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Manuskript: Vergessen

Die Erinnerung an die erste Liebe, die Fähigkeit, schreiben zu können, das Wissen, wer ich bin, - all das ist im Gedächtnis gespeichert. Wie aus Sinneseindrücken, Gefühlen und Denkprozessen Erinnerungen werden, versuchen Forscher nun schon seit Jahrzehnten zu verstehen. Dabei zeichnet sich ab: Es sind die Amnesiepatienten, die die  Forschung einen großen Schritt voranbringen können.

Von Kristin Raabe | 20.01.2013
    Jonathan Overfeld: "Ich saß in Hamburg auf der Bank und wusste gar nichts. Ich wusste nicht einmal, dass es eine Bank war, auf der ich saß, ich wusste nicht einmal, dass es ein Park war oder ein Baum."

    Es ist April 2005. Der Mann, der auf einer Bank im Hamburger Park Planten un Blomen sitzt, hat sein Gedächtnis verloren. Wie er auf die Parkbank gelangte, wer er ist – all das will ihm nicht einfallen. Nach einer Weile kehrt zumindest ein Teil seines verlorenen Wissens zurück. Overfeld:

    "Da wusste ich: 'Bank', 'Parkbank'. Ein Park, Baum, - dahinten ist ein Café, da sind Menschen, da musst du jetzt hin. Ich war ganz irritiert, Herzrasen, und war klitschnass geschwitzt. Ich habe keinen Kontakt gefunden zu den Menschen, ich habe die alle angeguckt, die waren alle irritiert, haben sich weggedreht. Ich habe mich dazugesetzt und gedacht: Irgendjemand wird schon kommen und dich ansprechen. Ich wusste ja meinen Namen nicht, wusste gar nichts."

    Die Erinnerung an die erste Liebe, die Fähigkeit, schreiben zu können, das Wissen, wer ich bin, all das ist in unserem Gedächtnis gespeichert. Wer den Menschen verstehen will, muss begreifen wie aus Sinneseindrücken, Gefühlen und Denkprozessen Erinnerungen entstehen. Christoph Ploner:

    "Was bin ich noch, wenn ich kein Gedächtnis mehr habe? Was bleibt von meiner Persönlichkeit, von meiner Biographie übrig, wenn ich kein Wissen mehr darüber habe, wie mein Leben vorher stattgefunden hat, wenn ich nicht mehr in der Lage bin, neues Wissen zu erwerben?"

    Die Gedächtnisforschung begann in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts mit einem Mann, der sein Erinnerungsvermögen verloren hatte: Henry Gustav Molaison, jahrzehntelang bekannt unter der Abkürzung Patient HM, wird am 26. Februar 1926 in den USA geboren. Bereits als Jugendlicher leidet er unter schweren epileptischen Anfällen. Kein Medikament kann ihm helfen. Mit 27 Jahren trifft er schließlich auf den Neurochirurgen William Beecher Scoville. Der vermutet den Ursprung der Anfälle in den Schläfenlappen der Großhirnrinde seines Patienten. Am Hartford Krankenhaus in Connecticut entfernt er ihm schließlich einen großen Teil des inneren Schläfenlappens, darunter auch eine Struktur, die wie ein Seepferdchen geformt ist und deswegen "Hippocampus" genannt wird. Niemals zuvor ist bei einem Menschen der Hippocampus in beiden Hirnhälften so massiv beschädigt worden. Henry Gustav Molaison verliert mit diesen zwei Stücken Hirngewebe auch sein Gedächtnis. Ploner:

    "Unmittelbar postoperativ fiel schon auf, dass er sich nicht mehr in seinem Zimmer zurechtfand. Man hatte das zunächst auf ein vorübergehendes Durchgangssyndrom geschoben, aber es wurde mit dem Verstreichen der Tage klar, dass das ein anhaltender Zustand war. Er konnte keine biographischen Details mehr berichten, wusste nichts über seine Familie, die Wohnung in der er gelebt hat, seine berufliche Entwicklung. Und das betraf dann zunächst auch anscheinend alle Gedächtnisinhalte, die postoperativ erworben wurden, egal ob das jetzt Ereignisse waren oder Personen, die er neu kennengelernt hatte, oder ob es ein Faktenwissen ist, Gegenstände, räumliche Informationen. All diese Dinge konnte er nicht mehr behalten."

    Christoph Ploner behandelt an der Charité in Berlin selbst Patienten, die einen Gedächtnisverlust erlitten haben. Auch für jemanden mit seiner Erfahrung wäre Patient HM ein außergewöhnlicher Fall gewesen.

    Die Psychologin Brenda Milner beginnt schon kurz nach der Operation, das verbliebene Gedächtnis von Henry Molaison gründlich zu untersuchen. An alle öffentlichen Ereignisse vor seiner Operation kann sich ihr Patient noch erinnern. Alle Episoden aus seinem privaten Leben hat er jedoch vergessen. Viel stärker beeinträchtigt ihn aber seine Unfähigkeit neue Gedächtnisinhalte zu bilden. Jeder neue Tag ist für ihn der 2. September 1953, er ist 27 Jahre alt und es ist der Tag nach der Operation. Brenda Milner wird klar: Der Hippocampus, der Henry Molaison fehlt, ist wichtig für die dauerhafte Abspeicherung von Gedächtnisinhalten. Die junge Psychologin entwickelt schließlich ein Konzept vom Kurzzeitgedächtnis, in dem Inhalte nur für Minuten gespeichert werden, und dem Langzeitgedächtnis, das für die dauerhafte Abspeicherung von Erinnerungen zuständig ist. 1957 veröffentlicht Milner ihre Ergebnisse und Patient HM geht in die Geschichte der Medizin ein. Christoph Ploner:

    "Zu der Zeit gab es ja auf der einen Seite die Neurologie und auf der anderen Seite, die experimentelle Psychologie, die aus der Philosophie kam, und das waren zwei völlig getrennte Welten und das hatte nichts miteinander zu tun und das sich praktisch diese aus der Geisteswissenschaft kommende Tradition der Gedächtnisforschung und die Neurologie, Neurowissenschaft getroffen haben, das ist eigentlich erst mit dieser Publikation 1957 von HM der Fall gewesen."

    Jonathan Overfeld: "Dann bin ich aufgestanden und gelaufen, gelaufen und gelaufen und dann habe ich ein Haus gesehen, das genauso aussah oder so ähnlich – dachte ich, das wäre mein Haus, wo ich wohne. Bin ich dann an die Tür, habe nach den Namensschildern geguckt. In dem Moment kommt dann eine junge Dame raus – voll mit Gold behangen – ob ich jemand suche. ..Dann habe ich ihr gesagt: 'Ja, ich suche mich selbst.' Dann hat die mich in den Arm genommen und mich zur Polizei gebracht. Einfach so, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt."

    Als namenloser Patient landet der Mann aus Hamburg in einer psychiatrischen Klinik. Es befinden sich keine Spuren von Drogen, Alkohol oder Medikamenten in seinem Blut. Eine körperliche Ursache für seinen Gedächtnisverlust scheint es nicht zu geben. Manche in der Klinik halten ihn für einen Simulanten, der nur Aufmerksamkeit sucht.

    "Der Oberarzt sagte dann irgendwann mal: 'Wir könnten die Pressekonferenz hier einberufen, vielleicht kennt Sie ja irgendjemand. Dann kommen Sie in Zeitung, Fernsehen und irgendjemand wird sie schon erkennen.' 'OK', sage ich 'machen wir.' Dann kam das wohl in den Medien und dann haben sich viele Leute gemeldet: Ja das ist der Jonathan aus Berlin. Ja, und dann wusste man erst einmal, wer ich bin. Aber das hat mir erst einmal alles nichts gesagt. Dass ich Jonathan heiße, oder Overfeld. OK, wenn das so ist, dann heiße ich so."

    Ein Labor in der Klinik für Neurologie der Charité in Berlin. Eine junge Frau sitzt vor einem Computermonitor auf der immer mal wieder bunte Kästchen erscheinen. Der Neurologe Carsten Finke will damit ihr Gedächtnis testen. Ähnlich wie HM litt auch sie unter epileptischen Anfällen und es wurde ihr ein Teil ihres Schläfenlappens – darunter auch der Hippocampus entfernt. Wird diese Operation nur auf einer Seite des Gehirns durchgeführt, ist den Patienten meist nichts anzumerken. Carsten Finke:

    "Sie gehen ihren Berufen nach, sie haben ein ganz normales Familienleben, sie können Ihnen auch berichten, was sie im Urlaub gemacht haben, können sich auch merken, was sie abends noch einkaufen wollen. Aber wenn man sie dann ganz gezielt untersucht, dann offenbaren sich eben doch Gedächtnisdefizite, die wir dann eben hier untersuchen."

    In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts nutzte die Gedächtnisforschung vor allem die Möglichkeiten der neuen bildgebenden Verfahren, wie beispielsweise der Kernspintomographie. Sie arbeiteten vor allem mit Gesunden. Allerdings nutzen gesunde Versuchspersonen eine Vielzahl von Strategien, um sich Dinge zu merken. Und das kann die Ergebnisse verzerren. Deswegen untersuchen Gedächtnisforscher wie Christoph Ploner und Carsten Finke zunehmend wieder Patienten mit Amnesien.

    Bei dem Experiment, das sie gerade durchführen, erscheint auf dem Computermonitor eine Gruppe von verschiedenfarbigen Kästchen, die schnell wieder verschwinden. Nach einer Pause von wenigen Sekunden erscheint ein einzelnes Kästchen. Nur, wenn Farbe und Position mit den Merkmalen eines Kästchens aus der vorher erschienen Gruppe übereinstimmt, sollen die Versuchspersonen eine Taste drücken. Bei diesem Test kommt es auf das räumliche Kurzzeitgedächtnis an. Im Fokus: der wie ein Seepferdchen geformte Hippocampus. Finke:

    "Der Hippocampus spielt für Navigation und für räumliches Gedächtnis eine ganz zentrale Rolle. Das machen wir ständig, wenn wir uns nur einen Weg merken wollen, wie wir jetzt zu einem bestimmten Ort kommen wollen, oder wenn wir uns merken wollen, wo haben wir jetzt gerade die Brille in der Wohnung hingelegt, dann brauchen wir genau diese Form von räumlichem Gedächtnis."

    Ist der Hippocampus auf einer Seite beschädigt, haben die Versuchspersonen Probleme mit solchen Aufgaben. Das Ergebnis überrascht: Die Lehrmeinung besagt immer noch, dass der Hippocampus nur für das Langzeitgedächtnis, die langfristige Abspeicherung von Gedächtnisinhalten, zuständig ist. Das Experiment fordert jedoch nur das räumliche Kurzzeitgedächtnis. Ganz offensichtlich scheint auch hier – beim kurzfristigen Erinnern – die Hirnregion eine wichtige Funktion zu haben. Warum sich die Verletzungen im Alltag kaum bemerkbar machen, zeigte sich erst durch weitere ausgeklügelte Experimente. Finke:

    "Was die Patienten eben nicht mehr können, ist die räumlichen Informationen so abzuspeichern, dass sie eben unabhängig von der eigenen Position sind. Sie können sie nur noch in Bezug auf die eigene Position fehlerfrei abspeichern. Wenn sie aber die räumliche Information in Relation zu anderen im Raum befindlichen Landmarken abspeichern sollen, dann haben sie da ein relatives Defizit."

    Das menschliche Gehirn benutzt ständig verschiedene Strategien, um alltägliche Aufgaben zu lösen. Wir können uns beispielsweise merken, dass wir die Kaffeetasse zwischen Schreibtischlampe und Aktenordner abgestellt haben. Oder wir merken uns, dass sie etwa 30 Zentimeter neben unserem rechten Arm steht. Funktioniert nur noch eine dieser Merkstrategien, fällt das im Alltag nicht unbedingt auf.

    Nachdem klar ist, dass Jonathan Overfeld vor seinem Gedächtnisverlust in Berlin gelebt hat, wird er an die dortige Universitätsklinik Charité verlegt. In den historischen Gebäuden steht in einem der Gänge ein Klavier, das Jonathan Overfelds Aufmerksamkeit erregt.

    "Kiste aufgemacht, reingeguckt, die Tasten aufgedeckt und da kam mir was. Dann habe ich mich dorthin gesetzt, erst einmal mit einem Finger Bim, Bim, Bim, Bim , dann mit zwei und mit der ganzen Hand - auf einmal spiele ich und spiele…"

    Dass er Klavierspielen kann, wusste Jonathan Overfeld bis dahin noch nicht. Er spielt das Ave Maria aus Johann Sebastian Bachs "Das Wohltemperierte Klavier":

    "In diesem Moment kam meine erste Erinnerung an das Konzert in Emden …Da war ich sechs als ich das erste öffentliche Konzert gegeben habe. Während des Spiels kam die Erinnerung an meine erste Vergewaltigung. Das kann nicht sein. Das ist ein Alptraum, aber so detailliert und klar. Ich habe die Gesichter erkannt, gesehen, die Stimme."

    Es sind furchtbare Erinnerungen, die in diesem Moment in Jonathan Overfeld aufsteigen. Aber nach und nach kann er seine Kindheit rekonstruieren. Es ist eine Geschichte von sexuellem Missbrauch, Heimaufenthalten und einer besonderen musikalischen Begabung, die kaum jemand glauben will. Den Beweis, dass Jonathan Overfeld nicht lügt, soll der bekannteste Gedächtnisforscher Deutschlands liefern.

    "Dann kam die Geschichte mit Professor Markowitsch. Hat mir natürlich wehgetan, dass man mir nicht traut. Aber irgendwo heute nachvollziehbar und verständlich. Gott sei Dank hat der mich ausführlich getestet und auch eindeutig alles bildlich dargestellt. Und gesagt, das ist eindeutig, dass da eine Amnesie ist."

    Amnesien können ganz verschiedene Ursachen haben. Ein Schlaganfall kann Hirngewebe zerstören oder ein Verkehrsunfall. Dabei ist nicht jede Amnesie gleich. Einigen Patienten fehlen Teile ihrer Lebensgeschichte, andere können sich an alles Private erinnern, sind aber nicht mehr in der Lage neue Informationen abzuspeichern. Welche Formen eine Amnesie annehmen kann, hat der Bielefelder Psychologe Hans Markowitsch untersucht. Dabei begegneten ihm immer wieder auch Patienten, die keine Verletzungen im Gehirn oder irgendwelche anderen körperlichen Veränderungen aufwiesen.

    "Was wir bei denen eben auch gefunden hatten, dass die praktisch ohne Ausnahme eine schwierige Kindheit gehabt hatten, meistens Waisenkinder. Also jeder Fall ist da eigentlich was Besonderes in der Richtung. Man kann sagen, dass die durch die frühkindlichen negativen Erlebnisse so etwas wie eine dünne Haut gekriegt haben, also anfälliger wurden gegen weitere Stresssituationen."

    Dahinter könnte eine Art Schutzmechanismus stecken – als wollte das Gehirn die Betroffenen vor ihren eigenen allzu belastenden Erinnerungen bewahren. Vermutlich lässt sich der Effekt auf die Wirkung von Stresshormonen zurückführen. Gerade die Hirnstrukturen, die für das autobiographische Gedächtnis wichtig sind, enthalten viele Bindungsstellen für Stresshormone. Auf diesem Wege könnte also Stress die Erinnerungen an das eigene Leben verschwinden lassen. Das so genannte Faktengedächtnis bleibt dabei meistens erhalten. Hans Markowitsch testet das bei seinen Versuchspersonen, indem er ihnen Fotos von Politikern oder anderen Personen der Zeitgeschichte vorlegt.

    Jonathan Overfeld: "Alles, was irgendwie mit Emotionen zu tun hatte, war weg. Knallharte Fakten – Merkel, Adenauer. Klar, alles klar. Auch die Geschichten dazu. Und dann irgendwelche Merkaufgaben und Gedächtnisaufgaben. Es war wohl eindeutig, dass das biographische Gedächtnis weg ist und alles andere war vorhanden."

    Hans Markowitsch: "Das wundert alle Leute, wenn so jemand nichts über sich selbst weiß, aber sagen kann, wer Harald Juhnke war, oder weiterhin Lesen, Schreiben, Rechnen kann. Das zeigt für uns, dass das autobiographische Gedächtnissystem auf Hirnebene recht anders organisiert sein muss, wie die anderen Gedächtnissysteme."

    Hans Markowitsch konnte nachweisen, dass das autobiographische Gedächtnis sich in der rechten Hälfte der Großhirnrinde befindet. Das war überraschend, denn Sprache liegt in der linken Hirnhälfte und lange gingen Hirnforscher davon aus, dass Sprache für das Erinnern wichtig ist und somit auch das autobiographische Gedächtnis in dieser Hirnhälfte anzusiedeln ist. Aber offenbar ist für diese Gedächtnisform die emotionale Bewertung wichtiger und die wird eben in der rechten Hirnhälfte vollzogen. Mit bildgebenden Verfahren wie der Kernspintomographie konnte der Bielefelder Psychologe auch darstellen, wo im Gehirn der Patienten die Erinnerung blockiert wird. Markowitsch:

    "Wir haben dann mit weiteren Patienten gefunden, dass insbesondere Regionen zwischen rechtem frontalen Schläfenlappen und rechtem Stirnhirn nicht richtig arbeiten."

    Diese Hirnregionen blockieren wahrscheinlich die tiefer gelegenen Hirnteile, die für das autobiographische Gedächtnis wichtig sind. Dazu gehören Teile der Großhirnrinde, der Hippocampus, aber auch die so genannte Amygdala. Dieser Hirnbereich ist wie eine Mandel geformt und für den emotionalen Anteil von Erinnerungen zuständig. Gelöscht ist das Gedächtnis nicht. Bei einem seiner Patienten gelang es Hans Markowitsch schließlich, die Erinnerungen zurückzuholen:

    "Mit dem haben wir dann relativ viel an Therapie gemacht. Verschiedene Formen, Gesprächstherapie, Psychotherapie plus Geben von Antidepressiva. Erst einmal ist da nichts passiert. 'Erst einmal' heißt die ersten acht Monate nicht, und da hätten die meisten wohl schon aufgegeben und wir haben dann auch noch weitergemacht und zwischen achtem und zwölftem Monat kamen die Erinnerungen wieder und dann haben wir nach gut zwölf Monaten auch wieder eine Hirnaufnahme gemacht und haben dann auch gefunden, dass das Gehirn wieder normal arbeitet, also so dass das Gehirn wieder ein Korrelat hat für den Erfolg der Therapie, dass dann das Gehirn auch wieder aktiv ist."

    Gehirn - Gedächtnis - Gefühle – Verhalten – all das hängt untrennbar miteinander zusammen. Wie muss es sich anfühlen, wenn die Vergangenheit einfach weg ist? Hans Markowitsch:

    "Den Leuten fehlt sehr viel Entscheidendes. Nämlich das, was die Persönlichkeit aus unserer Perspektive zentral ausmacht: Die Möglichkeit zu wissen, wer bin ich, was macht mich aus, wie verhalte ich mich. Das komische ist, bei den psychogen amnestischen Patienten, dass es denen nicht so viel ausmacht, wie man von außen meint, es ihnen ausmachen sollte."

    Jonathan Overfeld: "Ich habe direkten Zugriff auf meine Kindheit und Jugend, weil alles Gespeicherte vom 22. Lebensjahr bis zu meinem 54. Lebensjahr alles weg ist. Da muss sich das Gehirn nicht durchwühlen. Das kann direkt auf meine Kindheit zugreifen. Wenn ich mich heute erinnere an meine Zeit in meiner Kindheit und Jugend, dann ist das heute so als wäre das vor einem Jahr gewesen."

    Immer wenn Jonathan Overfeld Klavier spielte, kamen neue furchtbare Erinnerungen hoch. Er war Heimkind in einer katholischen Erziehungsanstalt, wurde dort regelmäßig sexuell missbraucht und körperlich misshandelt.

    "Ich wünschte, ich würde mich an gar nichts mehr erinnern. An gar nichts. Das wäre, glaube ich, angenehmer. Ich meine heute geht es. Aber ich bin nicht sicher, ich kann jeden Tag wieder umfallen."

    Henry Molaison, der als Patient HM zur weltweiten Berühmtheit wurde, leidet selbst nicht unter seinem Gedächtnisverlust. Er hatte vergessen, was es bedeutet, ein Gedächtnis zu haben. Weil bei seiner Operation auch die Amygdala entfernt wurde, fehlt ihm die Fähigkeit, sein Leben emotional zu bewerten. Er soll die meiste Zeit freundlicher Stimmung gewesen sein. Seine Psychologin Suzan Corkin macht in den 90er Jahren einige Tonaufnahmen mit ihm gemacht und ihn auch gefragt, ob er glücklich sei. – Er ist glücklich.

    "Are you happy?"
    
"Yes, the way I figure it is good, what they find out about me helps them to help other people."

    Henry Molaison will der Forschung und damit auch anderen Menschen helfen. Das ist auch der Grund, warum er sein Gehirn nach seinem Tod zur Verfügung stellt. Am 2. Dezember 2008 stirbt er im Alter von 82 Jahren in einem Pflegeheim. Sein Gehirn wird schon einen Tag später von dem Neuroanatomen Jacopo Annese entnommen und in sein Labor nach San Diego gebracht. Dort schneidet der Wissenschaftler es in 70 Mikrometer dünne Scheiben. Dabei machen Jacopo Annese und sein Team keine Pause. Sie brauchen 53 Stunden, um das Gehirn von Patient HM in 2401 Scheiben zu zerlegen.

    Jacopo Annese: "Die große Frage bei HM war immer, wie sein Gehirn wirklich aussieht. Denn zu dem Zeitpunkt als er seine schicksalhafte Operation hatte, gab es noch keine bildgebenden Verfahren, die einen Blick in seinen Kopf erlaubt hätten. Was also war ganz genau in seinem Gehirn passiert, das ihn so besonders machte? Als Neuroanatom ist es meine Aufgabe, sein Gehirn so aufzubereiten, dass es genauer untersucht werden kann. Gedächtnisforscher müssen diese Gehirnschnitte dann interpretieren."

    Es sind noch lange nicht alle Untersuchungen der Hirnschnittpräparate von Patient HM abgeschlossen. Vor allem interessieren sich die Forscher heute für die Verbindungen zwischen den einzelnen Hirnteilen. Annese:

    "Den Neurowissenschaftlern geht es nicht mehr so sehr darum, irgendeine Funktion in der Großhirnrinde nachzuweisen, sie interessieren sich mehr für die Verbindungen zwischen den einzelnen Bereichen. Wenn man sich das Gehirn wie eine Stadt vorstellt, dann haben wir früher auf die Landmarken dieser Stadt geachtet, wo steht beispielsweise eine große Kirche, heute schauen wir uns die Verkehrswege an. Wie kommen die Leute in dieser Stadt in die Kirche, wo gehen sie zum Essen hin – das ist es doch, was das Leben in einer Stadt ausmacht."

    Mit der ausführlichen Untersuchung von Patient HM hat die moderne Gedächtnisforschung ihren Anfang genommen. Nun wird mit seinem Gehirn auch eine zweite Umwälzung vorangetrieben: die Erforschung der Netzwerke im Gehirn. Christoph Ploner:

    "Ich glaube, das, was sich geändert hat, ist die Sichtweise auf das Gedächtnis. Was vielleicht vor ein paar Jahren noch vorherrschte, dass es irgendwo eine Schublade im Gehirn gibt, wo ein Stapel von Aufzeichnungen drin liegt, die man nach Bedarf rausholen kann, und manchmal klemmt die Schublade eben ein bisschen und dann kriegt man die Informationen inkomplett raus oder eine Seite reißt ein. Aber eben die Sichtweise darauf, dass kognitive Funktionen insgesamt, aber vor allem eben Gedächtnis die Leistung nicht einer einzelnen Hirnregion ist, sondern die Kooperation eines ganzen Netzwerks von Hirnregionen erfordert – das ist etwas, was sich in den letzten Jahren schon durchgesetzt hat."

    Der Hippocampus gilt immer noch als eine Struktur im Gehirn, die für die Gedächtnisbildung enorm wichtig ist, aber von ihm aus gehen Faserverbindungen in praktisch alle anderen Hirnteile. Und diese Verbindungen sind es, die die vielen verschiedenen Gedächtnisformen erst möglich machen. Einfache Konzepte wie Kurzzeit- und Langzeitspeicher reichen da nicht aus. Hans Markowitsch hat inzwischen Gedächtnispatienten gefunden, deren Erinnerungsvermögen über einen Zeitraum von vier Stunden funktioniert, bei dem Patienten HM waren es wenige Sekunden, bei anderen einige Minuten. Gedächtnisforscher gehen davon aus, dass es mindestens fünf unterschiedlich zeitstabile Gedächtnisformen gibt. Auch für das autobiographische oder das Faktengedächtnis finden sie immer feinere Unterteilungen. Und erst vor wenigen Monaten konnte die Arbeitsgruppe um Christoph Ploner eine Studie veröffentlichen, die die Eigenständigkeit des musikalischen Gedächtnisses belegt.

    Jonathan Overfeld: "Wenn ich Klavier gespielt habe und in Es-Dur gespielt habe - dann kam ich in eine Trance. Es gibt Leute, die meditieren, um runterzukommen, und wenn sie unten sind, hören sie auf. Aber ich war drunter! Unter Null! So stelle ich mir das vor. Dann bin ich aufgestanden, habe eine Fahrkarte gekauft und bin weggefahren."

    Jonathan Overfeld kann sich nie erinnern, wie er die Fahrkarte gekauft hat. Er setzt sich an sein Klavier spielt etwas in Es-Dur und dann setzt sein Gedächtnis aus. Als nächstes findet er sich dann auf einer Bank in irgendeiner deutschen Stadt wieder. Sieben Mal passiert ihm das. Der Wendepunkt kommt, als er gebeten wird für ein Wohltätigkeitskonzert in einer Kirche zu spielen.

    "Das war anstrengend, ich war klitschnass hinterher. Ich mache das nie wieder. Ich hatte ein Herzrasen… Dass ich das überhaupt, eine Stunde war das ungefähr, durchgehalten habe, das war unglaublich. Das war mein letztes öffentliches Auftreten. Am 10.11.2011 habe ich mein Klavier weggegeben."

    Die Chance, dem musikalischen Gedächtnis wirklich auf den Grund zu gehen, erhielten die Berliner Gedächtnisforscher, als sie Patient PM begegnen. Er hatte als Cellist mit großen Sinfonieorchestern gespielt, bis eine Hirnentzündung sein Gedächtnis vollständig zerstörte. Als er zur Behandlung in die Berliner Universitätsklinik Charité kommt, kann er sich an seine Karriere als Berufsmusiker nicht mehr erinnern. Er weiß auch nichts mehr aus seinem privaten Leben und erkennt Freunde und Familie nicht mehr. Carsten Finke:

    "Er konnte auf Nachfrage weder einen Fluss nennen, noch ein deutsches Bundesland oder auch einen Kanzler. Was bei Musikern ja auch besonders bemerkenswert ist, besonders bei einem Cellisten, er konnte auch keinen einzigen Cellisten nennen und auch nur einen einzigen Komponisten – das war Beethoven - und darüber hinaus ist auch sein anterogrades Gedächtnis beeinträchtigt, das heißt, er kann sich auch keine neuen Informationen merken."

    Der Berliner Neurologe Carsten Finke testet die musikalischen Fähigkeiten seines Patienten. Er muss beispielsweise den Rhythmus eines vorgespielten Musikstücks richtig einschätzen und die Tonhöhe bestimmen. PM bewältigt diese Aufgaben ohne Probleme. Fragen nach den Texten von bekannten Kinderliedern kann er dagegen nicht beantworten. Die Forscher wollen nun herausfinden, ob auch sein musikalisches Gedächtnis intakt geblieben ist. Sie spielen ihrer Versuchsperson direkt nacheinander zwei ähnliche Musikstücke vor. Das eine ist sehr bekannt und vor der Erkrankung von PM komponiert worden, das andere danach. Da wird beispielsweise ein Stück von Mendelssohn mit einem von dem zeitgenössischen Komponisten Max Richter gepaart. Finke:

    "Tatsächlich zeigte sich, dass er sehr zuverlässig und zwar auf dem gleichen Level wie gesunde Kontrollen, das waren einmal Amateurmusiker und einmal fünf Streicher der Berliner Philharmoniker, dass er auf dem gleichen Level wie diese Normalprobanden, diese Stücke als neu oder bekannt klassifizieren konnte."

    Das bedeutet nichts anderes, als dass sich PM tatsächlich an Melodien erinnern kann, die er vor seiner Erkrankung gekannt haben musste. Er weiß zwar so gut wie nichts mehr von seiner eigenen musikalischen Karriere, kann auch die Komponisten der bekannten Stücke nicht nennen, die Musik selbst ist ihm aber trotzdem erhalten geblieben. In einem weiteren Experiment untersuchen Christoph Ploner und Carsten Finke, ob er sich auch neue Stücke merken kann. Dafür verwenden sie ausschließlich Kompositionen, die nach seiner Erkrankung im Jahr 2005 entstanden sind. Sie spielen eines der Stücke ihrer Versuchsperson vor. Nach etwa 90 Minuten wird dasselbe Stück zusammen mit einer anderen Komposition aus der Zeit nach 2005 wieder eingespielt. Tatsächlich kann Patient P.M. das zuvor gehörte Stück wiedererkennen. Finke:

    "Er konnte auch neue musikalische Informationen erlernen. Das heißt sein musikalisches Gedächtnis ist weitgehend intakt, was in starkem Kontrast zu seiner schweren Amnesie steht. Insgesamt sprechen die Befunde dafür, dass das Musikgedächtnis weitgehend unabhängig vom Schläfenlappen sein muss."

    Dass es ein eigenes Gedächtnissystem für musikalische Inhalte gibt, spiegelt die Bedeutung wieder, die Musik in der menschlichen Kultur hat. Noch kennen die Forscher nicht alle Teile des Netzwerks, doch vielleicht lässt sich Musik schon jetzt zu therapeutischen Zwecken nutzen. Christoph Ploner:

    "Wir haben bei diesem Patienten die Beobachtung gemacht, dass, wenn er zusammen mit einer professionellen Musikerin musiziert, dass er in diesem Kontext biographische Informationen zur Verfügung hat, die eben im normalen Gespräch nicht zur Verfügung stehen."

    Das musikalische Gedächtnis hat im Gehirn sicherlich auch Verbindungen zu den anderen Gedächtnissystemen. Damit eröffnet sich für die Gedächtnisforscher quasi eine "Hintertür", durch die sie vielleicht wieder an längst verschüttete andere Gedächtnisinhalte ihrer Patienten gelangen können. Vieles von dem, was Ärzte und Forscher heute über das menschliche Gedächtnis wissen, haben sie Patienten wie PM oder HM zu verdanken. Vielleicht gelingt es nun mit diesem Wissen auch, genau diesen Patienten zu helfen.

    Jonathan Overfeld kann sich inzwischen an alle Details aus seiner furchtbaren Kindheit erinnern. Ihm fehlt aber nach wie vor, die Zeit zwischen seinem 22. und seinem 54. Lebensjahr. Was da geschah, hat er nachrecherchiert. Aber dieses Wissen ist noch kein echtes Erinnern.

    "Es fehlt mir ja nichts. Es fehlt mir nur die Emotion zu meinem Leben. Ich kann aufschreiben, von wann bis wann ich da gewohnt habe, wann ich da gearbeitet habe, wann ich hier gearbeitet habe. Alles weiß ich. Aber was ich erlebt habe: Alles weg."