Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Manuskript: Tiefer als Schlaf

"Wir versetzen sie jetzt in einen tiefen Schlaf." -  Mit diesem Satz beruhigen Anästhesisten üblicherweise ihre Patienten, bevor sie sie vor einer Operation narkotisieren. Das beschönige die Sache, sagen inzwischen einige Forscher. Sie haben genauer untersucht, was im Gehirn passiert, wenn jemand ein Narkotikum erhält.

Von Martin Hubert | 11.11.2012
    Operationstag in einer Kölner Zahnarztpraxis. Helfer in grünen Kitteln legen Pinzetten und Klemmen bereit, auf Monitoren flimmern dreidimensionale Bilder von einem Gebiss. Eine junge Patientin liegt langgestreckt im Behandlungsstuhl. Sie wirkt angespannt und nervös. Zahnarzt Wulf Peterke beugt sich freundlich über sie.

    "Sie sind Jahrgang 1995?"

    "Ja."

    "Und wir haben vor, alle vier Weisheitszähne zu entfernen, oben, unten, rechts und links."

    "Ja ."

    "Und wir machen das Ganze wie gesagt unter Vollnarkose, das bedeutet, nachher wird ein Narkosearzt zu Ihnen kommen und wird Ihnen ein Medikament in die Vene spritzen, dann werden sie ganz ganz tief schläfrig werden."

    "Mhm."

    "Und wenn Sie dann eingeschlafen sind, dann werden wir sie beatmen und an eine Maschine anschließen."

    "Meistens sagen wir Anästhesisten unseren Patienten ja : Wir werden sie jetzt in den Schlaf versetzen."

    Emery Brown, Professor für Anästhesiologie an der Harvard Medical School.

    "Wir sagen das unseren Patienten immer wieder, weil wir es beschönigen wollen. Es geht ja nicht an, dass wir sagen: Entschuldigung Herr Meier, aber wir versetzen sie jetzt in ein reversibles Koma. Wir bringen sie ins Koma hinein und dann wieder zurück."

    Unter Anästhesisten hat eine Diskussion darüber begonnen, was sie eigentlich tun. Jährlich werden weltweit etwa 230 Millionen Menschen in Narkose versetzt. Dabei kann es sich um kurze zahnärztliche Operationen handeln, um das Glätten eines Meniskus oder um stundenlange Eingriffe am Herzen. Daten aus 56 Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation WHO legen nahe: in drei bis16 Prozent der Fälle treten in den entwickelten Industrienationen Komplikationen auf, das heißt, bei etwa sieben bis 27 Millionen Operationen.

    "Es gibt Verwirrtheitszustände nach Narkose, es gibt auch Zustände, wo die Patienten übermäßig schläfrig sind, sag ich mal."

    Professor Bertram Scheller, stellvertretender Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie am Universitätsklinikum Frankfurt/Main.

    "Und im Rahmen der Langzeitsedierung gibt es Patienten, die wirklich halluzinieren."

    In etwa einer Million Fällen führen Eingriffe unter Narkose zu bleibenden Schäden oder zum Tod. In einem von 200.000 Fällen lässt sich der Tod direkt auf die Narkose zurückführen. Meist sind Risikopatienten betroffen. Die Ärzte versuchen sich darauf vorzubereiten, indem sie die Patienten vor der Anästhesie ausführlich befragen und über die Risikofaktoren aufklären: über Bluthochdruck, Leber -und Lungenerkrankungen, Allergien, Diabetes, Alkohol- oder Drogenkonsum. Wie recht haben sie dann, wenn sie anschließend ihre Patienten mit dem Satz beruhigen, die Narkose wiege sie nur in einen tiefen Schlaf? Bertram Scheller:

    "Das ist eine sehr sinnvolle wissenschaftliche Diskussion. Es gibt ein Reihe von ungeklärten Fragen, wo man versucht zu verstehen, was passiert."

    Einerseits gibt es keinen Grund, Angst zu schüren: Die Vollnarkose ist ein medizinisch weitestgehend beherrschbarer Vorgang und meist Routine. Ärzte können dafür auf verschiedene Narkosemittel zurückgreifen: Gase wie Xenon, die die Patienten inhalieren. Oder Stoffe wie Propofol, von dem Michael Jackson abhängig war. Diese milchige Substanz wird Patienten in die Vene gespritzt. Meist werden die Narkotika zusammen mit schmerzhemmenden Mitteln verabreicht. Im Gehirn angekommen, docken die Substanzen an die Empfangsstrukturen, die Rezeptoren einzelner Hirnzellen an. Manche Narkotika hemmen dann die Hirnzellen in ihrer Aktivität, andere treiben sie an. Der Weg der Narkosemittel zu den einzelnen Nervenzellen ist relativ gut erforscht. Aber dann beginnt die Grauzone.

    "Die systemische Ebene, also was eigentlich in der Gehirnkommunikation über Hirnzellen hinausgeht, also Nervenzellpopulationen und ganze Hirnregionen: wie diese Interaktion sich ändert unter Anästhesie, das ist weitgehend im Dunkeln."

    Der Neurobiologe Gernot Supp forscht am Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Er möchte herausfinden, wie Anästhetika die Gehirntätigkeit insgesamt verändern. Was passiert im Zusammenspiel der verschiedenen Regionen, was beim Austausch der neuronalen Signale? Forscher wie Gernot Supp möchten darüber besser verstehen, warum doch immer wieder Komplikationen in der Narkose auftreten. Und sie möchten grundsätzlich begreifen, wie das Gehirn Bewusstsein erschafft

    "Also wenn man daran denkt, dass Narkose beinhaltet, dass es eben zum Bewusstseinsverlust kommt, dass Gedächtnisverlust eintritt und Bewegungslosigkeit eintritt, also das sind alles Gehirnfunktionen, die über Anästhesie oder während der Narkose ausgeschaltet werden. Und genau das ist das Faszinierende daran, dieses Gebiet zu erforschen."

    Die ersten Ergebnisse dieser jüngsten Anstrengungen liegen jetzt vor. Und Emery Brown von der Harvard Medical School hat dieser Forschungsrichtung mit seinen provozierenden Thesen Publicity verschafft.

    "Es ist natürlich schön, wenn Sie so bewegungslos da liegen, während Sie der Chirurg operiert. Wir stabilisieren dann ja auch in der Narkose künstlich Ihre physiologischen Systeme: Wir halten die Herzrate aufrecht, den Blutdruck, den Stresslevel und die Körpertemperatur. Wenn Sie sich das wegdenken, haben Sie ein Synonym für den Tod. So etwas kann man einfach nur als reversibles Koma bezeichnen."

    In der Kölner Praxis hat Narkosearzt Dr. Gerhard Fock der Patientin inzwischen einen beruhigenden Medikamentencocktail verabreicht. Sie dämmert weg, ihre Augenlider fallen zu, dann kullern mit einem Ruck die Arme und Beine kraftlos zur Seite. Auf Zurufe und Fragen reagiert sie nicht mehr. Jetzt muss die Narkosemaschine ihre Atmung übernehmen. Dazu schieben die Ärzte vorsichtig einen Beatmungsschlauch in ihre Luftröhre.

    Wulf Peterke: "Zwischen den Stimmbändern ganz vorsichtig wird der Schlauch eingezogen."

    Gerhard Fock: "Zwischen die Stimmbänder wird das eingezogen, nicht zu tief, nicht zu flach. Die Augen werden zugeklebt, damit die nicht austrocknen bei der Geschichte hier."

    Sobald ein Patient das Narkosemittel eingenommen hat, geht für ihn alles ganz schnell. Er fühlt sich leicht verwirrt, das Zeitgefühl schrumpft, irgendwie scheint die Außenwelt ganz weit weg zu sein. In dem Augenblick, in dem er sich das bewusst machen will, umfängt den Patienten aber schon tiefe Dunkelheit. Das, was man Bewusstsein nennt, scheint also von einem Augenblick zum anderen zusammenzubrechen. Wie geht das vonstatten, fragt sich Professor Steven Laureys von der Universität Lüttich, einer der weltweit führenden Komaforscher.

    "Es ist für uns Komaforscher wichtig, sich auch mit der Vollnarkose zu beschäftigen. Wir beobachten daher in Lüttich, wie sich dabei die Hirnfunktionen gesunder Versuchspersonen verändern. Das hilft uns besser zu verstehen, was bei Komapatienten geschieht."

    Es gibt Hirnregionen, die den Grad der Wachheit und Erregung steuern. Daneben existiert ein großes Bewusstseinsnetzwerk, das für die Inhalte des Bewusstseins zuständig ist. Ein Teil davon, das externe Netzwerk, verarbeitet Sinnesreize aus der Umwelt. Der andere Teil heißt internes Netzwerk und macht das Innenleben eines Menschen bewusst: Wie fühlt er sich gerade, woran erinnert er sich? In mehreren Studien untersuchte Steven Laureys, was in diesem Netzwerk unter Narkose passiert, wenn schrittweise immer mehr Propofol gegeben wird. Mit Hilfe der Kernspintomographie beobachtete er den veränderten Stoffwechselumsatz innerhalb und zwischen den Netzwerken.

    "Wir beobachten dabei zum Beispiel, dass die Aktivität, die die Nervenzellen im internen Bewusstseinsnetzwerk miteinander verbindet, zusammenbricht. Hier passiert etwas und nicht in den Systemen für Sinneserfahrung. Die Regionen zum Beispiel, die auf niederer Stufe Seh- oder Hörreize verarbeiten, sind intakt."

    Aber auch im externen Bewusstseinsnetzwerk bricht die Kommunikation zwischen den Nervenzellen ab, sodass sie nicht mehr auf Umweltreize reagieren. Insgesamt vermindert sich die Hirntätigkeit vor allem zwischen der Großhirnrinde, die für höhere geistige Leistungen zuständig ist, und dem birnenförmigen Thalamus, der als Schaltzentrale für Reize von außen dient. Thalamus und Großhirnrinde sind weniger aktiv und so schaltet das Gehirnsystem Schritt für Schritt vom Zustand "bewusst" in den Zustand "bewusstlos" um. Betroffen ist auch ein Areal, das mit bewusstem Selbstbezug, autobiografischen Erinnerungen und Sinnsuche verbunden ist: der so genannte Prekuneus. Laureys:

    "Diese Hirnregion ist bei Komapatienten am stärksten geschädigt. Der Prekuneus schraubt seine Aktivität aber auch unter Narkose massiv herunter, wenn jemand sein Bewusstsein verliert."

    Wie Emery Brown sieht also auch Steven Laureys eine große Nähe zwischen Narkose und Koma. Wenn das Bewusstsein zusammenbricht, geschieht Vergleichbares: Zentrale Hirnareale schalten in einen schwächeren Aktivitätszustand, kappen ihre Verbindung und schotten sich wie Inseln voneinander ab. Signale können dann nicht mehr über größere Strecken hinweg fließen.

    Wulf Peterke: "Sehr schön, die Patientin merkt gar nichts, schläft also wie ein Baby."

    In der Kölner Zahnarztpraxis ist die Einleitungsphase der Narkose inzwischen abgeschlossen. Die Patientin hängt mit dem Schlauch an der Beatmungsmaschine. Auf mehrere Ansprachen und Berührungen hat sie nicht mehr reagiert. Zahnarzt Wulf Peterke bereitet jetzt seinen Eingriff vor. Er gibt eine Klemme in den Mund der Patientin, damit er offen bleibt, und greift zur Zange.

    "Man würde jetzt merken, wenn die Patientin jetzt wach werden würde, was nicht der Fall ist, aber wenn, würde sie sofort Muskeltonus zeigen und wir würden augenblicklich merken, aha, die Patientin merkt was und kriegt davon was mit."

    Der Narkosearzt überwacht von nun an fortlaufend, ob der tiefe Narkosezustand anhält. Über Monitore kann er sehen, wie hoch der Blutdruck der Patientin ist, die Herzfrequenz, die Sauerstoffsättigung oder der Kohlendioxidgehalt in der Atemluft. Außerdem beobachtet er, ob sich am äußeren Erscheinungsbild der Patientin etwas ändert. Im Grunde, meint Gerhard Fock, sollte man nun nicht mehr viel an ihrer körperlichen Position verändern.

    "Das ist also merkwürdig: Lagerungswechsel beim Patienten in der Narkose. Wenn die Lage gewechselt wird, das scheint irgendwie ein starker Reiz zu sein, dass Patienten dadurch wach werden. Da wird geschnitten, da werden Zähne rausgezogen unter der gleichen Dosierung - ein Lagerungswechsel, schon wachen die auf! Da fragt man sich auch: Woran mag das liegen?"

    Bei der hohen Narkosedosis für medizinische Zwecke werden die Patienten schnell bewusstlos. Trotzdem können sie rasch wieder aufwachen, wenn man sie körperlich bewegt. Und in seltenen Fällen spüren die Patienten zwar keine Schmerzen, erinnern sich aber nach der Operation an das, was während der Operation geschah.

    Die Kommunikation zwischen Nervennetzwerken bricht zusammen, damit schaltet das Gehirn in den Zustand bewusstlos um. So besagen es die Ergebnisse von Steven Laureys. Studien von Emery Brown und anderen Forschern zeigen aber, dass das noch nicht die ganze Wahrheit ist. Auch Emery Brown gab Versuchspersonen Propofol in stufenweiser Dosierung. Er beobachtete die dabei eintretenden Hirnveränderungen allerdings nicht nur im Kernspintomographen. Ein Kernspintomograph misst die Veränderung des Sauerstoffgehalts im Blut, also einen Stoffwechselvorgang, der eher indirekt dokumentiert, wie aktiv Nervenzellen sind. Emery Brown dagegen registrierte auch direkt die elektrischen Ströme der Nervenzellen. Dabei entdeckte er im Thalamus Überraschendes.

    "Der Thalamus ist elektrisch aktiver, wenn jemand tief bewusstlos ist, als wenn er wach ist. Kann ich behaupten, dass ich das vorhergesagt hätte? Nein."

    Ein völlig anderes Ergebnis als in den Studien von Steven Laureys. Die Nervenzellen des Thalamus, die Emery Brown mit Hilfe des EEG studierte, gaben in relativ schnellem Rhythmus elektrische Signale von sich, sie oszillierten rasch. Emery Brown entdeckte noch mehr.

    "Einerseits oszillieren Nervenzellen im sogenannten Alpha-Rhythmus von etwa zehn Schwingungen pro Sekunde. Dieser Rhythmus ergreift sowohl den Thalamus wie den Cortex und sorgt dafür, dass dort nur schwer Informationen weitergegeben werden können. Wir fanden aber auch langsame Oszillationen, die es ebenfalls erschweren, dass Hirnregionen Informationen austauschen. Diese beiden Prozesse verhindern den Informationsaustausch im Gehirn."

    Der Alpha-Rhythmus versklavt die Tätigkeit der Nervenzellen in den höheren Hirnregionen Er zwingt sie dazu, synchron zu feuern, sie schwingen im gleichen Takt. Da sie gleichgeschaltet sind, besitzen sie keinen Handlungsspielraum. Sie werden inflexibel und können Informationen weder aufnehmen noch weitergeben. Emery Brown ist überzeugt: Die hohe Synchronisation der Nervenzellaktivität führt dazu, dass das Bewusstsein schwindet.

    Klar ist für Emery Brown auch: Nur in leichten Narkosezuständen ähnelt die Narkose dem Schlaf, die tiefe Narkose aber unterscheidet sich deutlich von ihm. Zwar tauchen auch im Tiefschlaf vergleichbar hochsynchrone Schwingungen auf. Aber sie laufen vor allem im Deltabereich , also in anderen Frequenzen und auch in anderen Hirnregionen ab. Und im tiefstmöglichen Zustand der Narkose, wenn die Patienten überhaupt keine Reaktionen mehr zeigen, wird der Unterschied überdeutlich. Brown:

    "In der tiefsten Narkose treten in einigen Gebieten nur noch sporadisch Hirnwellen auf. Diese Hirnregionen tendieren also dazu, überhaupt nicht mehr aktiv zu sein, sie zeigen ein fast stilles EEG. Wir nennen das burst suppression. Es macht einen der Hauptunterschiede zwischen Schlaf und Vollnarkose aus: Im Schlaf tritt niemals burst suppression auf."

    Gernot Supp: "Wir glauben, dass dieser abnormale hoch synchrone neue Rhythmus, der in den frontalen Arealen entsteht, eine Auswirkung hat auf die Ausbreitung von Information in den sensorischen Systemen."

    Emery Brown beobachtete, dass seine Versuchspersonen nicht mehr auf Töne reagierten, sobald der synchrone Alpha-Rhythmus im Gehirn auftauchte. Gernot Supp vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf hat diese Ergebnisse von Emery Brown bei Tastgefühlen bestätigt. Sein Team hat den Mechanismus dabei näher untersucht. Die Forscher verabreichten Versuchspersonen in siebenfacher Abstufung Propofol. Auf jeder dieser Stufen erhielten die Probanden elektrische Reize.

    Supp: "Keine Schmerzreize, das waren normale Reize am Handgelenk."

    Je tiefer die Versuchspersonen hinwegdämmerten, desto stärker wurde in den höheren Hirnregionen wieder der Alpha-Rhythmus und die Nervenzellen synchronisierten sich. Gleichzeitig verringerten schrittweise auch solche Hirnregionen ihre Aktivität, die Sinnesreize verarbeiteten. Zum Schluss feuerte nur noch die Eingangsstufe für Sinnesreize im Gehirn, die überhaupt registriert, dass Reize auf die Hand auftreffen. Die späteren Verarbeitungsstufen, die aus den Reizen erlebbare Druckempfindungen machen, reagierten nicht mehr. - Das Gehirn nahm also noch etwas auf, hielt es aber vom bewussten Erleben fern.

    Gernot Supp: "Wir können bei jedem einzelnen Reiz zeigen, dass wenn die Alpha-Aktivität stark ist, dann kommt es zu einer Reduktion der späten sensorischen Antworten. Und das ist für uns ein Hinweis, dass diese beiden Phänomene wirklich kausal miteinander zusammenhängen können. Das ist kein letzter Beweis, aber es ist ein starker Hinweis."

    Für Emery Brown und Gernot Supp zeichnet sich folgendes Bild: Hirnfunktionen brechen in der Narkose nicht in dem Sinne zusammen, dass sie einfach abgeschaltet werden. Vielmehr verändern sich Rhythmen im Gehirn, Nervenzellen werden zu synchronen Zwangsgemeinschaften versklavt und Feedbackkreisläufe stellen die Arbeit ein. Die Bewusstseinsnetzwerke werden dadurch unfähig, Reize weiterzuverarbeiten. Dass die Hirnscan-Analysen von Steven Laureys zunächst den Eindruck erweckten, als würden weite Teile des Gehirns während der Narkose völlig inaktiv, lässt sich leicht erklären. Supp:

    "Funktionelle bildgebende Verfahren beruhen eben auf der Stoffwechselleistung des Gehirns und diese hochsynchronen Aktivitätszustände brauchen offenbar weniger Stoffwechselenergie und deshalb sehen wir auf Basis der Bildgebung eine Abnahme der Grundaktivität."

    Steven Laureys, Emery Brown und Gernot Supp untersuchten vor allem höher gelegene Hirnareale. Was aber passiert in den Hirnregionen unterhalb von Großhirnrinde und Thalamus? Tief im Gehirn liegt eine daumengroße Region, die für das Überleben des Menschen unentbehrlich ist: der Hirnstamm. Er steuert Reflexe wie Husten und Schlucken genauso wie den Blutdruck, die Herzfrequenz oder die Atmung. Außerdem ist er daran beteiligt, den Grad der Wachheit zu regulieren. Professor Bertram Scheller, Anästhesist am Universitätsklinikum Frankfurt am Main, wollte wissen, was dort unter Narkose passiert. Er spielte 156 Versuchspersonen Klicklaute vor und verabreichte ihnen verschiedene Narkotika. Dann beobachtete sein Team, wie sich die EEG-Wellen aus dem Hirnstamm veränderten. Die Forscher konzentrierten sich dabei auf jeden einzelnen Ausschlag und analysierten Hunderttausende davon.

    "Das Ergebnis ist eine Erhöhung der Präzision in dieser Hirnstammantwort in diesen Einzelreizen. Also, die kommen noch getakteter während tiefer Anästhesie. Und interessanterweise ist eben die elektrische Aktivität auch gar nicht weg, so wie das früher immer vermutet wurde, sondern das kommt präzise, ganz präzise auf die akustischen Reize."

    Auch im Hirnstamm verändert sich unter der Narkose der Zeittakt, in dem Nervenzellen antworten. Während das Zusammenspiel der Nervenzellen in den höheren Hirnregionen gleichgeschaltet wird, feuern auch die einzelnen Neuronen im Hirnstamm immer regelmäßiger. Bewusstsein scheint also im ganzen Gehirn mit flexibler Koordination zu tun zu haben - Bewusstlosigkeit dagegen mit übertriebener Koordination und Gleichschaltung. Bertram Scheller bevorzugt daher ein umgreifendes Erklärungsmodell der Narkose: Bewusstseinsverlusts beruht darauf, dass die zeitliche Ordnung im Gehirn insgesamt aus den Fugen gerät.

    "Man kann viele Hypothesen generieren, deswegen haben wir wahrscheinlich auch noch keine endgültige Antwort darauf. Die eine ist, und das ist das entscheidende, warum ich dieser Hypothese anhänge, ist, dass ich sage: Das sind so schnelle Prozesse, das Einschlafen und das Aufwachen, dass ich nicht wirklich denke, dass man einzelne Areale komplett ausschaltet, sondern ich glaube, dass man die Dynamik in diesem Netzwerk, also das Sprechen einzelner Areale miteinander stört. Und die Vorstellung kann eben sein, dass wir durch tiefe Narkose diese zeitlichen Strukturen, mit denen das Gehirn normalerweise arbeitet, durcheinander wirbeln und der Informationstransport zwischen den einzelnen Hirnarealen vielleicht funktioniert, aber die Informationen zu spät oder zu früh in einzelne Bereiche gehen, dadurch verloren gehen und dass das ganz essenziell ist, dass wir diesen geordneten Informationstransport haben im Gehirn."

    Narkose schaltet das Bewusstsein nicht wie ein Schalter ab, sondern erzeugt einzelne Inseln, die sich in ihren Entladungsrhythmen immer mehr voneinander abkoppeln. Bei hoher Dosierung kann das Bewusstsein innerhalb von Sekunden verloren gehen - im Gehirn aber vollzieht sich dieser Vorgang in feinen Schritten. Gernot Supp:

    "Wir gehen eigentlich davon aus, dass es schon ein Kontinuum gibt zwischen Wachheit und Bewusstseinsverlust. Wir können eben auch zeigen, dass diese hochsynchrone Alpha-Aktivität jetzt nicht ein oder ausgeht, sondern die verhält sich eben genau so wie der Bewusstseinsverlust. Also die wird immer stärker und stärker und stärker. Das ist nicht ein Prozess, der einfach ein und aus geht."

    Steven Laureys: "In den 80er- und 90er-Jahren betrachteten wir das Bewusstsein noch als Alles-oder-Nichts-Phänomen. Inzwischen wissen wir, dass es sich um ein graduelles Phänomen handelt. Wir müssen dementsprechend unsere Definition verbessern und uns anstrengen, den neuronalen Code des Bewusstseins vollständig zu knacken. Wir müssen diese sehr feinen Bewusstseinszustände besser verstehen: den der Wachheit, des bewussten Gewahrseins, des Gewahrseins unserer Selbst und der Umgebung."

    In der Kölner Praxis hat Zahnarzt Wulf Peterke seinen Eingriff inzwischen erfolgreich beendet. Komplikationen gab es keine. Narkosearzt Gerhard Fock beendet daher die Zufuhr von Propofol.

    "Ich sehe anhand des Blutdrucks, der wird ja praktisch alle fünf Minuten gemessen, mit dem Anstieg des Blutdrucks wird der Patient immer wacher."

    Der Körper der Patientin spannt sich allmählich. Sie kann jetzt wieder selbständig atmen und zuckt leicht mit den Wimpern. Gerhard Fock zieht ihr den Tubus aus dem Rachen.

    "Schön gut durchatmen, schön gut durchatmen, ganz tief ein und ausatmen."

    Normalerweise wachen Patienten nach einer Vollnarkose innerhalb von Minuten wieder auf. Sie sind dann noch leicht desorientiert und verbringen einige Zeit unter Aufsicht im Aufwachraum, bevor sie wieder richtig bewegungsfähig sind. Danach sollen sie sich noch etwas schonen, aber normalerweise sind sie danach nicht mehr beeinträchtigt. Es gibt aber auch die anderen Fälle. Manchmal müssen die Ärzte stundenlang warten, bis ein Patient wieder zu sich kommt. Und nach einer amerikanischen Studie weist mehr als ein Drittel aller Patienten kurz nach einer Vollnarkose noch Störungen auf: Sie haben Erinnerungs-, Sprach- und Konzentrationsprobleme, manchmal sind sie auch leicht verwirrt.Bei den über 60jährigen sind davon kurzfristig etwa 40 Prozent betroffen, nach drei Monaten immerhin noch 13 Prozent.

    Die Zahlen dieser Studie, die 1000 Patienten untersuchte, sind nicht unumstritten, aber kein Narkosearzt bestreitet, dass das Problem existiert. Bei den älteren Patienten wird darauf verwiesen, dass ihr Körper den Stress der Narkose vielleicht nicht so gut verkraftet. Aber insgesamt sind die Phänomene ungeklärt. Außerdem zeigten Studien an jungen Tieren: Bei Vollnarkose sterben in ihrem noch nicht voll entwickelten Gehirn Nervenzellen ab. Könnte das auch passieren, wenn man Säuglinge und sehr kleine Kinder unter Narkose setzt? Bertram Scheller:

    "Das ist eine Frage, der wir uns stellen müssen und wir müssen uns diese Frage gefallen lassen."

    Bertram Scheller vom Universitätsklinikum Frankfurt glaubt: Der Blick ins Gehirn kann helfen, die offenen Fragen der Anästhesie zu beantworten.

    "Es geht bei dieser ganzen Netzwerkidee darum, dass man sagt, man macht ein Ungleichgewicht, wie diese einzelnen Neurone, die ja immer miteinander sprechen können, erregt werden."

    Wenn das zeitliche Zusammenspiel der Nervenzellen durch die Narkose in Unordnung gerät, werden die einzelnen Zellen anders beansprucht und mit ihnen auch die Ingredienzien der Kommunikation: Die chemischen Botenstoffe, die so genannten Transmitter, und die Rezeptoren, die Empfangsstrukturen an den Nervenzellen.

    "Da wissen wir noch nicht genau, was im Gehirn passiert, man kann sich aber vorstellen, wenn man dieser Netzwerkhypothese anhängt, dass es durch die langfristige Gabe zu einem Ungleichgewicht von Transmittern kommt. Und nicht nur Transmittern, sondern wenn man lange diese Medikamente gibt - das ist noch völlig hypothetisch - dass die Rezeptoren sich verändern in ihrem Auftreten."

    Die Narkose hätte dann also das Gehirn nachhaltig verändert. Viel Arbeit für die Zukunft. Wie aber soll man nun nach den bisherigen Ergebnissen der Hirnforschung die Narkose bezeichnen? Die tiefe Vollnarkose ist wohl tatsächlich mehr als Schlaf - aber ist sie deswegen nichts anderes als ein reversibles Koma? Gernot Supp stimmt Emery Brown zu, wenn dieser kritisiert, dass man Narkose nicht mit dem Schlaf gleichsetzen dürfe. Aber er differenziert auch: In ihren leichten Zuständen ist die Narkose schlafähnlich, in der tiefsten Phase ähnelt sie eher dem Koma. Und in den hochsynchronen Zwischenphasen ist sie für ihn etwas ganz Eigenes.

    "Aus meiner Sicht hat Anästhesie zu viele Alleinstellungsmerkmale , als dass man sie in eine der beiden Kategorien packen kann. Ich glaube, inzwischen muss man Anästhesie in eine eigene Kategorie geben, obgleich Anästhesie sowohl Eigenschaften hat von Koma als auch Eigenschaften hat von Schlaf."

    Und was macht Emery Brown, wenn er von seinen Patienten gefragt wird? Sagt er ihnen wirklich ohne mit der Wimper zu zucken: "Sie werden nicht schlafen, sondern ins Koma fallen!"

    "Ich sagen ihnen: wir versetzen Sie jetzt in einen Zustand, in dem Sie unbewusst sind, an den Sie sich nicht erinnern und in dem Sie keine Schmerzen spüren werden. Währenddessen halten wir Ihre Herzrate und Ihren Blutdruck stabil – ich erzähle ihnen einfach die Definition der Vollnarkose."

    Gerhard Fock: "Sehr gut, es ist alles fertig, okay - gut geschlafen?"