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Marivaux und Madagaskar

Zwei Inszenierungen haben bei den Wiener Festwochen für Aufsehen gesorgt. Der junge sibirische Regisseur Dmitrij Tschernjakow verleiht Marivaux’ Tragikomödie "Die Unbeständigkeit der Liebe" mit einer Abrechnung mit den dauerhaften Machtstrukturen des ehemaligen Sowjetreichs Aktualität. Nach "Madagaskar" will der litauische Autor Marius Ivaskevicius entführen.

Von Beatrix Novy |
    Am Anfang ist die junge Silvia im Stand ihrer dörflichen Unschuld: tobt und schreit gegen die Gewalt an, die ihr angetan wird, aber das Unabänderliche steht vor ihr wie die Glaswand, hinter der das Bühnengeschehen sich abspielt: Sinnbild der großen Kälte, der Undurchlässigkeit, und gleichzeitig Mittel zum Zweck des Voyeurismus, mit dem die Hofgesellschaft das Zappeln und Leiden ihrer Opfer beobachtet.

    Silvia und ihr Liebster, der junge naive Harlekin, sind entführt worden an den Hof des Fürsten. Der Fürst interessiert sich für Silvia, und seine Höflinge, allen voran die Dame Flaminia, beginnen ein intrigantes Überredungs-Spiel, an dessen Ende die Zerstörung der Liebe zwischen den beiden unverbildeten jungen Leuten stehen soll. Diese Geschichte, mit der Pierre Carlet de Marivaux die höfisch-dekadenten Fehlwüchse absolutistischer Herrschaft kennzeichnete, verwandelt der junge sibirische Regisseur Dmitrij Tschernjakow in eine eisige Abrechnung mit den dauerhaften Machtstrukturen des ehemaligen Sowjetreichs.

    Vor dem in wechselnd kalte Farben getauchten Tableau hinter der Glasscheibe – 1 Rokokosofa, 2 passende Sessel – spreizen sich die Angehörigen der Nomenklatura im Bewusstsein ihrer Macht und im gemessenen Gleichschritt der Gleichgeschalteten: zwei Hofdamen schwänzeln ballettös im Zwillingstakt, vier Leibgarden-Typen besorgen die Bühnenumbauten synchron und ungerührt. Gegen die mal frostige, mal lächelnde Überlegenheit haben die beiden Naturkinder Silvia und Harlekin kein Chance, ebenso wenig wie gegen Lügen und raffinierte Überredungskünste.

    Anfangs reden sie noch leidenschaftlich, bekunden einander ihre Liebe in heftig körperlichem Gestus, hüpfen aufeinander, knuddeln und jauchzen – wenn Silvia nach kaum anderthalb Stunden aufgeht, dass ihre Liebe zu Harlekin nur eine Entscheidung mangels Alternativen war, ist sie schon zum Werkzeug der Apparatschiks erstarrt. Als die jungen Leute erkennen müssen, dass Fürst und Höflinge sie nur zu Kurzweil und Zerstreuung benutzt haben, ist es zu spät; sprach- und hilflos reicht die Wut nur zu einem Steinwurf durch die Glasscheibe.

    Dmitrij Tschernjakow hat mit dieser Inszenierung gezeigt, welch überraschend aktuellen Nutzen er aus den artifiziellen Sprachspielen eines französischen Frühaufklärers zu ziehen weiß – denn die sind schon eine Herausforderung für russische Schauspieler, die sich doch, sagt Tschernjakow, eher aufs "bei Kerzenschein leiden" verstehen als auf elegante französische Wortfechterei.

    Eine ausgesprochen expressive, um nicht zu sagen expressionistische Variante des Theaters zeigte beim Forum Festwochen der junge litauische Autor Marius Ivaskevicius. Und der Regisseur Rimas Tuminas. Ihr Stück "Madagaskaras" scheint eine einzige Verrücktheit zu sein: Die Geschichte des überdrehten litauischen Visionärs Kazimieras Pokstas, dessen Lebensweg von einer ebenso überdrehten Dichterin und einem völlig abgedrehten Botschafter gekreuzt wird, hat aber einen historischen Kern. In den 20er Jahren kam tatsächlich ein Mann namens Kazys Pakstas auf die Idee, Litauens Bevölkerung nach Afrika auszusiedeln, von wo sie, mit afrikanischen Genen gründlich gestärkt, 200 Jahre später zurückkehren und die ewigen Widersacher Polen, Deutsche und Russen endlich aufs Haupt schlagen sollten.

    So exotisch, wie es klingt, war die Idee damals nicht, sie gehörte zu den technokratischen Machbarkeitsmythen der Zwischenkriegszeit, die beispielsweise auch den tschechischen Schuhfabrikanten Bata inspirierten; der wollte alle Tschechen in den neuen Lebensraum Argentinien verfrachten. "Madagaskaras" aber, so sehr man das Gefühl hat, in einem wirklich 80 Jahre alten Stück zu sitzen, will natürlich kein Historiendrama sein.

    Der bewusst altertümliche Sprachstil, permanent deklamatorisch ins Publikum geschleudert, zieht jeden Nationalismus ins Lächerliche – entsprechend wenig grün sind dem Autor die litauischen Hardliner. Wäre es nicht so anstrengend, dieser Dauerexplosion von Überrhetorik zu folgen, wäre dies ein sehr komisches Stück.

    "Kaum 15 Jahre nach der Unabhängigkeit sind wir schon in der EU, und wissen immer noch nicht, wer wird sind" sagt Regisseur Rimas Tuminas. "Madagaskar" ist auch unser aller Traum, das Gelobte Land zu finden, aber irgendwie gelingt uns das nicht".