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Maria Stuart, Martin Salander und die Heuschrecken

Ab dieser Spielzeit wird das Schauspielhaus Zürich erstmals von einer Frau – und besonders von einer Schweizerin geleitet, eine Schweizerin, die das Zwinglianische am Schweizer Publikum kennt. Diese Zurückhaltung. Man will sich nicht hinreißen lassen, erst mal schauen und abwarten. Barbara Frey ist 1963 in Basel geboren, sie studierte Germanistik und Philosophie in Zürich. Später dann ihre Theaterstationen: Basel, Mannheim, Hamburg, Berlin – wo sie am Deutschen Theater zuletzt als Regisseurin bestallt war.

Von Karin Fischer | 20.09.2009
    Das Bühnenbild der "Maria Stuart" gibt Rätsel auf. Bettina Meyer hat ein verschachteltes Rohrsystem in die Schiffbauhalle gebaut, wie man es aus den Kathedralen der Industriekultur in Bochum oder Essen kennt. Das dickste Rohr ist auch Marias Kerker. Die passendste Assoziation: Undurchschaubar wie die Wege der Dämpfe in den verwirrenden Anlagen der Petrochemie sind die Mechanismen der Macht, die die neue Intendantin hier herausdestillieren will. Flüchtig wie chemische Elemente die Koalitionen der Mächtigen, instabil wie Gase die Aggregatzustände der beteiligten Figuren, explosiv möglicherweise jede ihrer Entscheidungen. Denn es ist ein subtiles psychologisches Kammerspiel, das Barbara Frey vor diesem breitwandigen Panorama auf dennoch kleinem Raum ablaufen lässt, in zunächst historisierenden Kostümen, mit stark gekürztem Schiller-Text und schöner Musik von Claus Boesser-Ferrari und Graham Valentine.

    Einmal mehr verschiebt Frey die interpretatorische Gewichtung vom Drama der Stuart hin zur Elisabeth, so wie sie die Zeitebene peu à peu ins heute und die Stimmung ins Privatistische verschiebt. Aus Renaissancekrägen und strengen, hohen Stirnen werden später Zweireiher und Wallehaar. Das ist weder ein neuer noch ein sehr überraschender Ansatz, ermöglicht aber viel plausible Szenen. Carolin Conrad als Elisabeth spielt gekonnt auf der ganzen emotionalen Klaviatur zwischen skrupulöser Überforderung, weiblichem Neid und machtbewusstem Sadismus. Diese schmale Person mit der ausdrucksstarken Stirnfalte und der tollen Stimme wirkt sogar als "Desperate King" überzeugend.

    Die Inszenierung behält die schillerschen Diskurse über Recht, Macht, Ehe, Glauben, Volkswille und Verrat in einer ausgefeilten Schwebe, unterwirft sie aber letztlich doch dem Psychogramm der Königin und ihrer Berater-Gesellschaft. Baron von Burleigh, Lambert Hamel als zuverlässiger Vollzugsbeamter, erklärt die Weltsicht beider Frauen aus ihrer Sozialisation. Frank Seppeler als Lord von Leicester ist die überzeugende Version eines Menschen, den Macht- und Anpassungswille ungesund überfordern. Und Siggi Schwientek als Lord Shrewsbury hat zwar Vernunft und Recht auf seiner Seite, kann aber als unzeitgemäßer Tattergreis keinen Stich mehr machen.

    Manchmal rennen die Protagonisten wie gejagt von ihren Furien durch den Raum. Und Jirka Zetts "Mortimer" muss als überemotionaler, am ganzen Leib zitternder Lehrling der Macht deren Kosten sogar körperlich ausagieren, in der Vergewaltigung Marias oder im Selbstmord. Das ist Zaunpfahl-Psychologie, die Barbara Frey sich hätte sparen können.

    Zuletzt die Maria der Jördis Triebel: eine strenge, geistig wendige und den Schillerschen Sätzen jedes Pathos austreibende Frau, die die private Konkurrenz mit Elisabeth gewinnt und vielleicht auch deshalb so ungerührt aufs Schafott steigt. Die sich schließende Kerkerröhre aus dickem Stahl wirkt jetzt wie ein großer Höllenschlund. Barbara Frey hätte am Ende des Stückes wirklich genügend verlorene Seelen dafür.

    Durchs Höllenfeuer einer mitleidlosen Selbstanalyse hat der Schriftsteller Adolf Muschg seine Landsleute zum eidgenössischen Buß- und Bettag gerade in der "Zeit" geführt, mit Gottfried Keller. Der hatte in seiner Funktion als erster Schweizer Staatsschreiber 1862 gerade sein erstes "Bettagsmandat" aufgesetzt, das sofort vom Regierungsrat kassiert wurde. Darin hieß es: "Es ist der Streit um Gewinn und irdischen Vorteil, der unter dem Vorwande ökonomischer Notwendigkeit die ältesten und ersten Grundzüge christlicher Weltanschauung verleugnet und in Strömen Blutes erstickt." Muschg schlägt vor, das Bettagsmandat nach dem Platzen der globalen Finanzwirtschaftsblase als Einspruch gegen ihre Anfänge zu lesen. Kellers Alterswerk "Martin Salander" sei der "grimmige Abschied von einer Republik, die ihre Substanz und Glaubwürdigkeit durch grenzenlose Profitsucht verspielt hat."

    Thomas Jonigk hat den Roman jetzt in eine Bühnenfassung gebracht, die das Thema wohltuend unterschnitten angeht und gerade deshalb die Verhältnisse damals und heute intelligent zu spiegeln vermag. Die Geschichte selbst ist schon ziemlich irrwitzig: Der Kaufmann Salander wird von einem skrupellosen "Freund" gleich zwei Mal um sein Vermögen gebracht, das er sich unter anderem in Brasilien erarbeitet hat. Er ist alles andere als ein Turbokapitalist, er will als überzeugter Demokrat für die Vervollkommnung des Gemeinwesens arbeiten. Weil er als Sozialromantiker die Realität aber nur ausschnittweise zur Kenntnis nimmt, geschieht weiteres Unglück: seine Töchter heiraten zwei skrupellose Aufsteiger aus dem Bauernstand, die am Ende mit betrügerischen Geschäften auffliegen. Und seinem "Freund" Louis Wohlwend gelingt es fast ein drittes Mal, ihn zu ruinieren.

    Gottfried Breitfuss ist von Statur und Stimmlage der geborene Verlierer. Er wirkt sanft, gemütlich und unelegant, weshalb man ihm den erfolgreichen Kaufmann nicht ganz, den zunehmend realitätsfernen und schwärmerischen Looser umso mehr abnimmt.

    Die Inszenierung Stefan Bachmanns glänzt durch eidgenössische Schlichtheit: Elf Stühle vor einer niedrigen Wand zeigen eine 50er-Jahre-Gesellschaft erst mal nur von hinten. Gelbliches, krank machendes Licht herrscht lange über der Szene. Ein Kühlschrank enthält ein Metronom, die übrige Geräuschkulisse fabrizieren die Schauspielerinnnen und Schauspieler selbst: das Gasthaus, die Kuhweide, das Radio und herzallerliebste Gesänge. Das Ensemble hält hoch konzentriert die Waage zwischen lieblicher Heiterkeit und trockenem Sarkasmus und macht so den großen Verblendungszusammenhang auf allen Seiten deutlich: Für die nach-1848-er Ideale einer "unmittelbaren Selbstregierung" ist das Volk leider, leider noch nicht wirklich reif. Die aufgeklärten Bildungsbürger wollen aus ihren Töchtern "freie Frauen" machen und lassen ihnen deshalb keine Ausbildung zukommen (!). Und der Kapitalismus erlaubt endlich jedem, auch ohne Arbeit reich zu werden: Durch Spekulation, Börsenzockerei, falsche Schuldverschreibungen und erfundene Pfandbriefe, Amtsmissbrauch und Veruntreuung öffentlicher Gelder.

    Die Parallelen zu heute sind augenfällig. Das Stück ist zum Neuanfang ein smartes und nur wenig vergiftetes Geschenk an die Stadt und eine Neuentdeckung des Romans für die Bühne.

    Stefan Kaegie von Rimini Protokoll hat mit seinen "Heuschrecken" nun nicht auch noch die gefräßigen Unternehmensraubzüge im Sinne Münteferings auf die Bühne gebracht. Sondern ein sandiges Terrarium mit 9805 echten Bewohnern. "Das System" ist ein langgestreckter Tunnel mit Bergen, Brücken und Kameras versehen, es ist unserem Globus nachempfunden und funktioniert wie alle Rimini-Protokoll-Produktionen über "Experten des Alltags" und lehrreiche Analogien. Es geht um Organisation, Kommunikation, Nahrungsaufnahme oder Wanderungsverhalten der Heuschrecken. Sie sind extrem robust, empfinden keinen Schmerz, brauchen praktisch kein Wasser, und auch ohne Kopf können sie sich noch zu Ende paaren. Ihr Zerstörungspotenzial zeigen Heuschrecken-Horror-Filme oder Amateuraufnahmen aus Afrika; auch die ausgeteilten Getreidekeimlingspflanzen sind schnell vernichtet. In diesem Zusammenhang darf die Apokalypse oder das Buch Mose nicht fehlen. Der Insektenforscher sagt, wir hätten Angst vor Heuschrecken, weil sie keine Pupillen haben, wir ihnen also nicht in die Augen schauen könnten. Die Astrophysikerin spricht über die Bewohnbarmachung des Mars. Der Star des Abends aber ist Dr. Zakaria Fárah, ein in Somalia geborener Chemiker, der über die Haltbarkeit von Kamelmilch forschte und von afrikanischen Nomaden, Schweizer Fondue und Visumsproblemen in Brasilien erzählt.

    Denn in Wahrheit ist der Heuschrecken-Versuchsaufbau natürlich eine gut getarnte Lehrstunde über Globalisierung, über umkämpfte Ressourcen, Erderwärmung, Insektenbekämpfung und Hunger. Und gelangt deutlich an Grenzen, wenn die Heuschrecken als "Investoren" betrachtet oder mit ihnen "Grenzübertritte" simuliert werden. Der Grenzzaun ist aus Draht gespannt, wodurch ausnahmsweise keine Opfer, sondern Musik produziert wird.

    Ein gezauster Schiller, ein gesellschaftskritischer Keller, und eine ungewöhnliche Tier-Schau. Das Züricher Eröffnungswochenende kann als vielstimmig, anregend und gelungen gelten.