Dienstag, 19. März 2024

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Marina Weisband
Via Twitter Mauern einreißen

Dürfen Politiker auf Twitter auch Privates posten? Sie sollen sogar, findet Marina Weisband in ihrer Kolumne. Denn jede persönliche Information durchbreche die Grenze zwischen dem Gefühl von "denen da oben" und "uns hier unten".

Von Marina Weisband | 07.06.2018
    Porträtfoto von Marina Weisband
    Marina Weisband (Lars Borges)
    "Warum muss ich wissen, wann Johannes Kahrs von der SPD ins Fitnessstudio geht? Das twittert er immer" - wurde ich neulich in einem Interview gefragt. Das war für mich eine komische Frage. Als gäbe es für Politikerinnen ein Gebot, mit Informationen über Privates hinterm Zaun zu halten. Für die Würde des Amtes und so. Aber ist es eigentlich unwürdig, ins Fitnessstudio zu gehen?
    Mir ist die Frage nicht neu. Vor ein paar Jahren habe ich mal auf Twitter über Menstruationsschmerzen gejammert und eine Onlinezeitung hat tatsächlich einen Artikel dazu gemacht. Der hatte keinen anderen Inhalt, als dass ich das getwittert hatte. Müssen WählerInnen sowas über mich wissen?
    Dröseln wir das doch mal auf. Schadet es ihnen, das über mich zu wissen? Vielleicht ist es ein wenig unnütze Information, die sie sofort wieder vergessen. Ein aktiver Schaden entsteht dadurch nicht wirklich. Welchen Nutzen könnte es haben? Dazu hole ich aus.
    Jede menschliche Information ist eine Verbindung
    Als ich klein war, habe ich gedacht, "Politik, das sind Männer in Anzügen und Krawatten, die trockene Sachen in Mikrofone sagen". Ich habe nicht mal darüber nachgedacht, ob das ein Platz für mich sein könnte, denn mir ist keine Verbindung zwischen mir und diesen öffentlichen Figuren in den Sinn gekommen. Es war aber auch eine Zeit, in der man die großen Politiker nur im Fernsehen sehen konnte, immer nur ein paar Sekunden. Klar, da musste die Krawatte sitzen, da mussten die nötigen Zahlen im Kopf sein. Aber Menschen können das nicht über lange Zeit aufrechterhalten. Seit Politikerinnen über soziale Medien kommunizieren, können sie deutlich mehr ihrer Stärken präsentieren - und deutlich mehr ihrer Schwächen.
    "Oh, die Zahl habe ich nicht im Kopf, ich frage aber mal bei meinem Referenten nach" muss 2018 eine natürliche und normale Aussage sein. Und jede menschliche, private Information, für die jetzt neuer Raum da ist, ist eine Verbindung. Oh, der Politiker geht ins Fitnessstudio. Ich gehe ins Fitnessstudio. Wir haben etwas gemeinsam. Wir könnten unsere Karriere gemeinsam haben.
    Wenn irgendein Mädchen liest, dass ich auch Menstruationsbeschwerden habe, und eine neue Art gefunden habe, ein Grundsatzprogramm einer Partei zu schreiben, und Überwachung kritisch sehe und mit dem Fahrrad zum Arzt fahre - wenn also irgendein Mädchen in mir einen Menschen findet, mit dem man sich identifizieren kann, und folglich auch mit politischer Arbeit als möglichem Werdegang, dann ist viel gewonnen.
    Twitter - mündlich genutzt, schriftlich rezipiert
    Sehr spannend ist hingegen der Umgang der klassischen Presse mit diesem Menscheln auf Twitter. Ich fange jetzt schon gar nicht damit an, dass speziell Twitter sowieso eher ein Medium ist, auf dem vor allem Politiker und Journalisten rumhängen und die "Stimmen aus der Bevölkerung", die mit Twitter-Zitaten in Zeitungsartikeln illustriert werden sollen, häufig von anderen RedakteurInnen stammen.
    Es ist aber auch so, dass Twitter in seinem Wesen ein seltsames Medium ist. Seltsam, weil es von vielen wie ein mündliches Medium genutzt wird. Für schnelle, unverbindliche Äußerungen, Diskussionen, Bemerkungen. Rezipiert wird es aber als schriftliches Medium, also als eines, auf dem jeder Satz als Erbe für zukünftige Generationen gedacht ist.
    So kam die Welle von Artikeln zustande, die den Piraten desaströsen Parteistreit unterstellten, wenn die Mitglieder sich auf Twitter anmeckerten.
    Grenzen verschwimmen
    Es ist eben eine neue Form von Kommunikation. Nicht wirklich privat, aber auch nicht wirklich für die breite Öffentlichkeit gedacht wie eine Pressemitteilung. Daraus entwickeln sich viele Missverständnisse. Leider haben viele Politikerinnen deshalb beschlossen, auf Twitter nur von ihrem Team gut durchdachte und abgesegnete Phrasen zu schreiben oder, noch schlimmer, lediglich Links mit wohlwollenden Artikeln über das eigene Handeln zu teilen. Das ist schade, weil diese Art von Pressemitteilungs-Twitter an den Potentialen so eines sozialen Netzwerks vorbei geht.
    Das Revolutionäre an selbst und frei twitternden Politikerinnen liegt in dem Wandel der Rolle "Politiker". Wie in vielen Bereichen unserer Zeit verschwimmen hier Grenzen. Grenzen zwischen "denen da oben" und "uns hier unten". Grenzen zwischen öffentlichen Kunstfiguren und tatsächlichen engagierten Menschen aus Fleisch und Blut. Grenzen zwischen passiven Rezipienten und aktiven Gestaltern. Das Verschwinden dieser Grenze ist gut. Ist es doch diese gedachte Mauer, die viele in gefühlte Ohnmacht und in die Hände von Populismus treibt. "Die da oben tun doch nur, was sie wollen". Die "Politiker-Kaste". Als gäbe es Menschen, die für Politik geboren wurden, die qua Genetik korrupt seien.
    Jeder Gang ins Fitnessstudio, jeder Witz, jede fotografierte Blume am Wegesrand ist ein neuer Riss in dieser Mauer. Hiermit plädiere ich dafür, dass mehr Politikerinnen persönlich twittern, locker durch die Hose atmend.