Archiv


Mao II

Es gibt einige amerikanische Schriftsteller, deren Röntgenblick mit seltener Präzision den Schwindel der Mediengesellschaft erfaßt. Und zwar den Schwindel im doppelten Sinn: sowohl den Betrug einer Kulissenwelt, wo Zeichen, Codes und Abbilder die Wirklichkeit zum Verschwinden bringen, wie auch das Schwindelgefühl, das den Wahrheitssucher dort überfällt. Die wichtigsten mit dieser postmodernen Thematik befaßten Autoren sind wohl Thomas Pynchon, Robert Coover und Don DeLillo. Lange war der heute 56-jährige New Yorker Don DeLillo mit seinen zahlreichen Romanen nur Kennern und Kritikern ein Begriff. Das änderte sich schlagartig mit dem Erscheinen seines Romans "Libra", dessen deutsche Übersetzung im vergangenen Jahr unter dem Titel "Sieben Sekunden" herauskam. Nicht weniger Anerkennung trug ihm sein jüngster Roman "Mao II" ein. Und im Fall DeLillos steht nicht einmal zu befürchten, die Größe dieses Autor sei eine reine Mediensimulation.

Eberhard Falcke |
    Das zentrale Thema dieses Buches ist der Untergang des Schriftstellers in einer total gewordenen Medienkultur. Und zugleich steht damit die Preisgabe der Idee vom selbstbestimmten Individuum zu Debatte. Das erste Kapitel, als Prolog zu lesen, malt das gespenstische Panorama einer von Ratlosigkeit und Gewalt dominierten Welt aus. In einem Baseball-Stadion findet eine Massenhochzeit von Anhängern der Mun-Sekte statt. "Immunisiert gegen die Sprache des Ich", projizieren dort Tausende ihre ungestillte Glaubenssehnsucht auf einen dubiosen Religionsdiktator. Darunter befindet sich Karen, eine junge Frau, deren Eltern sie von den Zuschauerrängen aus mit dem Fernglas vergeblich in der Masse zu identifizieren versuchen. "Die Zukunft gehört den Massen" schließt DeLillo seinen Prolog und läßt aufs neue ein Echo ertönen, das seit dem 19. Jahrhundert unter verschiedenen Vorzeichen schon vielfach durch die Geschichte rollte.

    Unterdessen hat der exemplarische Sachwalter der "Sprache des Ich" sich von den Massen und ihren Medien zurückgezogen. Irgendwo, ein paar Autostunden von New York lebt der Schriftsteller Bill Gray versteckt und incognito auf dem Land. Seit er vor mehr als zwanzig Jahren mit nur zwei Romanen den Rang eines amerikanischen Klassikers erworben hatte, wollte er die korrupte, schwindelerregende Bilderwelt der Metropolen weder bedienen noch sich darin verlieren. Natürlich denkt man hier sogleich an die vollständig verborgene Existenz von Thomas Pynchon oder an die Flucht von J.D. Salinger aus der Öffentlichkeit. Auch DeLillo selbst hat, wie er bekannte, schon mit dem Abtauchen geliebäugelt. Doch unabhängig von solchen augenfälligen Parallelen, ist Bill Grays Isolation völlig eigenständig motiviert. DeLillo hat damit nichts anderes konstruiert als einen verabsolutierten Innenraum des Schreibens. Und er hat diesen Raum so hermetisch aus allen Zusammenhängen herausgehoben, um desto klarer das Scheitern des Schriftstellers zu zeigen.

    Daß er am Ende ist, glaubt Bill Gray zu spüren, als er vom Geheimnis um seine Person doch ein Stück preisgibt. Er läßt sich photographieren, in der Hoffnung dadurch der Publikumsneugier die Spitze abzubrechen. So geht er ein in das Archiv der Photographin Brita Nilsson, die sich auf eine Artenzählung von Schriftstellern spezialisiert hat. Es ist das Archiv einer aussterbenden Spezies. Die Gründe dafür erklärt Bill Gray der Frau hinter der Kamera ganz unumwunden, - wie überhaupt ein Großteil der im Roman entwickelten Gedanken dialogisch ausgebreitet werden. Die Bücher also verschwinden, so Gray, hinter den Images, den Glanzbildern der Autorenprominenz. Die Schriftsteller haben ihren Einfluß auf das Wesen der Kultur verloren. "Jetzt haben", erklärt er, "Bombenbastler und Schießwütige dieses Territorium besetzt. Sie überfallen das menschliche Bewußtsein. Früher, bevor wir alle eins wurden, haben das die Schriftsteller getan."

    Gray begreift den Roman als "demokratischen Aufschrei" des Einzelnen. Doch diese Stimme wird längst übertönt vom wirren Geschrei der Nachrichten, von der realen Gewalt und ihrem Widerhall in den Medien. Sie wird ausgelöscht von den Vereinheitlichungen der Masse und erstickt von der sinnvernichtenden Inflation der Abbilder. Als Symbol dafür fungiert eine Porträtserie von Andy Warhol über Mao Tse-tung - die Ikone der Massenideologie. Ein Blatt daraus hat Grays Assistent Scott in New York erworben und der Titel dieser Arbeit ist auch der des Romans: Mao II. Vor diesen Einflüssen der Außenwelt bieten auch Rückzug und Isolation keinen Schutz. Der Schriftsteller Gray vermag das gigantische Material zu seinem dritten Roman, an dem er seit Jahren arbeitet, nicht mehr zu beherrschen und in eine schlüssige Form zu bringen. Als er dem Drängen seines Verlegers nachgibt, sich für die Freilassung eines von libanesischen Terroristen gekidnappten Lyrikers einzusetzen, ist das vor allem eine Flucht vor der ziellos gewordenen Arbeit am Roman. Der Schriftsteller stürzt sich in die Wirklichkeit von Gewalt und Verelendung und kommt darin um.

    Im letzten Kapitel, das einem Epilog gleichkommt, erscheint das vom Bürgerkrieg zerstörte Beirut als die von Gewalt und Tod regierte Kehrseite der westlichen Medienscheinwelten. Dort sucht die Photographin Brita Nilsson den Anführer einer von Wahn und Fanatismus geleiteten Guerrillabewegung auf: Sie sammelt nicht mehr Schriftsteller sondern Terroristen. Erzählung und Reflexion zugleich, verhandelt das Buch mit kritischer Schärfe eine Fülle von Gegenwartsthemen. Und gerade weil DeLillo dabei in der Feinzeichnung von Gestalten und Situationen fast nachlässig verfährt, gewinnen die gedankliche Dichte und Brisanz der Diagnose umso größere Wucht. Ein fesselnder, düsterer Zeitroman, voller polemischer Kraft und dennoch von kalter Klarheit.