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Marcel Duchamp oder: Die Kunst als Inszenierung

"Reduzieren, reduzieren, reduzieren" lautete der ästhetische Grundsatz von Marcel Duchamp, der damit zum Vorreiter der modernen Kunst wurde. Danach darf ein Künstler alles verwenden - "einen Punkt, eine Linie, das konventionellste und unkonventionellste Symbol, um zu sagen, was er sagen will."

Ein Essay von Michael Wetzel | 31.08.2008
    Michael Wetzel ist seit 2004 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft am Germanistischen Seminar der Universität Bonn. Seit 2005 leitet er auch am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg das Projekt "Medien und kulturelle Kommunikation".

    An einem schönen Sommertag des Juni 1912 sitzt ein trauriger junger Mann im Schnellzug von Paris nach München. Es ist das erste Mal, dass er die Grenzen seines Vaterlandes überschreitet, aber es wird nicht das letzte Mal bleiben. Nach München zieht ihn die Kunst, die in der damaligen Hauptstadt der deutschen Bohème blühte, wobei es weniger der Expressionismus des Blauen Reiters ist, der ihn anzieht, als vielmehr der historischen Schatz der Alten Pinakothek, vor allem die Bilder von Lucas Cranach.

    Aber es waren auch nur wenige Wochen, die er in München verbrachte, und selbst die waren von intensiven Arbeiten an den Zeichnungen von Jungfrauen und Bräuten erfüllt, zu denen ihn die Werke der Alten Meister inspirierten. Sein eigenes Ölgemälde, das einen Akt beim Herabsteigen einer Treppe darstellte, war kurz zuvor bei der Ausstellung der unabhängigen Kubisten in Paris abgelehnt worden. Aber nur ein Jahr später sollte dieses Bild in New York einen Skandal auslösen und seinen Maler zu einer Berühmtheit machen. Kein Wunder also, dass der traurige junge Mann nur drei Jahre später Frankreich verließ und sich am 6. Juni 1915 nach New York einschiffte. Nur ein Jahr später kommt auch der Kunstagent Henri-Pierre Roché dorthin, der in seinen Erinnerungen schreibt:

    "Marcel Duchamp war zu jener Zeit in New York zusammen mit Napoleon und Sarah Bernard der bekannteste Franzose. Er hätte die Wahl gehabt zwischen den Töchtern der reichsten Männer, aber nein, er zog es vor, Schach zu spielen und für seinen Lebensunterhalt Französischunterricht für zwei Dollar die Stunde zu geben. Er war ein Rätsel, verstieß gegen alle Gewohnheiten und zog doch alle Herzen an."

    Marcel Duchamp, der am 28. Juli 1887 in Blainville nahe Rouen geborene Sohn eines angesehenen normannischen Notars war das enfant terrible der künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Kunst spielte in seiner Familie eine große Rolle und seine beiden Brüder - Jacques Villon und Raymond Duchamp-Villon - fanden schon früh Anerkennung in den Kreisen der Kubisten. Auch Marcel versuchte sich die ersten Jahre in dieser stilistischen Richtung, doch - wie gesagt: sein erstes Meisterwerk, der "Akt eine Treppe herabsteigend" fiel bei den Gralshütern der neuen Stilrichtung in Ungnade. Dabei hatte er sogar eine innovative Technik entwickelt, die auf den Experimenten der Chronographie basierte.

    Im 19. Jahrhundert hatte Jules Etienne Marey eine Art von fotografischer Flinte erfunden, die ähnlich wie ein Trommelrevolver funktionierte und es erlaubte, eine große Menge von Aufnahmen hintereinander zu schießen. So konnten Experimente mit schnellen Bewegungsabläufen von Menschen und Tieren gemacht werden, welche die in Bruchteilen von Sekunden wechselnden Stellungen der Glieder nebeneinander festhielten. Duchamp machte sich diese Erfahrung zunutze und versuchte die Bewegung seines die Treppen herabsteigenden Aktes wie bei einer Mehrfachbelichtung in rund zwanzig verschiedenen sich überlagernden Stellungen des gesamten Zeitablaufes festzuhalten. Damit hatte er seine Leidenschaft entdeckt: die Bewegung. Er wollte sie aber nicht wie die Futuristen durch kinetische oder dynamische Momente zum Ausdruck bringen, sondern durch Zeitschnitte, die wie Spuren von der Idee der Bewegung zeugen. Jahre später erklärte er in einem Interview:

    "Mein Ziel war eine statische Darstellung von Bewegung, eine statische Komposition von Anzeichen für verschiedene Stellungen, die eine in Bewegung befindliche Form einnimmt - ohne etwa mittels Malerei Kinoeffekte erzielen zu wollen. Die Reduzierung eines Kopfes, der sich bewegt, auf eine bloße Linie schien mir gerechtfertigt. Eine Form, die sich durch den Raum bewegt, kreuzt beispielsweise eine Linie; und in der weiteren Bewegung tritt dann an die Stelle der gekreuzten Linie eine andere Linie und wieder eine andere und so weiter. Deshalb empfand ich es als gerechtfertigt, eine in Bewegung befindliche Figur auf eine Linie zu reduzieren statt auf ein Skelett. Reduzieren, reduzieren, reduzieren, war mein Gedanke - doch zugleich wandte ich mich nach innen statt Äußerlichkeiten zu. Und indem ich diese Ansicht weiterverfolgte, kam ich später zu der Ansicht, dass ein Künstler alles verwenden kann - einen Punkt, eine Linie, das konventionellste oder unkonventionellste Symbol -, um zu sagen, was er sagen will."

    Die hier formulierte Einsicht macht deutlich, warum Duchamps zum Vorreiter der modernen Kunst wurde, und zwar einer Moderne, die anders als die klassische Moderne etwa Picassos sich nicht mehr über ein Werk definiert, sondern über eine Idee und deren Inszenierung. Duchamp selbst nannte es später einmal "pikturalen Nominalismus", das heißt eine künstlerische Praxis, beherrscht von Konzepten und Konzeptionen, wie sie sich später in der sogenannten Concept Art etablierte. Entscheidend ist ihr experimenteller Charakter, der Kunstwerke eigentlich nur noch als Spuren oder Dokumentationen von Versuchsanordnungen versteht. Duchamp hat dieses Prinzip in einem anderen Objekt noch deutlicher zum Ausdruck gebracht, den "Drei Normalstopfmaßen".

    Das wahrhaft surreale Experiment bestand darin, drei Fäden von jeweils einem Meter Länge aus einer Höhe von einem Meter auf drei verschiedene Leinwände fallen zu lassen, um darauf die zufälligen, von Fall zu Fall ganz unterschiedlichen Formen zu fixieren. Das Ganze war natürlich nicht ernst gemeint und Duchamp sprach ironisch vom "Zufall in der Konserve".

    Letztlich wandten sich aber diese ganzen künstlerischen Strategien gegen die Tradition der Malerei oder - wie Duchamp es auch nannte - gegen die retinalen Effekte einer Bildersprache für die Augen. Symptomatisch ist der Bericht des Malerkollegen Fernand Légers von einem gemeinsamen Besuch mit Constantin Brancusi der Pariser Luftfahrtsausstellung 1912:

    "Marcel, der ein trockener, recht undurchdringlicher Typ war, ging um die Motoren und die Propeller herum, ohne ein Wort zu sagen. Plötzlich wandte er sich an Brancusi: 'Die Malerei ist am Ende. Wer kann etwas Besseres machen als diese Propeller? Können Sie es?'"

    Man spürt förmlich, wie Duchamp der Rahmen von Leinwand und Farbe zu eng wird und sein Wille zur Darstellung von Bewegung andere Materialien und Medien sucht. Jahre später hat er Versuche mit den sogenannten Rotoreliefs angestellt, Scheiben, auf denen spiralförmig angeordnete Figuren sich dreidimensional ausstülpten, wenn man sie auf Schallplattenspielern in Rotation versetzte. Aber erst mit der Materialität des Glases und dessen Transparenz sollte er seinen Bildträger par excellence finden. Dabei finden sich Experimente mit Glasscheiben schon sehr früh im Schaffen Duchamps; sein Opus Magnum, "Das große Glas" konnte jedoch als Gesamtkunstwerk erst realisiert werden, nachdem verschiedene über die Malerei hinausgehende Praktiken gefunden wurden wie zum Beispiel die Technik, Linien nicht mehr nur durch Fäden, sondern auch durch Draht zu ersetzen. Doch bevor es zu diesem neuen Kapitel in der Werkgeschichte des Marcel Duchamp kam, bedurfte es erst einmal des einschneidenden Ortswechsels in die Neue Welt.

    Das einschneidende Ereignis war die legendäre Armory Show 1913 in New York, für die man eine sorgfältige Auswahl europäischer Künstler getroffen und auch Duchamps frühe Werke mit großem Interesse aufgenommen hatte. Wer beschreibt aber die sensationelle Reaktion auf jenen "Akt eine Treppe herabsteigend", der einen regelrechten Skandal auslöste. Für die meisten der amerikanischen Besucher war es der Inbegriff europäischer Kunst-Dekadenz: Die Besucherschlangen stauten sich vor gerade diesem Bild und die Presse überschlug sich in Polemiken. Die Rede war von satirischen Titeln wie: "Explosion in einer Schindelfabrik" oder "Rushhour in der U-Bahn", aber alle Schock-Bekundungen konnten nicht verhindern, dass das Bild seinen Käufer fand, der es übrigens später auch nicht an Duchamps Hauptsammler, Walter Arensberg, weiterverkaufen wollte. Duchamp fand hier eine für ihn typische Lösung, indem er eine in Originalgröße angefertigte Schwarzweiß-Photografie des Bildes kolorierte und so ein veritables "Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", wie es Walter Benjamin genannt hat, schuf.

    In Amerika war er auf einen Schlag ein Star. Er kam also als kein Unbekannter dort an, sondern als der Künstler des "Aktes eine Treppe herabsteigend" als Inbegriff einer avantgardistischen Moderne. Darüber hinaus war er sogleich darum bemüht, sein Image als skandalumwitterter Bohémien zu pflegen. Ein nicht unbedeutender Schritt in diese Richtung war die Entwicklung einer weiteren neuen künstlerischen Praktik, die er stilgerecht auch durch eine Übersetzung aus dem Französischen ins Amerikanische etablierte: die Erfindung des Ready-made-Kunstwerkes.

    Das französische Wort für ready-made, tout-fait, war schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebräuchlich, um massenhaft gefertigte Konfektionsware oder standardisierte Fertigprodukte gegenüber individuell gearbeiteten Maßanfertigungen abzusetzen. Duchamp führte diesen Begriff nun auch in die Kunst ein, indem er industriell und das heißt seriell gefertigte Waren einfach im Laden kaufte und durch diese Auswahl, verbunden mit dem Akt des Signierens, zum Kunstwerk erklärte.

    Duchamp selbst betont in verschiedenen Interviews immer wieder den nicht-intentionalen und unpersönlichen Charakter dieser Objekte, die auch als Kunstwerke nichts mit einem ästhetischen Geschmacksurteil zu tun haben:

    "Das Merkwürdige beim Ready-made ist, dass ich nie fähig war, zu einer Definition oder Erklärung zu gelangen, die mich voll befriedigt. ... Meine Ready-mades haben nichts zu tun mit dem objet trouvé, weil das sogenannte 'gefundene Objekt' vollständig vom persönlichen Geschmack gelenkt wird. Der persönliche Geschmack entscheidet, ob dies ein schönes Objekt und einmalig ist. Dass die meisten meiner Ready-mades Massenprodukte waren und dupliziert werden konnten, ist ein weiterer wichtiger Unterschied. In manchen Fällen wurden sie dupliziert, um dadurch den Kult der Einmaligkeit, der großgeschriebenen Kunst, zu vermeiden. Ich erachte den Geschmack - den schlechten und den guten - als den größten Feind der Kunst. Im Falle der Ready-mades versuche ich, mich vom persönlichen Geschmack freizuhalten und mir dieses Problems voll bewusst zu sein.

    Einen Punkt möchte ich ganz besonders hervorheben, nämlich den, dass die Wahl dieser Ready-mades nie von einer ästhetischen Lust diktiert wurde. Diese Wahl beruhte auf einer Reaktion visueller Indifferenz, bei einer gleichzeitigen totalen Abwesenheit von gutem oder schlechtem Geschmack. ... Ein weiterer Aspekt des Ready-mades ist sein Mangel an Einmaligkeit ... weil die Replik eines Ready-mades die gleiche Botschaft übermittelt; in der Tat ist fast keines der heute noch existierenden Ready-mades im herkömmlichen Sinne ein Original."

    Die ersten Ready-mades entstanden noch in der Pariser Zeit, so wie etwa die umgekehrt auf einen Schemel geschraubte Fahrrad-Felge, die allerdings noch nicht als Ready-made bezeichnet wurde, sondern mehr als unterhaltsames Spiel mit der Rotationsbewegungen gedient haben soll. Kurz darauf kaufte Duchamp dann in einem Warenhaus den berühmten Flaschentrockner, ein damals durchaus üblicher gusseiserner Haushaltsgegenstand zum Trocknen ausgewaschener Weinflaschen.

    Allerdings ist es ein später erst propagierter Mythos, dass diese Ready-mades - zu denen sich noch unter anderen eine Schneeschaufel, ein Hutständer oder ein Kleiderhaken gesellten - auch den Weg in Ausstellungen oder ins Museum gefunden hätten. Sie landeten alle irgendwann auf dem Müll und überlebten nur auf Fotografien des Ateliers des Künstlers, wo sie allerdings eine wichtige Quelle der Inspiration waren. Erst später, nachdem sich der Ruhm Duchamps als führender Künstler der Avantgarde in der ganzen Welt verbreitet hatte, bat man ihn, Repliken nach den alten Modellen herzustellen, die heute stolze Objekte einer jeden Sammlung moderner Kunst sind.

    Genauso wenig hatte die autorisierende Signatur etwas mit der Individualität Duchamps zu tun, wie gerade das vielleicht berüchtigtste Ready-made zeigt, mit dem Duchamp an der Inszenierung seines Künstlermythos weiterarbeitete: das Pissoir, auch Fontaine genannt.

    Nachdem Duchamp das für sein weiteres Leben entscheidende Sammlerehepaar Louise und Walter Arensberg kennen gelernt hatte, beteiligte er sich auch an der von ihnen ausgehenden Gründung einer Society of Independent Artists, die gerade modernen Künstlern ein demokratisches und vorurteilsfreies Forum für die Präsentation ihrer Arbeiten bieten wollte. Duchamp wurde zum Leiter des für die Hängung zuständigen Komitees ernannt. Sein eigener Beitrag zur ersten Ausstellung bestand darin, dass er bei der Firma Mott Iron Works, einem Hersteller von Klempnerbedarf, ein Porzellan-Urinoir Marke "Bedfordshire" erstand, das er auf den Rücken legte und am Rand mit schwarzer Farbe als "R. Mutt" neben der Jahreszahl "1917" signierte. Entsprechend der Vereinsregel zahlte er für den fiktiven Mr. Mutt aus Philadelphia die sechs Dollar Mitgliedsbeitrag und ließ das Ready-made-Kunstwerk für die Ausstellung anliefern. Der Vorstand war empört und lehnte es ab, dieses glänzende weiße Objekt als Kunstwerk anzuerkennen und auszustellen. Arensberg und Duchamp, der seine Autorschaft an diesem Coup weiterhin geheim hielt, traten daraufhin aus dem Vorstand zurück, das obskure Objekt aber verschwand und es blieb als Spur nur eine Fotografie von Alfred Stieglitz.

    Duchamp aber hatte seinen Skandal und seine diebische Freude. In der mit Freunden zusammen herausgegebenen Zeitschrift "The Blind Man" publizierte er neben dem Photo von Stieglitz einen Artikel mit dem Titel "Der Fall Richard Mutt", in dem er sich zum Verteidiger des armen Künstlers aufschwang, um gleichzeitig seine Konzeption des Ready-made zu propagieren:

    "Sie sagen, jeder Künstler, der sechs Dollar zahlt, darf ausstellen. Mr. Richard Mutt reichte einen Trinkbrunnen ein. Ohne Diskussion verschwand dieser Gegenstand und wurde überhaupt nicht ausgestellt.

    Was waren die Gründe für die Ablehnung von Mr. Mutts Trinkbrunnen: Erstens: Manche behaupteten, das Stück sei unsittlich, vulgär. Zweitens: Andere meinten, es sei ein Plagiat, ein schlichtes Stück Klempnerbedarf.

    Nun ist Mr. Mutts Trinkbrunnen nicht unsittlich, das ist absurd, jedenfalls nicht mehr als eine Badewanne unsittlich ist. Es ist ein Zubehör, das man jeden Tag im Schaufenster des Ladens für Klempnerbedarf sieht.

    Ob Mr. Mutt die Fontaine mit seinen eigenen Händen gemacht hat oder nicht, hat keinerlei Bedeutung. Er hat sie ausgewählt. Er nahm einen gewöhnlichen Gegenstand des alltäglichen Lebens, platzierte ihn so, dass seine nützliche Signifikanz unter dem neuen Titel und Blickwinkel verschwand - schuf einen neuen Gedanken für das Objekt. Was die Klempnerei angeht, so ist das absurd. Die einzigen Kunstwerke, die Amerika hervorgebracht hat, sind seine Klempnerei und seine Brücken."

    Mit diesem ironischen Schachzug, einen fiktiven Ready-made-Künstler ins Feld zu führen, um ihn exemplarisch an der doch wieder konservativen Kleingeistigkeit der selbsternannten Vertreter einer unabhängigen und nicht akademischen Kunst scheitern zu lassen, ist es Duchamp gelungen, sein ästhetisches Programm mit einem Schlag publik zu machen.

    Der Künstler ist nicht mehr das Genie, das neue Formen erfindet und schöne Werke schafft, Duchamp will ihn, wie er sagt, "entgöttlichen", sein Tun banalisieren, indem er ihn wieder auf den vor der Renaissance üblichen Status des Handwerkers herunterholt. Aber das ist natürlich wieder eine Finte: Denn die Ready-mades sind ja gerade von jeder Dienlichkeit oder Nützlichkeit handwerklicher Erzeugnisse weit entfernt, sie wirken eher, indem sie stören oder verstören. Der neue Künstlertyp ähnelt mehr einem Intellektuellen, dessen Kreativität in Richtung eines geistigen Mehrwertes und nicht eines visuellen Genusses geht.

    Daher auch die vielen humoristischen Anspielungen und Wortwitze in den Titeln der Arbeiten wie etwa bei "Fresh Widow", ein nach Pariser Vorbild gebautes französisches Fenster, dessen Scheiben Duchamp mit schwarzem Leder abdichtete. Der Titel "Fresh Widow" lässt sich im Deutschen als "Frische" im Sinne von "Lustiger Witwe" übersetzen, was den Traueraspekt der verdunkelnden Schwärze mit der Doppeldeutigkeit sexueller Freizügigkeit paart. Aber "Fresh Widow" ist auch ganz einfach aus der Bezeichnung des französischen Fensters durch Wegstreichen der beiden Buchstaben "n" in "French Window" abgeleitet. Zugleich spielt dieses Objekt auch mit der langen malerischen Tradition einer Fensterschau, die hier durch die Abdeckung der Öffnung bewusst negiert wird.

    In der folgenden Zeit seines Aufenthalts in Amerika arbeitete Duchamp beharrlich an seinem Mythos oder besser an seiner Mystifikation weiter. Auf die Frage nach seinem Beruf pflegte er sich gern als "Atmer" zu bezeichnen. Denn das Leben selbst, das in dieser fundamentalen Aktivität des Ein- und Ausatmens zum Ausdruck kommt, war ihm Kunst genug:

    "Ich hätte schon ganz gerne etwas getan, aber ich war im Grund genommen unsagbar faul. Ich lebe lieber, atme lieber, als dass ich arbeite. Und da ich nicht glaube, dass die von mir geleistete Arbeit in Zukunft für die Gesellschaft irgendwie von Bedeutung sein wird, habe ich, wenn Sie so wollen, beschlossen, mein Leben zu meiner Kunst zu machen - die Kunst zu leben zu praktizieren. Jede gelebte Sekunde, jeder Atemzug ist ein Kunstwerk, ein Kunstwerk, das nirgendwo seinen Ausdruck findet, das weder visuell noch zerebral erkennbar ist, dass vielmehr eine Art unausgesetzten Hochgefühls darstellt."

    Diese Haltung stimmt auch überein mit der Logik der Ready-mades, die alle Dinge als Fertigprodukte erscheinen ließ. Duchamp praktizierte diese Skepsis gegenüber origineller Neuschöpfung auch in seinem privaten Leben. Er wollte für andere Menschen genauso wenig Verantwortung übernehmen wie für seine ausgewählten Objekte. Das schloss natürlich auch den Gedanken an Ehe oder Familie aus, und nach einer dadaistisch überstürzten Heirat 1927 mit der Tochter eines Pariser Automobilfabrikanten, die nach wenigen Monaten in eine Scheidung mündete, heiratete er erst mit 66 eine veritable Ready-made-Familie in Gestalt von Teeny Matisse, die aus der Ehe mit Pierre Matisse, dem Sohn des berühmten Malers Henri Matisse, drei bereits fertig produzierte Kinder mitbrachte. Anders wäre auch eine Bindung des notorischen und bekennenden Junggesellen Duchamp nicht denkbar gewesen. Aber Frauen waren für ihn nur Selbstbefriedigungsmaschinen, eine Obsession, die immer wieder in seinen Werken auftaucht, vor allem in seinem Hauptwerk, dem Großen Glas mit dem Titel: "Die Braut entblößt von ihren Junggesellen, selbst".

    Was unter diesem enigmatischen Titel über Jahre hinweg in mühsamer Feinarbeit entstand, ist nicht nur die Summe aller Versuche und Funde Duchamps, sondern zugleich durch die Wahl des Glases als Materialität des Bildträgers das erste Beispiel in der Kunstgeschichte für ein Kunstwerk, das auch den Raum seiner Ausstellung mit einschließt, indem man durch die transparente Oberfläche hindurch zum Beispiel auf seine dahinter stehenden Betrachter blickt. Und bei der Aufstellung im Philadelphia Museum of Art integrierte Duchamp sogar ein veritables Bewegungsmoment ins Bild, indem er es in der Blickachse eines Fensters arrangierte, durch das man auf den Vorplatz des Museums mit einem Springbrunnen, einer Fontaine in der Mitte schaut.

    Motivisch kommen in dieser monumentalen Skulptur alle Themen seit der Münchner Zeit zusammen. Schon in der Zweiteilung der Bildfläche in den oberen Bereich der Braut und den unteren der Junggesellen spiegelt sich eine ikonographische Tradition, wie sie Duchamp in der Alten Pinakothek gründlich an Beispielen der Anbetung von Maria, der Mutter Gottes, durch Apostel- oder Heiligenfiguren studieren konnte.

    Die Idee der Braut, die übrigens im Französischen "mariée" heißt und an den Namen Marias erinnert, ist also schon alt. Zahlreiche Skizzen und auch Ölbilder des frühen Duchamp umkreisen das Faszinosum des Übergangs, der Passage von der Jungfrau zur Ehefrau. Der Brautzustand ist sozusagen der Schwebezustand dazwischen, im Augenblick der Entblößung oder Entpuppung, wenn man die entomologische, das heißt in der Insektenkunde übliche Bedeutung von Braut oder Nymphe als verpuppter Schmetterling noch hinzunimmt.

    Kein Wunder, dass die in der oberen Hälfte dargestellte Szene oft mit einer Peepshow verglichen wurde. Auch die im unteren Teil angeordneten Junggesellen, die mit Hilfe von archaisch mechanischen Maschinen wie einem Wasserrad oder einer Schokoladenreibe ihre in dieser Distanz eindeutig masturbatorischen Liebesbekundungen an die Braut ankurbeln, gleichen Maschinenelementen.
    Das ganze Ensemble symbolisiert also eine sogenannte Junggesellenmaschine, die das Ritual des erotischen Verlangens zwischen der oben sich entblößenden Braut als Motor und den unten sich im Getriebe abstrampelnden Junggesellen energetisch antreibt und die auch kein fertiges Bild ausmacht, sondern ihre einzelnen Module im freien Zusammenspiel nicht zuletzt in der Imagination des Betrachters ständig in Bewegung halten soll. Und diesem Zwecke dient ein weiterer Einfall Duchamps, der nämlich von Anfang Notizen und Baupläne des Ganzen anfertigte, die in den sogenannten "Schachteln" selbst Teil des Gesamtkunstwerkes sein sollten, indem sie zwischen Text und Bild einen Spannungsbogen aufbauen. In einer dieser Notizen heißt es in der typischen rätselhaften Sprache:

    "Im Allgemeinen, wenn diese Motor-Braut als eine Apotheose der Jungfräulichkeit erscheinen soll, das heißt der unwissende Wunsch, der blanke Wunsch (mit einer Prise Bosheit) und wenn er (grafisch) den Gesetzen des schwerfälligen Gleichgewichts nicht zu gehorchen braucht; so wird, dessen ungeachtet ein Galgen aus glänzendem Metall die Verbundenheit der Unberührten mit ihren Freundinnen und Verwandten vorgeben können (wobei diese und jene graphisch übereinstimmen mit einer soliden Basis, auf festem Grund, wie die Basis aus Mauerwerk der Junggesellenmaschine selber auf festem Grund ruht).

    Die Braut ist in ihrer Grundlage ein Motor. Aber bevor sie noch ein Motor ist, der seine Schüchternheits-Kraft überträgt, ist sie diese Schüchternheits-Kraft selber. Diese Schüchternheitskraft ist eine Art Automobilin, Liebesbenzin, das - verteilt auf die wohl schwachen Zylinder und in der Reichweite der Funken ihres konstanten Lebens, der Entfaltung dieser am Endpunkt ihres Verlangens angekommenen Jungfrau dient."

    Mit dieser dadaistischen Kombination von Mechanik, Dynamik und Geschlechtlichkeit, dieser Fusion von Elektrik und Erotik steht Duchamp zwar in der großen Tradition der Männerphantasie von der Automatenfrau, die seit Pygmalion das Abendland heimsucht und gerade zu Duchamps Zeiten durch Filme wie "Metropolis" Auftrieb erhielt. Neu ist jedoch die Verknüpfung von künstlerischer Inszenierung und intellektueller Reflexion.
    Diese Sprengungen der Geschlossenheit des Kunstwerkes auf dem Wege buchstäblicher anagrammatischer Wortspiele gehen noch weiter. Ab 1920 erfindet Duchamp einen weiblichen Doppelgänger unter dem Namen Rrose Sélavy, was laut gelesen im Französischen soviel bedeutet wie: Eros ist das Leben. Man Ray photographierte ihn geschminkt mit Pelzkragen und Frauenhut, um die fiktive Künstlerin zu dokumentieren, als die Duchamp fortan auch Ready-mades zu signieren pflegte. Ähnliche Transvestiten-Spiele treibt er mit Leonardos Mona Lisa, der er einen Schnurrbart nach der Art Dalis anmalt. Zugleich wendet sich Duchamp der neuen Technik seiner "Kofferschachteln" zu, in denen er verkleinerte Repliken seiner Hauptwerke zusammen mit ausgewählten Notizen versammelte und so ein tragbares Miniaturmuseum kreierte.

    Diese offensive und affirmative Umgangsweise mit den technischen Reproduktionsmöglichkeiten der modernen Medienwelt war es auch, die zu seiner begeisterten Aufnahme durch die amerikanischen Pop-Art-Künstler wie Andy Warhol, Jasper Johns oder den Briten Richard Hamilton führte. Selbst vom Dadaismus und Surrealismus immer wieder umworben, hat sich Duchamp aber nie einer Kunstströmung zuordnen lassen. In seinen späten Jahren konzentrierte er sich neben dem obligatorischen Schachspielen ganz auf sein letztes Geheimnis, das er bis nach seinem Tod wahren sollte: Sein letztes Werk "Etant donnés ...": "Gegeben sei: 1. Der Wasserfall 2. Das Beleuchtungsgaz", das seltsamste Kunstwerk, das sich bis dahin in einem Museum befunden hatte, um noch seinen posthumen Skandal zu haben.

    Es handelt sich um eine Installation im Philadelphia Art Museum, die man nur sehen kann, wenn vor eine schäbige Holztür in einer Wand tritt und durch zwei Gucklöcher schaut. Dem Betrachter bietet sich dann der Blick durch einen Durchbruch in einer Ziegelwand auf einen halbverdeckten nackten Frauentorso, der mit weit gespreizten Schenkeln auf dem Boden liegt und im Zentrum seine entblößte und rasierte Scham exponiert. Die linke Hand hält eine Gaslaterne steil nach oben vor einer nahezu arkadischen Landschaft mit einem durch Lichteffekte animierten Wasserfall. Ist die Braut nun endlich entblößt und Opfer eines Lustmordes geworden, oder handelt es sich um das Grabmal von Rrose Sélavy?

    Duchamp hat sich dazu ebenso wenig geäußert wie zu den meisten seiner Werke. In der Nacht vom 1. auf den 2. Oktober 1968, vor 40 Jahren also verstarb er nach einem gemütlichen Gastmahl mit seiner Frau Teeny und den Freunden Lébel und Man Ray an einem Lachanfall. Auf seinen Grabstein ließ er die Inschrift meißeln: "Übrigens, es sind immer die anderen, die sterben!"