Mittwoch, 24. April 2024

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Margareta Mommsen: Wer herrscht in Rußland? Der Kreml und die Schatten der Macht

Während unter Jelzin der Nachschub an politischem Spitzenpersonal aus dem Swerdlowsker Revier des vormaligen Gebietsparteisekretärs in der engeren Führungselite mit 31,4 Prozent und in den Ministerkabinetten nur mit 2,9 Prozent zu Buche schlug, lagen die entsprechenden Zahlen für die Petersburger "Connection" unter Putin bei 36,8 Prozent und bei 22,9 Prozent. Daß nahezu ein Viertel des Kabinetts nach und nach mit Abkömmlingen aus der Heimatregion des Präsidenten aufgefüllt wurde, machte deutlich, dass die Rekrutierung des politischen Personals in hohem Maße auf Putins persönlichem Vertrauen kraft alter Bekanntschaft fußte. Die sowjetischen Züge dieser einseitigen Personalpolitik waren unverkennbar.

Henning von Löwis im Gespräch mit der Verfassering | 26.05.2003
    So Margareta Mommsen, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität München in ihrem neuen Buch "Wer herrscht in Russland?".

    Frau Professor Mommsen, wer herrscht denn heute in Russland, die Petersburger oder die Moskowiter?

    Darauf kann man keine eindeutige Antwort geben. An sich ist das ein Kampf von Regierungsmannschaften. Der Stand des Spiels steht etwa 0:0. Die Regierungsmannschaften, das sind einmal die Vertreter der sogenannten "Familie", also der alten Kreml-Familie um Jelzin, und auf der anderen Seite die sogenannte "Mannschaft Nr.2", das sind dann die Petersburger; das sind im engeren Sinne die Anhänger des Präsidenten Wladimir Putin.

    Also, die alte Kreml-Familie ist noch nicht entmachtet?

    Die alte Kreml-Familie ist nicht entmachtet. Zwei Vertreter haben ganz hohe Posten im Staat. Das ist einmal der Regierungschef, Michail Kasjanow, und zum anderen der Leiter der Präsidialadministration, Alexander Woloschin - also, ganz hohe Ämter. Die Präsidialadministration ist ohnehin eigentlich die wichtigste Regierungsbehörde. Insofern ist die Familie noch gut etabliert. Es gibt weitere Repräsentanten der Kreml-Familie auf hohen Posten.

    Die politische Musik spielt ja in Moskau. Warum wird das Petersburg-Jubiläum so groß gefeiert?

    Ja, ich glaube, da kann man verschiedene Antworten darauf finden. Zunächst die ganz einfache, dass der heutige Präsident aus Petersburg stammt, und dass ihm sehr daran gelegen ist, die alte Hauptstadt wieder in neuem Glanz erstehen zu lassen, dass er ein persönliches Engagement hat für die Renovierungsarbeiten, und dass er das nach außen bekunden will, wie jetzt bei den Feierlichkeiten zum 300jährigen Jubiläum der Stadt. Man diskutiert auch in Moskau, ob nicht Petersburg wieder die Hauptstadt des Reiches wird. Das wird aber nicht so ganz ernst gesehen. Aber es finden ja immer Veranstaltungen dort statt. Und die zweite Kapitale kommt eben in jeder Hinsicht zu neuem Glanz.

    Es gibt ja einen "Petersburger Dialog", aber keinen "Moskauer Dialog". Heißt das, dass die Außenpolitik mehr und mehr an der Newa gemacht wird?

    Nein. Das würde ich so nicht sagen. Im Grunde wird die Außenpolitik schon in Moskau gemacht. Aber das ist eine sehr gute Frage: Wer macht die Außenpolitik überhaupt? Da wird auch viel darüber gerätselt. Man schreibt das im Grunde in erster Linie Putin selbst zu. Insofern ist es biographisch gesehen ein Petersburger, der die Außenpolitik steuert. Er soll einige Berater haben - da wird immer Margelow genannt oder Karaganow. Das ist nicht ganz erwiesen. Aber bestimmt nicht Iwanow, der Außenminister, der in Moskau in jedem Fall residiert.

    Also, es ist nach wie vor schwierig für Politikwissenschaftler hinter die Kulissen zu schauen...

    Ja, ich würde sagen, auf neue Art ist die alte Kreml-Astrologie durchaus wieder in. Und man muss sich vor allem über die Bedeutung der sogenannten Kaderpolitik Gedanken machen - das ist der alte sowjetische Ausdruck für Personalpolitik -, also: Wen holt der Präsident und setzt ihn auf welche Posten, und was kommt da für ein Muster dabei heraus? - Insofern ist die Petersburger "Connection" immer noch sehr aktuell, das heißt, die Bemühungen Putins, Leute aus seiner Heimatstadt nach Moskau zu holen in hohe und wichtige Posten. Dabei holt er die unterschiedlichsten Typen: einmal alte Kollegen aus dem früheren KGB, jetzt FSB, oder alte Arbeitskollegen aus der Stadtverwaltung, oder auch Studienkollegen oder einfach alte Bekannte.

    Würden Sie sagen, die Petersburg "Connection" ist ein wichtiger Stabilitätsfaktor für die Regierung Putin?

    Es ist schon ein Stabilitätsfaktor für Putin selbst. Die Petersburger "Connection", das ist seine Hausmacht in Moskau.

    Frau Professor Mommsen, Peter der Große legte nicht nur den Grundstein für St. Petersburg, er schuf auch die Ostseemacht Russland. Bald schon wird sich die Ostseeküste zwischen Narwa und Memel in NATO-Hand befinden. Ist Russland eine Ostseemacht von Gestern?

    Putin ist ja sehr bemüht, möglichst enge Beziehungen zur NATO selbst herzustellen. Es gibt jetzt diese neue sogenannte "NATO der Zwanzig". Ich glaube - gewissermaßen im Geiste Peters des Großen - will er da ein Fenster aufstoßen nach dem Westen oder nach der Ostsee und so eben möglichst enge Beziehungen zur NATO herstellen, dass man diesen Widerspruch, dass man den gar nicht mehr so sehen kann.

    Glauben Sie, dass Russland seine letzte Ostsee-Provinz, die Beute-Provinz Ostpreußen, langfristig halten kann, oder wird auch Königsberg abdriften in Richtung Westen?

    Das ist ein großes Problem - Königsberg überhaupt, die Verhältnisse dort, die höchste Rate an Kriminalität, an Prostitution. Es gibt eigentlich nur Negativwerte über Kaliningrad zu berichten. Außerdem die Frage: Wie geht es weiter, wenn demnächst Kaliningrad von lauter EU-Staaten eingeschlossen ist? Da gab es ja diverse Verhandlungen zwischen Moskau und Brüssel, die aber für Moskau nicht zufriedenstellend ausgefallen sind. Also, die Frage der Visa und der Züge zwischen Kaliningrad und dem russischen Kernland. Da ist noch sehr viel daran zu arbeiten. Im Grunde ist es eine Aufgabe, die beide Seiten, also, sowohl die EU als auch Moskau, noch etwas entschlossener angehen müssen. Dann könnte ich mir vorstellen, dass Kaliningrad doch eine Art integrierte Provinz in der EU irgendwann sein wird.

    Das Stadtjubiläum "750 Jahre Königsberg" will man ja nicht so groß feiern. Da gibt es offenbar Bedenken in Moskau. Hat man Angst vor Königsberg in Moskau?

    Angst wohl nicht. Aber es ist eben eine offene Wunde und auch, man könnte fast sagen, ein Schandfleck, ja, für die russische Politik, dass die Verhältnisse dort so im Argen liegen.