardmodell erklärt das, was wir hier sehen, was uns umgibt. Aber das, was wir sehen, ist auf das Universum bezogen nur vier Prozent! 25 Prozent ist Dunkle Materie, und 70 Prozent Dunkle Energie."

    Irgendetwas Geheimnisvolles hält die Galaxien zusammen wie ein unsichtbarer Klebstoff. Ratlos bezeichnen es die Physiker als Dunkle Materie. Etwas noch Rätselhafteres treibt das Universum auseinander wie ein ewig quellender Hefeteig. Achselzuckend sprechen die Physiker von Dunkler Energie. Woraus beides besteht – ein völliges Rätsel. Der LHC aber hat das Potenzial, Licht in die dunklen Effekte zu bringen. 2013 wird er für zwei Jahre abgeschaltet und umgebaut. Danach wird er seine Wasserstoffkerne fast doppelt so stark beschleunigen können wie heute.

    "Da sind die Erwartungen natürlich sehr hoch, dass wir vielleicht wieder was entdecken!"

    Auch das Higgs wollen die Forscher so genau wie möglich unter die Lupe nehmen. Bislang kennen sie quasi nur seinen schemenhaften Umriss. Was sie wollen, ist ein präziser Steckbrief. Der LHC sammelt weiter Daten. Doch die Möglichkeiten sind begrenzt. Der Grund: Der LHC schießt Wasserstoffkerne aufeinander. Damit kann er zwar hohe Kollisionsenergien erreichen. Aber es ist schwierig, die Kollisionen auszuwerten, denn neben dem Higgs entstehen stets auch andere Teilchen, die die Datenanalysen stören. Der Physiker spricht vom Untergrund. Deshalb tüfteln Experten wie Eckhard Elsen vom Desy in Hamburg an den Plänen für einen neuen Beschleuniger – die Higgs-Maschine.

    "Wir nennen das Higgs-Maschine, weil der Untergrund praktisch nicht existiert. Wir haben nur Signale, wenn man so will."

    Der LHC ist eine Entdeckermaschine. Die Higgs-Machine dagegen wäre ein Präzisionswerkzeug, es würde das Higgs-Teilchen äußerst genau vermessen. Und dabei könnte sich, so die Hoffnung, eine Tür öffnen in die Schattenwelt hinter dem Standardmodell. Elsen:

    "Ist das Higgs alleine, oder kommt es sogar mit einem Zwillingsteilchen? Oder hat es noch geladene Partner? Und dafür ist diese Higgs-Maschine genau das richtige Werkzeug, um damit anzufangen."

    Manche Physiker spekulieren, das nun entdeckte Teilchen könnte kein normales Higgs sein, sondern etwas Exotischeres: ein sogenanntes Susy-Higgs. Auf ihrer Suche nach Teilchen, die die dunklen Materieanhäufungen im Universum erklären könnten, haben Physiker eine Theorie namens Supersymmetrie im Auge. Sie stellt den bekannten Bausteinen noch weitere Teilchen an die Seite. Auch das Higgs soll nach dieser Theorie insgesamt vier supersymmetrische Brüder und Schwestern haben. Jetzt ist die Frage: Sehen die Physiker am Cern ein Standard-Higgs – oder ist es ein Susy-Higgs? Der Nachweis eines Susy-Teilchens, er könnte der erste Vorstoß ins Dunkle Universum sein. Im Gegensatz zum LHC wäre die Higgs-Maschine nicht kreisförmig, sondern schnurgerade. Sie würde keine Wasserstoffkerne auf Trab bringen, sondern die viel leichteren und kleineren Elektronen. Eckhard Elsen:

    "Da sprechen wir von einem Linearbeschleuniger. Das ist eine Rennstrecke, die wirklich nur geradeaus geht."

    20 Kilometer lang, bis zu fünf Milliarden Euro teuer. Europa wird eine derart kostspielige Megaanlage kaum in Angriff nehmen wollen. Vielleicht aber ein anderes Industrieland. Elsen:

    "Wir haben gegenwärtig sehr großes Interesse in Japan. Die Japaner sagen schon seit längerer Zeit: Wir möchten gerne eine große internationale Anlage in Japan beherbergen."

    Fertig wäre die Higgs-Maschine frühestens in zehn Jahren. Dann könnte sie das heißeste Eisen sein, um nach Phänomenen jenseits des Standardmodells zu suchen – nach den Anzeichen einer neuen Physik.

    23 Uhr. Die Schicht im Atlas-Kontrollraum ist zu Ende. Feierabend für Pauline Gagnon und ihre Crew. Zu Beginn war es eine ruhige Schicht, sagt sie. Doch später wurde es dann doch noch ziemlich hektisch.

    "Wenn hier viel los ist, vergeht die Zeit zwar schnell. Aber es ist auch ziemlich stressig und anstrengend, wenn Probleme auftreten und man sich um mehrere Dinge gleichzeitig kümmern muss. Geht man nach so einer Schicht dann um 11:00 Uhr abends nach Hause, ist man komplett erledigt, muss sich erst mal runterfahren und sich sagen: OK, jetzt trägt jemand anders die Verantwortung!"