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Mariam Kühsel-Hussaini: "Tschudi"
Kunst und Intrige

Als Direktor der Nationalgalerie bringt der Kunsthistoriker Hugo von Tschudi die französische Moderne nach Berlin, gegen den Widerstand des konservativen Establishments. Sein wichtigster Gegner: Kaiser Wilhelm II. Es wird zum Showdown kommen.

Von Paul Stoop | 30.04.2020
Buchcover: Mariam Kühsel Hussaini: „Tschudi“, im Hintergrund: die alte Nationalgalerie in Berlin
Mariam Kühsel Hussaini: „Tschudi“, im Hintergrund: die alte Nationalgalerie in Berlin (Buchcover: Rowohlt Verlag, Hintergrund: www.imago-images.de)
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlebt Berlin ein Wunder. In der preußischen Hauptstadt der kraftstrotzenden Neu-Großmacht wird ein Schweizer zum Direktor der Nationalgalerie ernannt. Und zwar einer, der diesem Kunst-Schaufenster des Wilhelminischen Reichs eine beachtliche Sammlung französischer Impressionisten beschert – als erstem Museum der Welt überhaupt und gegen heftigen Widerstand.
Dieser Hugo von Tschudi steht im Mittelpunkt des Romans von Mariam Kühsel-Hussaini, einem Porträt der Berliner Gesellschaft zwischen 1895 und 1908, genauer, jenes Teils der Gesellschaft, die sich mit Kunst befasst: Künstler, Mäzene, Industrielle – und Politiker. Tschudi, ein auffallend großer Mann mit dunklen, und, wie Hussaini schreibt, strahlend-stechenden Augen, hat eine enorme Ausstrahlung auf seine Gesprächspartner, Freunde wie Gegner. Mit einer Mischung aus Bewunderung und Missgunst betrachtet ihn sein anfänglicher Förderer Wilhelm Bode, der museumspolitisch einflussreichste Mann im Kaiserreich:
"Dieser Adlige aus der Schweiz, der Wiener Gymnasiast gewesen war, bewundert und umschwärmt von seinen Kameraden, der ständig reiste, überall hin fuhr und der so gar kein Interesse für die Romantik und den Pathos der Soldaten empfand, ja nicht begreifen konnte, wie etwas so Ausgehöhltes wie der Krieg überhaupt existenzieller Gegenstand sein konnte, Bedürfnis und Ausdruck. Dieser Mann, der nichts nötig hatte, einzig aus Lust bestand, versehen mit einem goldenen Stempel."
Fundraiser mit Charme und Überzeugungskraft
Dass er Tschudi die Stelle als Direktor der Nationalgalerie verschafft hat, tut von Bode schon bald leid. Denn sein Protégé macht sich gleich daran, seine Institution zu entstauben. Einen wichtigen Verbündeten hat Tschudi in Max Liebermann. Mit ihm fährt er nach Paris, um den Kauf impressionistischer Werke in die Wege zu leiten. Manet, Monet, Degas, Rodin begeistern die beiden Komplizen.
Denn eines ist klar: Tschudi und die Berliner Modernen müssen sich konspirativ verhalten. Haben sie doch den denkbar mächtigsten Gegner: Kaiser Wilhelm II und dessen rückwärtsgewandten und nationalistisch argumentierenden Einflüsterer Berater wie Wilhelm Bode. Tschudi erweist sich als charmanter Fundraiser und schlitzohriger Stratege, der Berliner wie den erfolgreichen Kaufmann Wilhelm Staudt becirct und um die Finanzierung von Ankäufen für die Nationalgalerie bittet:
"Da war es, das Glitzern in Staudts Augen, da war, was Tschudi wollte, benötigte und nur noch ergreifen musste. Tschudi tanz-taumelte durch den Raum, sah sich vom Sofa aus von einem Zimmer ins andere schwelgen, das war aber nur sein Schatten, der manchmal aus ihm wich und eigene Bewegungen vollführte."
Indem der Ankauf wichtiger "Franzosen" teilweise privat finanziert wurde, konnte Tschudi Schritt für Schritt avantgardistische Werke in der Nationalgalerie unterbringen, ein international Aufsehen erregendes Unterfangen.
Impressionistische Kunst als Genussmittel
Die Handlung über die Jahre bis zu Tschudis Entlassung 1908 schildert Mariam Kühsel-Hussaini in rasanter Abfolge, oft in Dialogen. Da gibt es Männerrunden mit ordentlich Alkohol und viel Berliner Witz. Und es gibt öffentliche Feierlichkeiten, in denen Tschudi im Angesicht des Kaisers den loyalen Direktor gibt, aber doch glühende Plädoyers für die Autonomie der Kunst hält. Im Parlament, dessen Debatten Tschudi wortlos-entsetzt lauscht, herrschen die hasserfüllten Stimmen der Nationalisten vor, die gegen die Franzosen und ihren "Farbangriff" hetzen.
Kühsel-Husseinis Sprache ist farbig und üppig. Sie schreibt so lustvoll, wie es ihrem Protagonisten Hugo von Tschudi entspricht, von dem der Satz überliefert ist, er könne einen Cézanne "wie ein Stück Kuchen oder ein Stück Wagner’scher Polyphonie" genießen. Das Tempo der Szenenwechsel passt zum Gewusel des zur Metropole wachsenden Berlins, zur Euphorie der Modernisten und zur wachsenden Nervosität eines nationalistisch-aggressiven Deutschlands.
Kunstvoll sind ihre oft nur wenige Zeilen langen Miniaturen, die Schlaglichter auf einige Berliner Akteure werfen, die immer wieder auftauchen, wie der alte Adolph Menzel, von Tschudi bewundert, aber doch Vertreter einer vergangenen Epoche.
"Der sehr alt gewordene Adolph Menzel drehte das Licht in der Sigismundstraße aus und ging schlafen. Mit vollem Bauch, wie jeden Abend, er aß und aß, er fraß, um zu vergessen."
Ein ansteckend-begeisternder Roman
Das große Drama spielt sich indessen in Hugo von Tschudi selbst ab. Erfolgreicher Erneuerer, bewunderter Souverän in der Kunstwelt, glücklich mit der schönen Spanierin Ela verheiratet und Vater eines Sohns, kämpft er gegen seinen Dämon, die Wolfskrankheit. Der "Lupus" ist eine Autoimmunkrankheit, die Tschudis Gesicht unaufhaltsam auffrisst und ihn, Verfechter der Schönheit, entstellt und demütigt. Jeder Blick in den Spiegel ist für ihn eine Qual:
"Warum diese gemeine Krankheit, wozu? Wo ist mein Gesicht?", fragte er sich. "Das ist nicht mein Gesicht, ist nur verklebtes Pulver, ist trockener abbrechender Brösel, es bewegt sich ja kaum noch". Er zog erneut seinen Spiegel hervor. Sah in seine Augen hinein. Da war so eine nasse Schnelligkeit in ihnen, triumphale Emphase, es war scharf schwärmerische Lebendigkeit, durchbrochen von massivster Verzweiflung."
Besiegen kann Tschudi diesen Kampf nicht. Auch nicht den Kampf um die Kunst. Die Traditionalisten, angestachelt vom intriganten Wilhelm Bode, stürzen ihn. Tschudi wird zwangsbeurlaubt und wechselt später als Direktor der Staatlichen Museen nach München. 1911 stirbt er an der Wolfskrankheit.
Kühsel-Hussainis Roman ist lebensprall und wirkt mit seinem Vorwärtsdrang ansteckend – und am Ende lässt er den Leser in der Corona-bedingten Zeit geschlossener Museen frustriert zurück. Denn man muss einfach aufstehen und sich auf den Weg in die Alte Nationalgalerie oder die Neue Pinakothek machen, um sich selbst mit den Impressionisten zu umgeben und dem Geist Tschudis nachzuspüren. Sollte es bis zur Öffnung der Museen noch lange dauern, gibt es nur ein Mittel, die Ungeduld zu zügeln: sich nochmal einen kleinen Rausch anlesen.
Mariam Kühsel-Hussaini: "Tschudi".
Rowohlt Verlag, Hamburg, 320 Seiten, 24 Euro.