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Marco Carini, Andreas Speit: Ronald Schill - der Rechtssprecher

Ebenfalls ganz neu im Handel ist das nächste Buch, das wir Ihnen vorstellen möchten. Es handelt von der eigenartigen Karriere des Hamburger Innensenators Ronald Schill, seines Zeichens Begründer der Partei "Rechtsstaatliche Offensive". Gestern gelang der Partei in Frankfurt die Gründung ihres dritten, des hessischen Landesverbandes, nachdem dieses Unterfangen zuvor in mehreren anderen Bundesländern an innerparteilichen Querelen gescheitert war. Das hinderte Schill nicht, in Hessen schon mal laut über die Möglichkeit einer Koalition mit der CDU/CSU bei entsprechendem Wahlausgang nachzudenken.

Jörn Breiholz |
    Was ein kleiner und mittlerer Dealer ist, ist ein gewerbsmäßiger Drogenhändler, ist ein Verbrecher, Mindestfreiheitsstrafe ein Jahr, das heißt, es bestünde die Möglichkeit, wenn man ihn überführt, erstens Untersuchungshaft zu verhängen, zweitens langjährige Freiheitsstrafen und anschließende Abschiebung, wenn er wie meist ausländischer Herkunft ist. Nichts dergleichen macht man.

    Wahlkampf von Ronald Schill. Hamburg Eidelstedt, Juni vergangenen Jahres, wenige Monate vor der Bürgerschaftswahl, die die politischen Verhältnisse der Hansestadt so auf den Kopf stellen wird wie keine Wahl zuvor in der Nachkriegszeit. Ronald Schill in der Turnhalle einer Schule, die bis auf den letzten Platz gefüllt ist: regelmäßiger, rhythmischer Applaus, hier weiß endlich mal ein Politiker seine Wähler zu begeistern. Wer ist dieser Mann, dessen Partei offiziell Partei Rechtsstaatlicher Offensive und im Kürzel nach ihm Schill-Partei heißt? Die zu diesem Zeitpunkt noch kein Jahr alt ist und trotzdem am 23. September 2001 165.000 Hamburger und Hamburgerinnen für sich überzeugen kann? Was sind die Bedingungen, unter denen Ronald Schill zum bis dato erfolgreichsten Rechtspopulisten der Bundesrepublik Deutschland wurde? Fragen, denen sich die Hamburger Journalisten Marco Carini und Andreas Speit in ihrem nun im Konkret Literatur Verlag erscheinenden Buch "Ronald Schill - der Rechtssprecher" gewidmet haben. Marco Carini, Diplom-Politologe mit Schwerpunkt Parteienforschung und langjähriger Lokaljournalist der Hamburger taz, sieht verschiedene Ursachen für Schills einmaligen Erfolg, mit dem er die politischen Koordinaten in Hamburg auf den Kopf gestellt hat:

    Ich denke, da hat einfach vieles zusammengepasst. Die Medien haben Schill hofiert, CDU und SPD als die großen Parteien haben überhaupt kein Rezept gegen Schill und seine Themen gefunden, dadurch hat es hier keinen nennenswerten Widerstand gegen seine Parolen gegeben, sondern es sind eigentlich fast alle Parteien auf den Schill-Zug aufgesprungen und haben ihn dadurch gestärkt. Dann haben wir hier einen lokal begrenzten Raum gehabt, wo sich für eine kleine Partei gut Wahlkampf machen ließ, und das Thema Innere Sicherheit, was eben durch die Medien noch mal sehr aufgebauscht worden ist, ist hier dann auf eine sehr einmalige Art und Weise wirklich das Thema geworden, und das war das Schill-Thema.

    In die Öffentlichkeit geriet Ronald Schill das erste Mal Ende 1995 in seiner Funktion als Amtsrichter - als er eine als Asservat auf dem Richtertisch liegende Pistole auf einen Referendar richtet. Die Begründung des heutigen Innensenators, der jüngst als "Pistolero Schill" vom Spiegel als Pistolenträger geoutet wurde: Er habe scherzhaft eine juristische Fragestellung erörtert, so die Autoren. Mit dem im Oktober 1996 gefällten Urteil gegen eine psychisch Kranke, die Autos zerkratzte und die er zu zweieinhalb Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt, beginnt seine Karriere als Richter Gnadenlos, wie er bald bundesweit Schlagzeilen machen soll: Regelmäßig fällt er Urteile, die weit über das Strafmaß der Staatsanwaltschaft hinaus gehen und die allerdings genauso regelmäßig von der nächsten Instanz wieder kassiert werden. Das führt in der Hamburger Lokalpresse, die nun ständiger Besucher seiner Prozesse ist, zu Überschriften wie "Amtsrichter außer Kontrolle". Doch mit jeder Schlagzeile wird Schill bekannter, und zunehmend äußert er sich mit Kollegenschelte und politischen Statements: Hamburgs Justiz habe ein Herz für Verbrecher, äußert sich der Amtsrichter, und die Medien schreiben es auf. Spätestens als Schill am 19. Januar 2000 verkündet, dass er in die Politik gehen werde, ist er in Hamburg bekannt wie ein bunter Vogel. Mit seinem Image als Anti-Politiker und Anwalt der kleinen Leute, so die Autoren, erzielt er die Glaubwürdigkeit, die beim Wähler ankommt. Schill setzt vor allem auf Angst: Angst vor dem Verbrechen, Angst vor Ausländern, Angst vorm Werteverlust. Hamburg stilisiert der Richter zur Verbrechensmetropole Deutschlands und mit "Law-and-order-Konzepten, Deutsche-zuerst-Visionen und rassistischen Ressentiments", so die Autoren, erobert er die Köpfe der Hamburger, die ihm fast 20 Prozent der Wählerstimmen geben werden. Die Versuche der CDU, Schill in die eigene Partei zu holen, scheitern - nicht aber die Strategie des damaligen CDU-Oppositionschefs Ole von Beust, mit Hilfe der Popularität des Amtsrichters Bürgermeister zu werden, sagt Marco Carini:

    Ich denke, es ist ein schwieriger, aber ein kluger Schachzug gewesen. Es spricht vieles dafür, dass Herr von Beust einkalkuliert hat, dass seine eigene Partei schlecht abschneidet in der Wahl, dafür aber er Bürgermeister wird. Der Parteimisserfolg, als Bauernopfer dafür die Regierung abzulösen, das ist schon ein sehr durchdachtes Kalkül gewesen. Ole von Beust hat Schill sehr früh Koalitionsangebote gemacht über die Medien, hat Schill dadurch aufgewertet. Die Umfragen für Schill gingen in dem Moment sprunghaft nach oben. Durch diese Aufwertung von Schill hat er seiner eigenen Partei geschadet, und die CDU hat ja auch ihr zweitschlechtestes Ergebnis in der Nachkriegsgeschichte in Hamburg gemacht.

    Die SPD versucht es zunächst mit der gegenteiligen Strategie: Bürgermeister Ortwin Runde begegnet dem Polit-Emporkömmling mit Ignoranz, nicht ein einziges Mal wird er sich mit Schill von Angesicht zu Angesicht auseinandersetzen. In dem mit Parteichef Olaf Scholz gemeinsam entwickelten Wahlkampfprogramm ist das Thema Kriminalität, das Schill mit Schlagworten wie "schwarzafrikanische Dealer" und "kriminelle Ausländer" anheizt, nur ein Randthema. Tatsächlich wird es zum Thema Nummer 1 des Wahlkampfes - mit kräftiger Unterstützung des Springer-Verlages, sagen Marco Carini und Andreas Speit, Zitat: "In Hamburg sind es vor allem die vier den lokalen Zeitungsmarkt dominierenden Blätter des Springer Verlages, die mit ihrer - vor allem in Wahlkampfzeiten - überbordenden Berichterstattung über die Kriminalität der Stadt den Resonanzboden für den Richter mit den markigen Sprüchen geschaffen haben. Seit Jahren hämmern sie ihren Lesern mit mehr oder weniger subtilen Mitteln ein, was die ‚wahren Probleme' der Elbmetropole seien: Dealer und Drogensüchtige im Hauptbahnhof und im Schanzenviertel, Jugendliche, die Mitschülern ihre Handys abziehen, Crash-Kids, die mit gestohlenen Autos durch die Stadt rasen, Bettler und Obdachlose, die die heile Konsumwelt in den Einkaufspassagen stören." Zitat Ende. Als die SPD den glücklosen Innensenator Hartmuth Wrocklage gegen Parteichef Olaf Scholz austauscht, versucht die SPD Härte zu zeigen. Beispielsweise mit dem bis dato tabuisierten Brechmitteleinsatz gegen Dealer. Schills Antwort auf Scholz damals in der Zeit: "Der vom Saulus zum Paulus mutierte Innensenator führt hier ein Law-and-order-Spektakel auf. Er ist der Populist. Er glaubt, mich kopieren zu können. Aber das nimmt einem SPD-Politiker niemand mehr ab. Ich brauche gar nichts mehr zu tun. Ich muss nur da sein." Und Schill wird recht behalten: Allein von der SPD laufen 36.000 Wähler zur Schill-Partei über, 37.000 von der bis dato "ewigen Oppositionspartei" CDU, 31.000 kommen aus dem Bereich der Nichtwähler und 38.000 aus nicht in der Bürgerschaft vertretenen Parteien, insbesondere solchen aus dem rechten Spektrum. Schill gelingt, wovon jede Partei träumt: Er schöpft sein Wählerpotenzial nahezu vollständig ab. Es ist der Zorn der alten Männer, wie die Autoren schreiben, der die SPD nach 44 Jahren ununterbrochener Regierung auf die Oppositionsbank schickt: Bei den unter 45-Jährigen hätte Rot-Grün seine Mehrheit behalten. Marco Carini und Andreas Speit gelingt eine nahezu lückenlose Dokumentation der politischen Karriere Ronald Schills und seiner Partei, die inzwischen bundesweit über 6.000 Mitglieder hat und in fünfzehn Bundesländern zur Bundestagswahl antritt. Eine überzeugende journalistische Fleißarbeit, die allerdings in der Einordnung des Phänomens Schill in den europäischen Kontext der Rechtspopulisten schwächer ausfällt. Bei der Bundestagswahl räumen die Autoren dem heutigen Innensenator und zweiten Bürgermeister Hamburgs keine großen Chancen ein - auch wenn sie nicht eindeutig sagen, dass er den Sprung nach Berlin nicht schaffen wird. Das bedeute allerdings noch lange nicht das Aus für die Partei des Rechtspopulisten, meint Marco Carini:

    Es gibt eine Menge Indizien dafür, dass das Potenzial hierfür vorhanden ist, und es taucht das erste Mal mit Herrn Schill eine Figur in der politischen Landschaft, in der politischen Rechten, auf, der so was wie Charisma zugeschrieben wird. Die verknöcherten alten Herren wie Frey oder Schönhuber haben es nie geschafft, dieses Potenzial in Deutschland abzurufen. Ich denke, dass Herr Schill tatsächlich die Chance hat, dieses Potenzial abzurufen. Aber das wird von ganz, ganz vielen Faktoren abhängig sein. Wolfram Nagel: Clemens Vollnhals: Sachsen in der NS-Zeit. Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig 2002, 288 Seiten, € 15 Sachsen galt in der Geschichtsschreibung immer als "Rot". Die Städte Leipzig und Chemnitz waren Hochburgen sowohl der Sozialdemokratie wie auch der KPD. Dass sich in den alten Industrierevieren aber auch massenhaft NSDAP-Anhänger sammelten und sich ein Textilunternehmer aus Plauen im Vogtland dort schließlich zum Gauleiter und Reichsstatthalter von Sachsen aufschwang, war ein Kapitel Geschichte, für das sich DDR-Historiker aus naheliegenden Gründen kaum interessierten. Erst jetzt hat Clemens Vollnhals im Leipziger Kiepenheuer-Verlag eine Geschichte Sachsens in der NS-Zeit herausgegeben.

    Mein Leitsatz soll sein: Für jedermann Gerechtigkeit, jedem das Seine. Die Stadthalter in den Ländern haben die erste Aufgabe darin, dass sie eine einheitliche politische Linie im Reich garantieren. In Zukunft wird nur einer Politik machen. Das ist unser Führer.

    So Martin Mutschmann bei der Eröffnung des von der NSDAP dominierten neuen sächsischen Landtages am 15. Mai 1933. Schon sehr früh hatte sich der Spitzen- und Wäschefabrikant aus dem vogtländischen Plauen der nationalsozialistischen Bewegung angeschlossen. Seit er 1925 von Hitler in den Stand eines Gauleiters von Sachsen erhoben worden war, zeichnete er sich als einer der größten Judenhasser aus. In den vierziger Jahren gehörte er zu den eifrigsten Vollstreckern der Endlösung, der nur wenige sächsische Juden entkamen:

    Die jüdisch-marxistische Meinungsmaschine ist zerschlagen. Die Politik wird allein von unserem Führer bestimmt. Die Kräfte, die damit frei werden, können für bessere Zwecke dem Volk dienstbar gemacht werden.

    Während in den alten Bundesländern die lokale Geschichtsforschung weit vorangekommen ist, konnte in Ostdeutschland erst nach der politischen Wende mit einer objektiven ideologiefreien Analyse begonnen werden. Eine systematische Erforschung der NS-Zeit hätte auf jeden Fall das Weltbild der SED-Führung vom Widerstand der Arbeiterklasse über den Faschismus ins Wanken gebracht und war somit gar nicht erst in Angriff genommen worden. Ein anderer Grund, weshalb die lokale Forschung bisher nur schleppend voran kam, ist die äußerst dürftige Quellenlage. Durch Kriegseinwirkungen sind vor allem in Dresden wichtige Archive verloren gegangen. Dennoch, zwei in den Band enthaltene Themen wurden seit 1990 relativ umfassend bearbeitet: die Euthanasie-Verbrechen in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein sowie das Schicksal der sächsischen Juden. Andere Aspekte sind jedoch weitestgehend im Dunkeln geblieben, etwa die Verstrickung der sächsischen Wirtschaft, das Bildungswesen, die NS-Kulturpolitik oder die in Deutschland fast einzigartige Macht der Deutschen Christen innerhalb der sächsischen Landeskirche. Ja, selbst für so eine schillernde Figur wie Gauleiter und Reichsstatthalter Martin Mutschmann schien sich das Interesse bisher in Grenzen zu halten. Der Historiker Clemens Vollnhals von Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung:

    Was man bei Mutschmann ganz sicherlich sagen muss: Er ist einer der wenigen Gauleiter, die es geschafft haben, von 1924 bis 1945 ununterbrochen im Amt zu sein, trotz einer Kette von Skandalen und Querelen, die es immer um seine Person, auch um sein undurchsichtiges Finanzgebaren gegeben hat, und was ihm den Rücken gestärkt hat: Er hatte keine höheren Ambitionen auf Reichsebene, er wollte der König in Sachsen sein, aber nicht mehr.

    Wie aber konnte es einem wenig charismatischen Naziführer wie Martin Mutschmann gelingen, das Land der deutschen Sozialdemokratie von den NSDAP-Hochburgen im Vogtland und Erzgebirge aus so erfolgreich zu erobern? Diese Frage hat Clemens Vollnhals mit seinem Beitrag über den "gespaltenen Freistaat - der Aufstieg der NSDAP in Sachsen" zu beantworten versucht:

    Also, ich denke, was für Sachsen typisch ist, ist eine enorm starke Polarisierung der politischen Lage und der politischen Kultur in einer Schroffheit, wie wir sie woanders in dieser Form nicht finden. Bei den Reichstagswahlen 1992 sinken die bürgerlichen Parteien insgesamt zusammen auf unter 9 Prozent ab. Das müssen Sie sich vorstellen, was das für einen Umschwung bedeutet, wenn der Block der Linken, nehmen wir KPD und SPD zusammen, seit 1920 nahezu konstant bei rund 45 Prozent der Stimmen liegt, die bürgerlichen Parteien aber völlig zerrieben werden und die NS-Bewegung dann eigentlich an die Stelle der bürgerlichen Parteien tritt und sozusagen das Gegengewicht zum linken Block darstellt.

    Ohne nennenswerten Widerstand gelang es der NSDAP dann im Frühjahr 1933, alle Schalthebel der Politik, Justiz, Polizei und so weiter in Sachsen zu übernehmen und die Reste parlamentarischer Demokratie zu beseitigen. Noch einmal Martin Mutschmann vor dem Sächsischen Landtag im Mai 1933, an der beispielsweise die sozialdemokratische Fraktion gar nicht mehr teilnehmen konnte, weil sich die meisten Mitglieder bereits in Schutzhaft befanden:

    Wir sehen heute im Reich und in den Ländern, dass es sehr nötig ist, nach der Umschaltung auch wirklich eine Gleichschaltung des Geistes vorzunehmen, denn nur dort, wo ein einheitlicher Rhythmus vorhanden ist, besteht die Garantie, auch wirklich etwas vorwärts treiben zu können.

    Und diese Garantie sah beispielsweise so aus, dass Gauleiter Mutschmann ein altbewährtes Parteimitglied zunächst zum Reichskommissar für Sachsen und dann zum Ministerpräsidenten machte: Manfred von Killinger. Der Freikorpsführer der Brigade Erhard gehörte zu den Drahtziehern des Mordes am katholischen Zentrumspolitiker und Reichsminister Matthias Erzberger im August 1921. Ebenso war er Mitglied der Geheimorganisation Consul, auf deren Konto der Mord an Außenminister Walter Rathenau im Juni 1922 geht. Von Killinger, ebenfalls bei der Eröffnung des sächsischen Landtages im Mai 1933:

    Oberste Voraussetzung für die Durchführung der umrissenen Pläne ist die Haltung der Errungenschaften der nationalsozialistischen Revolution. Deshalb wird mit allen dem Staate zur Verfügung stehenden Machtmitteln jede Störung der Ruhe und Ordnung im Land verfolgt. Wir werden hier unbarmherzig sein.

    In kaum einem deutschen Land wurde der nationalsozialistische Gedanke so eifrig umgesetzt. Selbst bei der Einrichtung von Konzentrationslagern nahm Sachsen eine Spitzenposition ein. So war Burg Hohenstein in der sächsischen Schweiz eines der ersten und grausamsten KZ, wo sich Mutschmann persönlich an Exzessen gegen jüdische Gefangene beteiligte. Clemens Vollnhals:

    Mutschmann und seine Clique waren immer bemüht, ein Mustergau zu sein, und das heißt natürlich auch, ein Mustergau in Bezug auf antisemitische Maßnahmen, auch was die Euthanasie angeht und auch, dass die erste Ausstellung zur entarteten Kunst in Dresden stattfand.

    So war auf dem Ausstellungsplakat von 1933 zu lesen:

    Diese Ausstellung soll zeigen, in welchen Sumpf von Gemeinheit, Unfähigkeit und krankhafter Entartung die vordem so hohe, reine und edle deutsche Kunst in 15 Jahren bolschewistisch-jüdischer Geistesherrschaft hinabgesunken war. Denn was hier an entarteter Kunst gezeigt wird, ist entweder jüdische Arbeit oder solche, die von Halbjuden (Kritikern, Sammlern, Schriftstellern, Museumsleitern) begünstigt und gefördert wurde.

    An die Stelle der aus den Museen entfernten expressionistischen Brückekunst oder den neusachlichen Bildern von Otto Dix, der gleich 1933 von der Dresdner Kunstakademie entfernt worden war, trat nun die von Mutschmann geliebte sächsische Heimatkunst. Selbst Josef Goebbels war von dessen dumpfer Volkstümlichkeit angewidert, schreibt der 1969 geborene Historiker Thomas Schaarschmidt in seinem Beitrag zur nationalsozialistischen Kulturpolitik. Ja, der Reichspropagandaminister hatte sich über so viel Kulturlosigkeit und Sachsentum sogar bei Hitler beschwert, natürlich ohne Erfolg. Im Tagebuch vom November 1941 heißt es:

    Mutschmann spielt den Kulturtyrannen, und es ist nicht leicht, mit ihm auszukommen. Die Folge seines diktatorischen Vorgehens ist, dass die Dresdner Kunstinstitute immer mehr verfallen.

    Wenig zimperlich ging der Gauleiter Mutschmann auch mit seinen Parteifreunden um. So ließ er den Ministerpräsidenten und SA-Obergruppenführer Manfred von Killinger im Zusammenhang mit dem sog. Röhm-Putsch verhaften. Auch andere vermeintliche und tatsächliche Widersacher entfernte er gnadenlos. Seit 1935 war Mutschmann absoluter Alleinherrscher in Sachsen. In den verschiedenen Kapiteln des Buches wird gezeigt, wie er und seine Gefolgsleute in alle Bereiche des Landes hinein regierten. Verbündete hatte er selbst in Kreisen der evangelisch-lutherischen Landeskirche. Auf wenigen Seiten gelang es dem Leipziger Doktoranden Georg Wilhelm, das Ausmaß der Kollaboration der so genannten Deutschen Christen zu beschreiben, deren sächsische Hochburg Dresden war. Schwer lesbar sind dagegen solche Kapitel wie Kommunalverfassung und Kommunalpolitik der NSDAP oder NS- Schul- und Wissenschaftspolitik. Leider wurde Gauleiter Martin Mutschmann kein eigener Beitrag gewidmet. Selbst nach dem Untergang Dresdens, angesichts amerikanischer und sowjetischer Truppen, schreckte der nicht davor zurück, seine Bürger sinnlos zu opfern, während er selbst versuchte, sich in Sicherheit zu bringen. Der amerikanische Soldatensender 1212 verbreitete am 21. April 1945 den Aufruf einer Widerstandsgruppe mit dem Namen "Neues Deutschland":

    Das neue Deutschland erkennt in Mutschmann einen der schwersten Volksschädlinge und erklärt ihn hiermit für vogelfrei. Jedes Mitglied in der Abteilung Eingriff der ND Ortsgruppe Dresden und jeder Bürger der Stadt wird hiermit dazu aufgerufen, das Todesurteil an Mutschmann zu vollstrecken.

    Nur in einer Fußnote ist in dem Buch das Ende Mutschmanns angedeutet. Sein Schicksal war bis vor kurzem nicht bekannt. Erst die Öffnung der sowjetischen Archive brachte zumindest hier Klarheit. Auf der Flucht war er von den Sowjets verhaftet, vom obersten Militärgericht am 30. Januar 1947 in Moskau zum Tode verurteilt und am 14. Februar 1947 in der Lubjaka erschossen worden. Warum ihm kein öffentlicher Prozess etwa im Rahmen der Nürnberger Prozesse gemacht wurde bleibt Gegenstand weiterer Forschungen, wie so viele noch unbeantwortete Fragen über Sachsen in der Nazizeit.