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Marcel Broodthaers im Fridericianum
Konsequente Zweifel am Kunstsystem

Es gibt viele Wege zur Kunst. Manche werden Künstler aus Wut, andere aus Geltungsdrang, wieder andere aus Überzeugung. Der Belgier Marcel Broodthaers konnte alles dies zusammen für sich reklamieren. Eine Retrospektive seines in vieler Hinsicht wegweisenden Werkes ist im Fridericianum in Kassel zum 60. Geburtstag der documenta zu sehen.

Von Carsten Probst | 19.07.2015
    Blick auf das Kunstwerk "Regal (Das D ist größer als das T)" (1966-68) des belgischen Künstlers Marcel Broodthaers am 16.07.2015 im Fridericianum in Kassel (Hessen). Von Freitag an zeigt das Fridericianum zum 60. Geburtstag der documenta eine umfassende Retrospektive des mehrfachen documenta-Teilnehmers Broodthaers (1924-1976).
    Das Kunstwerk "Regal (Das D ist größer als das T)" des belgischen Künstlers Marcel Broodthaers (1924-1976) in der umfassenden Retrospekive des mehrfachen documenta-Teilnehmers im Fridericianum in Kassel (picture-alliance / dpa / Uwe Zucchi)
    "Ich fragte mich, warum ich im Leben keinen Erfolg hatte und nicht irgendwas verkaufen könnte. Lange Zeit war ich in nichts wirklich gut. Jetzt bin ich 40 Jahre alt. Schließlich kam mir die Idee, irgendetwas völlig Falsches, Unaufrichtiges zu tun. Ich arbeitete drauflos. Und nach drei Monaten zeigte ich das, was ich dann produziert hatte, dem Galeristen Philippe Toussaint, und er sagte: 'Das ist Kunst'."
    Ein typisches Bekenntnis von Marcel Broodthaers, typisch für die ironisch-hintergründige Rhetorik seines ganzen künstlerischen Oeuvres, das über den kurzen Zeitraum von zwölf Jahren entstand. Zuvor hatte er sich als Lyriker versucht. 1963 beschloss er, Künstler zu werden, und sein Generalthema blieb seither immer der konsequente Zweifel am ganzen Kunstsystem. Sein eigenes Werk sollte gewissermaßen für die Absurdität des Systems einstehen. Denn es wurde ja nur dadurch zu Kunst, dass jemand mal gesagt hat, es ist Kunst. Weder bedurfte es dafür besonderer Anstrengungen noch Talente noch Wahrhaftigkeit. Kunst entsteht nicht im Auge des Betrachters, wie es der bürgerliche Kunstbegriff fordert, sondern ist nur ein austauschbares Produkt der Kunstindustrie, die immer neuen Nachschub braucht.
    Als bekennender Außenseiter verzichtete Broodthaers aber im Gegensatz zu etlichen Zeitgenossen der sechziger Jahre auf die Pose des Rebellen oder Schamanen - vielleicht der Hauptgrund dafür, dass sein Werk aktueller wirkt als die oft genug auf Provokation gebürstete Material-Ästhetik von Fluxus. Das unterstreicht die feine Broodthaers-Retrospektive in Kassel sehr eindrucksvoll. Sie wurde von Susanne Pfeffer anlässlich des 60. Geburtstags der documenta mit bewundernswert leichter Hand und sehr viel Sinn für Broodthaers' verschmitzten Humor kuratiert.
    Gleich zu Beginn betreten die Besucher eine Installation aus Dattelpalmen und an den Wänden angebrachter Bilderrahmen mit Fotografien, Zeichnungen und Drucken. Überhaupt gibt es sehr viel dekorativen Grünwuchs in dieser Ausstellung. Im ersten Stock setzen sich die Kuriositäten mit Arrangements von Sonnenschirmen, Campingstühlen und historischen Waffenkammern fort. Feierlichkeit und Urlaubsgefühl sind für Broodthaers das Versprechen der Museen an das Publikum, das im Anblick eines überzeitlichen Kanons Erlösung und Befreiung vom Ich erhofft. In der logischen Umkehrung dieses Gedankens hat Broodthears immer eigene Museen und Präsentationsräume errichtet. Einige dieser Großinstallationen gehören mittlerweile selbst zu den bleibenden Schöpfungen der Kunst im 20. Jahrhundert und sind natürlich auch in Kassel zu sehen. Die bekannteste ist das "Musée d'Art Moderne – Département des Aigles", das "Museum für Moderne Kunst im Department der Adler", das Broodthaers 1968 in seiner Brüsseler Wohnung gründete und bis 1972 zu einer ganzen Reihe von "Sektionen" als Großinstallationen fortsetzte – so auch auf der documenta 5. In Kassel betritt man jetzt einen dunkel gestrichenen Raum mit einer Kammer, an deren Außenwänden lauter Bilderrahmen mit einer Ansammlung kleinster Fotografien hängen, wie ein Bilderatlas. Man erkennt Abbildungen ethnologischer Objekte, moderner Skulpturen ebenso wie Marcel Duchamps berühmtes Urinal. Im Inneren der Box finden sich Projektionen von experimentellen Super-8-Filmen. Der Künstler nimmt die Kunstgeschichte selbst in die Hand, und Kunstwerk und Museum werden miteinander identisch. Derart ad absurdum geführt, wird auch aus dem Besucher – nein: kein Künstler, wie bei Beuys, sondern einfach ein weiteres, lebendiges Kunstwerk, work in progress sozusagen.
    Auf dem Weg durch die Chronologie bis zu seinem frühen Tod 1975 begegnet einem Broodthaers in vielen liebevoll arrangierten Werken als Poet der instabilen Bedeutungen - ganz buchstäblich und anschaulich in seinen frühen Eierschalen- und Muschelbildern oder im wohl bekanntesten Kurzfilm der Kunstgeschichte, der Filmsekunde, in der lediglich Broodthears' Initialen erscheinen. Komplexer angelegt sind die literarischen Tafeln und Textfilme wie auch die überall eingearbeiteten Verweise auf die selbstinszenierte Kunstgeschichte. Das surrealistische Gemälde "Ceci n'est pas une pipe" seines Landsmanns René Magritte wird bei Broodthaers fortwährend zitiert. Der konkave Spiegel aus van Eycks "Hochzeit der Arnolfini", eines der berühmtesten Details mittelalterlicher Kunstgeschichte, verfolgt in dieser Ausstellung den Betrachter wie ein "Big Eye". Viele große Museen in aller Welt haben seit den Achtzigerjahren Broodthaers' Werk gewürdigt. Susanne Pfeffer macht es nun in Kassel erfahrbar als einen zentralen Teil des documenta-Konzepts der Siebzigerjahre – das freilich inzwischen selbst zu einem der erfolgreichsten Labels auf dem globalen Kunstmarkt verkommen ist.