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Marcel Duchamp

Künstler ohne Werk. So liebte er es, sich darzustellen: als untätiger Künstler, der alle traditionellen Vorstellungen eines Schaffender aufgekündigt hat. In der Tat verbindet man kein repräsentatives Bild mit seinem Namen, der dennoch für die Kenner der Kunst des 20. Jahrhunderts zum nahezu mythischen Begriff geworden ist.

Michael Wetzel | 10.09.2002
    Die Rede ist von Marcel Duchamp, geboren 1887 und gestorben 1968, der die meiste Zeit in New York gelebt hatte. Dort auch begründete er seinen Ruhm als geistiger Vater der künstlerischen Avantgarde des 20, Jahrhunderts, der allerdings erst in den Sechzigerjahren durch amerikanische und englische Künstler zum Durchbruch kam. Mittlerweile ist seine kunstgeschichtliche Bedeutung so überragend geworden, dass nahezu alle künstlerischen Innovation des letzten Jahrhunderts, die den klassischen Rahmen von Malerei und Plastik gesprengt haben, auf Duchamp zurückgeführt werden. Schon Dadaismus und Surrealismus waren von ihn wesentlich beeinflusst, für die Pop, Minimal oder Concept Art und erst recht für die Postmoderne war er das überragende Vorbild dieser Bedeutung trägt nun die Ausstellung des Museums Jean Tinguely in Base! Rechnung, die eine vom Duchamp-Kenner Harald Szeemann kuratierte umfassende Retrospektive des Gesamtwerkes bietet."

    Aber woran lässt sich überhaupt das Werk dieses Künstlers festmachen, der gern suggerierte, dass er nur Schach spiele? Es ist vor allem eine Erfindung, die seinen Namen unsterblich gemacht hat: das Readymade. Gemeint sind damit industriell gefertigte Gebrauchsgegenstände, die Duchamp mit einer gewissen Beliebigkeit auswählte und durch den alleinigen Akt des Signierens zu Kunstwerken machte. Die beiden berühmtesten Readymades waren der Flaschentrockner, ein Drahtgestell, das Duchamp in einem Pariser Kaufhaus erworben hatte, und das Pissoir, das vom Künstler abgeschraubt und in "Fountain" (Springbrunnen) umbenannt wurde. Daneben gibt unter anderem eine Schneeschaufel, ein auf einen Schemel montierter Fahrradreifen, ein Hutständer, Bildreproduktionen (wie ein Farbdruck der Mona Lisa, der Duchamp ein Bärtchen angemalt hat), Photos von Staubformationen, Maskeraden (des Künstlers selbst als Frau) oder Rauminstallationen mit Schattenbildern oder sorgfältig in Kästchen konservierten herabgefallenen Fäden.

    Das Prinzip des Künstlerischen Schaffens ist nicht der Gegenstand oder das Werk, sondern die Inszenierung, der Akt als spielerische Umgangsweise mit den Materialien, die In neue, ungewohnte und verblüffende bis humoristische Kontexte versetzt werden.

    Überhaupt spielt der Humor bei Duchamp eine zentrale Rolle. So neu wie die von ihm benutzten trivialen, das heißt nicht künstlerisch tradierten Materialien (Glas, Staub, Metall) ist auch die Haltung des Künstlers selbst. Er Ist nicht mehr an der ästhetischen Wahrheit und dem großen Stil interessiert, er Ironisiert, karikiert, gibt die metaphysischen Konzepte, wie sie zum Beispiel die moderne Kunst eines Kandinsky beherrschen, der Lächerlichkeit preis. Dass damit ein ikonoklastisches, bilderfeindliches Moment ins Spiel kommt, liegt nahe. Duchamp will keinen Augenreiz bedienen, er will Malerei nicht auf "retinale Emotionen" beschränken, wie er polemisch konstatiert. Was ihn Interessiert, sind die Zufälle, die Beiläufigkeiten, nicht zuletzt die Unentscheidbarkelten doppeldeutiger Verhältnisse, Vor diesem Hintergrund verstehen sich auch die zahlreichen Wortspiele und Sprachwitze, die den vielen Kreationen zugrunde liegen. Auch das Verwirrspiel mit der geschlechtlichen Identität folgt dieser Doppelbödigkeit, wenn Duchamp sich als Transvestit photographieren lässt unter dem Doppelgänger-Pseudonym "Rrose Sélavy: auf gut deutsch: "die Liebe, so Ist das Leben".

    Pointen, Parodien und Provokationen bestimmen die künstlerische Arbeit des Marcel Duchamp. Dabei sind seine Entdeckungen überraschender Konstellationen durchaus auf der Höhe ihrer Zeit und reagieren auf die chockhaften Verwerfungen des Sehraums durch moderne Medien wie Photographie und Film. Ein Beispiel aus der Frühzelt des noch malenden Künstlers zeigt einen "Akt eine Treppe heruntersteigend". Was wir sehen, ist eine abstrakte Figur, die wie auf den mehrfach belichteten Chronophotographien des 19. Jahrhunderts als verzeichnete Bewegungsfigur dargestellt wird. Auch das legendäre rätselhafte Hauptwerk, "Das große Glas", eine auf Glas mit Hilfe von Metallfäden und Industrielacken gefertigte amorphe Zeichnung, ist diesem Grundmotiv der Bewegung, der Darstellung von Energiezuständen gewidmet.

    Es handelt sich um das Szenario einer skelettartig angedeuteten "Braut", der maschinenteilartige "Junggesellen" beigesellt sind. Die einzelnen Elemente sind sinnlos, repräsentieren nichts, sondern zitieren nur Versatzstücke einer industriellen Waren- oder besser Warenhauswelt. Ihre paradoxe Zusammenstellung aber lässt im Gegenlicht der Ironie eine fundamentale Einsicht aufblitzen, die unsere alltäglichen Verhältnisse des Umgangs mit Dingen, des Kalküls der Lebensprozesse, der Bestimmung des Geschlechterverhältnisses, wenn man so will: die Banalität und Brisanz der Prozesse von Leben, Liebe und Tod neu beleuchtet. Und für diese Einsicht lohnt die Reise nach Basel, wobei der Kataipg - unter anderem mit Beiträgen der Duchamp-Experten Daniel Daniels und Herbert Molderings - der beste Cicerone ist.