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Marieluise Fleißer zum 100. Geburtstag

Marieluise Fleißers Karriere begann mit einem Paukenschlag und endete im Hafen der Ehe. Der Paukenschläger war Bertholt Brecht und der Ehemann Bepp Haindl, ein Tabakwarenhändler aus der Provinz, bei dem die junge Schriftstellerin Schutz suchte vor nationalsozialistischen Anfeindungen und sich wiederfand in einem Gefängnis. Ein typisches Frauenschicksal oder nur die halbe Wahrheit? Beides. Denn Marieluise Fleißer war weit mehr als das Opfer patriarchaler Strukturen und widriger Umstände, und sie wusste das sehr wohl.

Sacha Verna | 23.11.2001
    Die heute vor hundert Jahren in Ingolstadt geborene und ebendort 1974 verstorbene Theater- und Prosaautorin zählt zu den eigenwilligsten und interessantesten Literatinnen, die die Weimarer Republik hervorgebracht hat. Bekannt wurde sie 1926 mit dem Drama Fegefeuer in Ingolstadt, das Moritz Seeler auf Brechts Drängen hin an seiner legendären "Jungen Bühne" in Berlin zur Aufführung brachte. Berüchtigt wurde sie drei Jahre später, als derselbe Brecht als pfeffernder Regisseur im Hintergrund ihr zweites Stück Pioniere in Ingolstadt im Theater am Schiffbauerdamm zum Skandal machte. Die linke Presse schwärmte und sprach von einem Erfolg, die rechte geiferte und schimpfte die Verfasserin Zitat: "eine schlimmere Josephine Baker der weißen Rasse in dem dicksten sexuellen Ur- und Affenwald". Thema der "Pioniere³ war, was Marieluise Fleißer als ihr Thema schlechthin bezeichnete und so formulierte: "etwas zwischen Männern und Frauen". So banal und vage diese Umschreibung klingt, so vielfältig und überraschend sind die Formen, mit denen die Autorin diesem Etwas Ausdruck verliehen hat. Davon zeugt nicht nur ihr Bühnen-, sondern auch und vor allem ihr erzählerisches Werk.

    Wie die meisten Schriftsteller im Deutschland der Zwischenkriegszeit hat sich "die Fleißerin" so nannte sie Brecht - ihren Platz im Literaturbetrieb mit Veröffentlichungen in den Feuilletons von Zeitungen und Zeitschriften erschrieben. Ihre erste Erzählung erschien 1923 unter dem Titel Meine Zwillingsschwester Olga in Stefan Grossmanns renommierter Wochenschrift Das Tagebuch. Diese Geschichte über Ängste und Zwänge einer Gruppe Dreizehnjähriger verrät noch das vorsichtige Tasten der Anfängerin, die sich bemüht, "neue Sachlichkeit" zu produzieren, wie ihr Mentor Lion Feuchtwanger es von ihr verlangt hatte. Doch ist der Fleißer-Ton schon da. Naiv, manchmal fast ungelenkt mutet diese Sprache an und wirkt dabei gänzlich ungekünstelt. Die Sätze sind kurz und gründen auf äußerst präziser Beobachtung, keine wabernden Metaphern verstellen den Blick auf das Wesentliche:

    Ein Mädchen lebte allzu ernsthaft in sich hinein, und jeden Tag tat es sich was anderes an, ganz was Schlechtes, und wenn nur was Schweres an sie herantrat, gleich nahm sie sich darum an und hielt das Schwere aufmerksam in der Hand, wie wenn sie gar nicht mehr davon lassen könnte. Man fragte sie, warum sie das tat. Seht ihr nicht, dass mir da was nicht hinausgegangen ist, sagte sie.

    So beginnt die Titelgeschichte von Marieluise Fleißers erstem Erzählungsband, den der Gustav Kiepenheuer Verlag 1929 herausbrachte. Man merkt: Hier hat jemand genau hingeschaut und noch genauer hingehört. Walter Benjamin lobte in seiner Rezension des Bandes die Fähigkeit der Autorin, eine Zitat: "unliterarische, aber keineswegs naturalistische Sprache(...)in Anlehnung an den ebenfalls gar nicht naturalistischen Volksmund zu schaffen."

    Die Geschichten der Marieluise Fleißer, wie auch ihr einziger Roman Eine Zierde für den Verein (1931), spielen hauptsächlich im Kleinbürgermilieu. Sie handeln von den seelischen Krämpfen Ausgestoßener und von der Schwierigkeit, in einer Welt von vorgefertigten und scheinbar unumstößlichen Wert- und Moralvorstellungen die persönliche Freiheit zu behaupten.

    Häufig stehen Frauen im Zentrum der Erzählungen. Meistens geraten diese Frauen an den falschen Mann. Und weil die Fleißer selber an manche falschen Männer geraten ist, weil sie selber nicht zuletzt durch Förderer wie Brecht ausgenützt und unterdrückt worden ist, drängt sich eine biografische Lesart ihres Werkes auf. Da hat man das unerfahrene Mädchen vom Lande, das in den intellektuellen Kreisen Münchens und Berlins geistige und andere Freizügigkeiten kennenlernt. Da ist die von Politik, Intrigen und finanzieller Not Zermürbte, die sich heimholen lässt nach Ingolstadt, um einem ganz und gar unintellektuellen Mann den Haushalt zu führen, und vor lauter Arbeit in Küche und Geschäft über Jahre hinweg kaum mehr zum Schreiben kommt. Das alles passt wunderbar zum Bild von der Fleißer als Märtyrerin und greift doch viel zu kurz. Auf die Frage, ob ihre Erzählungen autobiografisch seien, hat die Autorin selber einmal geantwortet:

    Nicht eigentlich. Aber man schreibt doch immer aus dem heraus, was man selbst erfahren oder aus lebendiger Nähe beobachtet hat, man muss es irgendeinmal gekriegt haben, von nichts kommt nichts, jedenfalls nicht bei mir. Das kann sich sehr verwandeln, bis es zu einer Geschichte wird.

    Und wie es sich verwandelt. Die Fleißer stilisiert, destilliert und ziseliert, bis die Literatur sich zu ihrem Leben etwa so verhält wie Celans Übersetzungen zu den Original-Gedichten von Sergej Jessenin: Sie ist vollkommen eigenständig und doch untrennbar mit dem anderen verbunden.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte Marieluise Fleißer wieder Fuß zu fassen in einem ihr fremd gewordenen Literaturbetrieb. Es gelang ihr nur mit Mühe. Geschwächt von den Entbehrungen des Krieges kämpfte sie nach wie vor gegen die physische und psychische Überlastung, die Haushalt und Ehe für sie bedeuteten. Karl Stuart, ein Stück, das sie noch während des Krieges geschrieben hatte, fand nirgendwo Anklang. Ein anderes, das Volksstück "Der Starke Stamm³, kam zwar an den Münchner Kammerspielen zur Uraufführung, wurde vom Publikum aber des bayrischen Dialekts wegen nicht goutiert und mit Hitlers Blut- und Boden-Gesängen assoziiert. Also wandte sie sich wieder dem Schreiben von Geschichten zu, obwohl sie, wie es in ihren biografischen Notizen heißt, "in einer Literaturform , die finanziell nichts einbringt, ihre Stoffe aufzehrt³. Dennoch stammen aus diesen Jahren einige ihrer besten Erzählungen. Das parabelhafte Prosastück "Das Pferd und die Jungfer beispielsweise. Oder "Avantgarde", wo sie sich, wieder in Form Fleißerscher Autofiktion, an ihre Zeit mit Bertholt Brecht erinnert. Außerdem Eine ganz gewöhnliche Vorhölle, Der Rauch oder Er hätte besser alles verschlafen, Geschichten, die auf Erfahrungen während und nach dem Krieg zurückgehen. Freilich wäre es falsch, in der Fleißer der Nachkriegszeit ein verhuschtes Mütterchen zu sehen, das sich im Ingolstädter Exil nach der Anerkennung der großen Welt sehnt. Ihre Auskünfte an Studenten und Wissenschaftler belegen, das es ihr an Selbstbewusstsein durchaus nicht mangelt:

    Die guten unter meinen Geschichten halte ich für Meisterwerke, die nicht sterben werden und deren Rang man noch nicht einmal völlig erkannt hat.

    Eine eigentliche Renaissance erlebte die Fleißer Anfang der Siebziger Jahre. Damals erklärten sich die "kritischen Realisten" Martin Sperr, Rainer Werner Fassbinder und Franz Xaver Kroetz zu ihren geistigen Söhnen. Sie machten sich an Adaptionen von ihren Stücken, Fassbinder widmete ihr seine "Katzelmacher". Die Fleißer zeigte sich erfreut, blieb aber distanziert. Mit derselben erfreuten Distanziertheit nahm sie auch die Ehrungen entgegen, die ihr nun zuteil wurden. So wählte man sie im August 1973 zum Mitglied der Berliner Akademie der Künste, in der Klasse der Literatur.

    Ein Herzensanliegen war ihr indes die Herausgabe ihrer "Gesammelten Werke" im Frankfurter Suhrkamp Verlag. Sie überprüfte sämtliche noch vorhandenen Texte, ließ viele davon nicht mehr gelten und bearbeitete andere neu nicht immer zu deren Vorteil. Im Dezember 1972, vierzehn Monate vor ihrem Tod, war es dann endlich soweit: Die dreibändige Werkausgabe erschien und gab der Autorin die Gewissheit, dass ihr lebenslanges Ringen um und mit Sprache zwar für
    Katzelmacher, aber bestimmt nicht für die Katz gewesen war.