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Marianna Butenschön: Litauen

Unter dem 55. Grade 52 Minuten 24 Secunden der nördlichen Breite liegt hart am Meeresufer das Dorf Nimmersatt, der nördlichste Punkt des königlich preußischen Besitzthums, in einer Wüste lockern Sandes, die nach Westen nur das Meer und nach den anderen Himmelsgegenden magere Fichtenstrecken begrenzen. Hier erhebt sich auf dem ebenen Boden weithin sichtbar ein schwarz und weiß gestreifter Schlagbaum, die Grenzmarke Preußens. Etwas neutraler Boden führt zu einer zweiten Barriere mit russischen Farben, an der die Lanze des Kosaken dem Fremden entgegensteht und ihn bei Überschreitung derselben in das eine halbe Meile nördlicher liegende Uferstädtchen Polangen führt.

Dietrich Möller |
    Unter dem 55. Grade 52 Minuten 24 Secunden der nördlichen Breite liegt hart am Meeresufer das Dorf Nimmersatt, der nördlichste Punkt des königlich preußischen Besitzthums, in einer Wüste lockern Sandes, die nach Westen nur das Meer und nach den anderen Himmelsgegenden magere Fichtenstrecken begrenzen. Hier erhebt sich auf dem ebenen Boden weithin sichtbar ein schwarz und weiß gestreifter Schlagbaum, die Grenzmarke Preußens. Etwas neutraler Boden führt zu einer zweiten Barriere mit russischen Farben, an der die Lanze des Kosaken dem Fremden entgegensteht und ihn bei Überschreitung derselben in das eine halbe Meile nördlicher liegende Uferstädtchen Polangen führt.

    So Anton von Etzel 1865 in seinem Werk "Die Ostsee und ihre Küstenländer" - zitiert von Alexander von Normann in seiner eindrucksvollen Bild- und Textdokumentation "Nördliches Ostpreußen. Gegenwart und Erinnerung einer Kulturlandschaft", soeben erschienen im Verlag C. H. Beck in München. Heute - im Jahre 2002 - ist Nimmersatt kein Grenzdorf mehr, Polangen kein russisches Städtchen und Preußen - als Staat - gänzlich von der Landkarte verschwunden. Preußens Osten - Ostpreußen - ist dreigeteilt, aufgeteilt zwischen Polen, Rußland und Litauen. Über dem Memelland weht die Fahne der wiedererstandenen Republik Litauen. Fast ein halbes Jahrhundert lang war Litauen Sowjetrepublik, Bestandteil der UdSSR - entrückt von Europa, jenseits des deutschen Aufmerksamkeitshorizontes.

    Litauisch-westdeutsche Beziehungen waren nach 1945 nicht existent. Zwischen der DDR und Sowjetlitauen gab es gelegentlich Kontakte und einen ideologisch gefärbten akademischen Austausch. Erfurt und Wilna waren Partnerstädte, bevor Duisburg und Wilna es wurden. In den Perestroika-Jahren hatte die DDR Angst vor dem Bazillus der "singenden Revolution", während die Bundesregierung sich mehr um Gorbatschow und den Zusammenhalt der UdSSR, als das Recht der baltischen Völker auf Selbstbestimmung sorgte. Auch ein großer Teil der bundesdeutschen Presse verunglimpfte die Balten als "Separatisten", "Extremisten" und "Nationalisten". Die Wiederherstellung der Unabhängigkeit am 11. März 1990 traf die Bundesregierung völlig unvorbereitet.

    ...bemerkt Marianna Butenschön in ihrer Monografie "Litauen". Litauen kompakt, beschrieben und analysiert auf 199 Seiten. Viel Stoff und viel Lektüre für unseren Rezensenten Dietrich Möller.

    Na, endlich, möchte man sagen - na, endlich liegt uns ein Porträt jener kleinen Republik im Nordosten unserer etwas antiquierten Europavorstellung vor, die zwar stets Erwähnung findet, wenn von der Osterweiterung der Europäischen Union und der NATO die Rede ist, von der jedoch der politisch interessierte Nachrichtenkonsument meist kaum eine andere als eine vage, auf die Geschichte der vergangenen fünfzig oder achtzig Jahre zurückgehende Kenntnis hat: Dass sie wohl nach dem Ersten Weltkrieg erst entstanden sein mochte, von Hitler an Stalin verschachert und von der Sowjetunion okkupiert wurde, um dann eine der ersten zu sein, die sich aus deren zerbröselndem Regime befreite. Gemeint ist Litauen, der westlichste der drei baltischen Staaten in der weiland Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.

    "... bereits im Sommer 1989, auf dem Höhepunkt der "singenden Revolution", hatten französische Kartographen unseren alten Kontinent neu vermessen und festgestellt, dass der geographische Mittelpunkt Europas ganz in der Nähe der litauischen Hauptstadt Wilna bei 54°54' nördlicher Breite und 25°19' östlicher Länge liegt. Das Meßergebnis bestätigte den Litauern jedoch nur, was sie ohnehin wußten: Litauen liegt mitten in Europa!"

    Na ja, ob "die Litauer" das wußten, ist eher zweifelhaft; dass sie sich jedoch mehr gen Westen als nach Osten orientierten, steht außer Frage. Denn obwohl ihr Herrschaftsgebiet einst, im 15. Jahrhundert, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte und dergestalt einen Teil Rußlands, Weißrußlands und der Ukraine einschloß, waren sie dem westlichen Polen viel mehr und auf mannigfaltige Weise verbunden, keineswegs zuletzt durch den gemeinsamen katholischen Glauben.

    "Anders als die Esten und Letten, die erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs eigene Staaten zu gründen vermochten, können die Litauer auf eine lange staatliche Tradition zurückblicken. Im Mittelalter war das Großfürstentum Litauen eine multinationale und multikonfessionelle mitteleuropäische Großmacht, mit der alle Nachbarn rechnen mußten. Das Litauische Statut, eine Gesetzesammlung, die alle Sphären des staatlichen und öffentlichen Lebens regelte, gilt als erste europäische Verfassung."

    Jene Großmacht ging schließlich im polnischen Staat auf und - mit ihm unter; im Zuge der Teilungen fiel Litauen unter russische Herrschaft. Die Neu- oder Wiederbegründung als kleine Republik im Jahre 1918 währte nur bis 1940, indessen nicht aber auch der Traum eigener Staatlichkeit. Freilich, ...

    "... die Masse der Bevölkerung versuchte, das Leben so erträglich wie möglich zu gestalten. Dabei wurden auch in Litauen Opportunismus, Lüge, Täuschung, Korruption und andere Begleiterscheinungen des Sowjetsystems zum festen Bestandteil des Alltags. In der Schattenwirtschaft des Plansystems richteten die Litauer sich aber so gut ein, dass die Republik in den 70er Jahren einen vergleichsweise hohen Lebensstandard erreichte... Aber der passive Widerstand ... hörte nicht auf. Er bestand hauptsächlich in der Pflege der Sprache und der Folklore."

    Des Liedguts; wie in Estland und Lettland, wurde der massenhafte Gesang zum Ausdruck von Opposition und Selbständigkeitsstreben, mit der "singenden Revolution" als Höhepunkt. Natürlich, eine wesentliche Voraussetzung für deren Sieg war der in Moskau vollzogene Wechsel vom Neostalinismus hin zu "Perestroika" und "Glasnostj", zum Umbau des überkommenen Systems und - als eines Mittels zu diesem Zweck -zu Offenheit und Durchsichtigkeit. In Litauen wurde eine "Bewegung für die Perestroika" gegründet, die sich sehr bald als eine für die Wiederherstellung der Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Landes erwies, der der Oberste Sowjet in Wilna nur noch folgen konnte, gleichsam getrieben. Marianna Butenschön skizziert diese Entwicklung ebenso wie die ganze Geschichte, wie die heutige Parteienlandschaft, die Politik und die Wirtschaft, die Kultur. Dass Letzterer in der entsprechenden Kapitelüberschrift auch die Gesellschaft zugeordnet ist, erweist sich allerdings als Irreführung: Über die Gesellschaft erfährt man in diesem Teil nichts, in dem der Politik und Wirtschaft gewidmeten wenig. Anlaß zu Kritik gibt überhaupt mancherlei: Warum die Autorin Namen von Orten, die nie zu Litauen gehörten, mit den litauischen Bezeichnungen versehen hat, ist nun wirklich nicht nachvollziehbar, so Königsberg, Ragnit und Tilsit, ostpreußische Städte, die nur insofern etwas mit Litauen zu tun hatten, als dort in litauischer Sprache gedruckt wurde, was im russischen Herrschaftsgebiet nicht gedruckt werden durfte und abgesehen von einer verschwindend kleinen litauischen Minderheit. Übrigens hätte es sich auch angeboten, einiges über den litauischen Nationalismus, gar Chauvinismus zu schreiben, wie er sich ehedem gegenüber dem deutschen Memelland und einem Teil Ostpreußens äußerte und heute mit Blick auf das russische Gebiet um das ehemalige Königsberg. Zu beklagen sind auch Sprünge in der Darstellung, Ungenauigkeiten und ein zuweilen salopper oder ungelenker Umgang mit der Sprache. So lesen wir über das Frühjahr 1944, als auch für jeden Litauer die Niederlage der deutschen Wehrmacht abzusehen war:

    "Da machten sich Zehntausende, zumeist Angehörige der gebildeten Schichten, auf den Weg nach Westen. Sie verbrachten mehrere Jahre in Lagern für `displaced persons´ in den westlichen Bestazungszonen Deutschlands und wanderten gegen Ende der 40er Jahre überwiegend nach Übersee aus."

    Auf den Weg nach Westen - doch wohin dort? Doch wohl nach Deutschland. Und dort gab es während des noch bis zur Kapitulation währenden Jahres ganz gewiß keine Besatzungszonen und also auch keines der genannten Lager. Über den Versuch Moskaus, im Januar 1991 mit bewaffneten Kräften Litauen in die Sowjetunion zurückzuzwingen, und den Putschversuch gegen Gorbatschow sieben Monate später schreibt die Autorin, Gorbatschow habe die Verantwortlichen für den Wilnaer "Blutsonntag" im Januar nicht zur Rechenschaft gezogen, und dann:

    "So konnten die gleichen Männer es am 19. August 1991 noch einmal versuchen, und am Ende verdankten die Litauer die Unabhängigkeit gerade denjenigen Kräften, die sie ihnen mit Gewalt vorenthalten wollten, den Putschisten."

    Was denn, versuchten es jene Männer noch einmal in Wilna? Natürlich nicht. Und wieso schulden die Litauer den Putschisten Dank? Freilich, die Verfasserin meint, der gescheiterte Moskauer Putsch forcierte dort die Entwicklung zur Auflösung der Sowjetunion derart, dass auch Litauen davon profitierte. Nur - warum schreibt sie es nicht? Ein letztes Beispiel für die gelegentlich oberflächliche, allzu flinke Darstellung bietet das Kapitel zur Wirtschaft. Da heißt es, nach der Wende seien die landwirtschaftlichen Kollektivbetriebe liquidiert und das Land an die Eigentümer zurückgegeben worden.

    "Bei einer durchschnittlichen Hofgröße von 8 ha erzielen die meisten Bauern angesichts enorm gestiegener Produktionskosten keinen Gewinn. Die Zahl der rentablen, konkurrenzfähigen Höfe wächst jedoch stetig. Kein Wunder daher, dass Algirdas Brazauskas . . . "

    ... von 1992 bis '97 Präsident und seit dem vorigen Jahr Regierungschef. . .

    " ...dass Algirdas Brazauskas besonders auf dem Land, wo 30 Prozent der Bevölkerung leben, als Retter der Nation gilt, obwohl der Agrarsektor noch weiter schrumpfen muss."

    Das ist nun wirklich keine schlüssige Erklärung für das Ansehen des Premiers. Und man fragt sich auch, wie die größeren Höfe entstehen - durch Pleiten? Durch Aufgabe und Zukauf? Und wo bleiben diejenigen, die ihre Höfe aufgeben? Wovon leben sie, wie ändert sich die Struktur der Bevölkerung? Das sind für Litauen recht wesentliche Fragen. Hervorzuheben ist indessen das Kapitel mit der Überschrift "Das litauische Jerusalem". Tatsächlich war Litauen - wie auch nebenan Polen - ein von Juden bevorzugtes Siedlungsgebiet, nicht zuletzt dank einiger früher Privilegien und einer vierhundertjährigen Autonomie; und Wilna war ein Zentrum des Ostjudentums. Die Autorin zitiert Emanuelis Zingeris, den Direktor des Jüdischen Museums in Wilna:

    "Vor dem Zweiten Weltkrieg war der Jude Teil der litauischen Landschaft, wohin man auch kam, man fand eine Kuh, einen Bauern, ein Pferd, einen Juden und ein Fahrrad."

    Und die Verfasserin fährt fort:

    "Seit dem Zweiten Weltkrieg ist ganz Litauen ein jüdischer Friedhof. Das größte Grab liegt in Paneriai... südlich von Wilna, das wegen seiner großen jüdischen Gelehrsamkeit einmal den stolzen Titel eines `litauischen Jerusalem´ trug... Mit der Liquidierung des Wilnaer Ghettos am 23. September 1943 ging die jüdische Geschichte der Stadt zu Ende. Joshua Sobols Erfolgsstück `Ghetto´ (1984 in Haifa uraufgeführt) erzählt davon. Ansonsten ist die Geschichte des jüdischen Litauen fast vergessen. Auch in Litauen. Und Wilna verschließt sich der Spurensuche."

    Dies ist wohl das eindrucksvollste Kapitel des Büchleins, es ist mit Engagement und Einfühlungsvermögen geschrieben. Ähnlich eindrucksvoll ist übrigens auch die Beschreibung eines merkwürdigen, ja, eines heiligen christlichen Platzes, des "litauischen Golgatha", des "Bergs der Kreuze" nahe Siauliai:

    "Es ist ein Ort von mystischer Schönheit: still, erhaben, urtümlich. Mehr als 100.000 große und kleine Kreuze drängen sich auf dem kleinen Hügel, und es werden immer mehr. Wer hier die ersten Kreuze aufgestellt hat, weiß man nicht genau. Kranke errichteten sie, um gesund zu werden, Geheilte, um Gott zu danken..."

    Fassen wir zusammen: Das Buch entspricht nach Form und Inhalt der Reihe "Länder" im Beck-Verlag. Zu der Darstellung mit den genannten Kapiteln gesellen sich gesondert statistische Angaben, eine Zeittafel, Aussprachehilfen, Literaturhinweise, Adressen im Internet und solche von wichtigen Institutionen in Litauen und in Deutschland, Karten und ein Register. Das alles ist informativ wie der Text im übrigen; tiefschürfend oder gar anspruchsvoll erzählend will es ja auch nicht sein.

    Dietrich Möller über Marianna Butenschön: Litauen, Verlag C. H. Beck, München 2002.