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Marktanreize und Erkenntnisinteresse

Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Cass R. Sunstein ist der Frage nachgegangen, wie Wissen heutzutage besser generiert und nutzbar gemacht werden kann. Seine Antwort lautet: Wir schaffen einen Markt.

Von Stephan Detjen |
    An der Wahlstreet geht es hoch her: Nach den Landtagswahlen vom vorletzten Sonntag ist Bewegung in die Kurse geraten. Innerhalb von Stunden brach die Union bis unter 33 Euro und 60 Cent ein; die SPD-Aktien dagegen schossen kurzfristig auf über 25 Euro hoch, um sich dann wieder bei mauen 24 Euro 90 einzupendeln. Die Wahlstreet ist ein internetbasierter Prognosemarkt für die Bundestagswahl. Zum Einstiegspreis zwischen fünf und 50 Euro kann sich hier jeder einloggen und mitspekulieren. Der Trick besteht darin, dass der Kurs der Wertpapiere für die einzelnen Parteien zugleich einer Vorhersage für das Ergebnis der Bundestagswahl am 27. September entspricht. In den USA haben ähnliche Prognosemärkte in der Vergangenheit erstaunlich gut funktioniert. Der amerikanische Verfassungsrechtler Cass Sunstein beschreibt das in seinem Buch am Beispiel der Wahl-Börse, die seit 1988 von der University of Iowa betrieben wird:

    Als Prognosegenerator haben die Iowa Electronic Markets außerordentlich exakte Urteile produziert. Vor den Präsidentschaftswahlen 2004 waren sie viel erfolgreicher als die professionellen Umfrageorganisationen. In 451 von 596 Fällen waren sie genauer als die Umfragen. In der jeweiligen Woche vor den vier Wahlen von 1988 bis 2000 wiesen die Prognosen der IEM durchschnittlich eine absolute Fehlerquote von nur 1,5 Prozent auf – das ist signifikant besser als die 2,1-prozentige Fehlerquote der letzten Gallup-Umfragen.
    In den USA werden Prognosemärkte längst auch in anderen Bereichen genutzt. Unternehmen wie Google, Hewlett-Packard oder Microsoft haben interne Prognosemärkte für ihre Mitarbeiter eingerichtet, um verdeckte Probleme und Marktchancen ihrer Produkte zu ermitteln. In Hollywood werden an der Hollywood Stock Exchange HSX präzise Vorhersagen über den Erfolg neuer Filmproduktionen und künftige Oscar-Gewinner gehandelt. Cass Sunstein empfiehlt diese Verbindung von Marktanreizen und Erkenntnisinteresse als Antwort auf eine Schlüsselfrage für jede Form kollektiver Organisationen – Staaten, Unternehmen, gesellschaftliche Gruppen:

    Welche Mechanismen können eingesetzt werden, um das auf viele Köpfe verteilte Wissen ans Licht zu bringen, sodass all diese Köpfe etwas zu den Produkten und Aktivitäten beitragen können, die für uns von Interesse sind?
    Sunsteins Antwort ist eine kühne und immer wieder verblüffende Studie über die Chancen der Massenkommunikation im 21. Jahrhundert. Den Diskursmodellen, die Jürgen Habermas in Deutschland und John Rawls in den USA zum Paradigma politischer Kommunikation erhoben haben, stellt Sunstein statistische und marktorientierte Erkenntnisverfahren gegenüber. Anhand zahlreicher und plastisch geschilderter Experimente illustriert Sunstein alle Nachteile von Diskussionsprozessen in Gruppen: soziale Ausgrenzungen, Kaskadeneffekte, verdeckte Machtstrukturen führen dazu, dass die Ergebnisse von Deliberationen durch soziale Verzerrungen gestört werden und möglicherweise gerade das nützlichste Wissen innerhalb einer diskutierenden Gruppe nicht zur Geltung kommt. Der Jurist Sunstein löst das Problem durch die Gesetze der Ökonomie, deren theoretische Grundlagen er in der aus den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts stammenden Preistheorie Friedrich von Hayeks findet.

    Wir schaffen einen Markt. Die neuartige Entwicklung der Prognosemärkte hat sich als erstaunlich erfolgreich beim Vorhersagen zukünftiger Ereignisse erwiesen – in manchen Bereichen als viel erfolgreicher als diskutierende Gruppen. Solche Märkte verdienen unsere nachhaltige Aufmerksamkeit, teilweise weil sie wichtige Lehren bezüglich der Frage bereithalten, warum Deliberationen besser oder schlechter funktionieren, und teilweise weil sie ein nützliches Modell für jede private oder öffentliche Organisation darstellen, die Zugang zu vielen Köpfen sucht.
    Sunstein ist nicht ein Anti-, sondern ein Meta-Habermas. Nüchtern werden dessen Diskursutopien entideologisiert und auf ihre Schwächen abgeklopft. Wo es einst darum ging, bei viel Rauch und Rotwein um das beste Argument zu ringen, geht es für Sunstein heute darum, die Masse jederzeit verfügbaren Wissens intelligent zu organisieren. Wikipedia und Open-Source-Software sind für ihn die Belege dafür, dass Wissen und Herrschaft durch das Internet entkoppelt wurden. Den Skeptikern, die fürchten, dass Politik im entgrenzten Kommunikationsraum ihr Zentrum verliere, hält Sunstein die optimistische Vision der digitalen Polis entgegen.

    Tatsächlich kann man die Blogosphäre als eine Art riesige Gemeindeversammlung sehen oder als eine Reihe solcher Zusammenkünfte. Die Gegenwart vieler Köpfe ist hier besonders wichtig. Wenn zahllose Menschen Blogs betreiben, sollten sie in der Lage sein, Fakten zu überprüfen und zusätzliche Informationen bereitzustellen, nicht nur für Blogger, sondern auch für einflussreiche Vertreter der Massenmedien. Wenn Hunderttausende die prominentesten Blogs lesen, dann sollten Fehler schnell korrigiert werden. Außerdem ermöglicht die Blogosphäre es interessierten Lesern, eine erstaunliche Bandbreite an Meinungen und Fakten herauszufinden.
    Sunsteins Buch ist bereits vor drei Jahren in der englischen Originalausgabe erschienen. Der Autor war damals noch als einer der renommiertesten Verfassungsrechtler der USA an der Chicago Law School tätig. Anfang der neunziger Jahre hatte Sunstein – der sich selbst eher dem wirtschaftsliberalen Flügel der Republikaber zurechnete mit einem anderen aufstrebenden Rechtswissenschaftler Freundschaft geschlossen: Barack Obama. Der hat Sunstein jetzt zum Leiter des Office for Information and Regulatory Affairs ernannt, einer dem Weißen Haus angegliederten Querschnittsbehörde, die sich mit der Planung und Umsetzung von Informationsflüssen und -strategien in allen Regierungsbereichen beschäftigt. Vor diesem Hintergrund lässt Sunsteins Buch erahnen, in welchem Maß er der neuen US-Regierung nicht nur um die äußerliche Inszenierung eines neuen Regierungsstils geht. Hier wird an den Grundlagen der politischen Kommunikation im 21. Jahrhundert gearbeitet. Das theoretische Fundament dafür ist bereits gelegt.

    Stephan Detjen war das über Cass R. Sunstein: "Infotopia. Wie viele Köpfe Wissen produzieren". Erschienen ist das Buch bei Suhrkamp, es hat 300 Seiten und kostet 24 Euro 80.