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Marktwirtschaft
Kapitalismus nicht als Heuschrecke verstehen

Kapitalismus ist nicht irgendein Raubtier, schreibt die taz-Redakteurin Ulrike Herrmann. Sie hat ein Buch über dieses totale System geschrieben, das alle unsere Lebensbereiche durchdringt. Und ist darin fasziniert vom Kapitalismus.

Von Caspar Dohmen | 02.12.2013
    "Ja, ich muss zugeben, ich bin vom Kapitalismus fasziniert. Denn man muss ja sehen, das ist das einzige Sozialsystem, das der Mensch je geschaffen hat, das wirklich dynamisch ist. Man muss ja auch sehen, dass unser gesamtes Leben, sich durch diesen Kapitalismus, in dem wir leben, komplett geändert hat, also, das sieht man ja bis in die Körper hinein. Jeder von uns wird ungefähr doppelt so alt wie unsere Vorfahren und jeder von uns ist auch zehn Zentimeter größer als unsere Vorfahren. Es gibt also nichts, was dieser Kapitalismus unberührt gelassen hätte."
    Sagt Ulrike Hermann und dürfte damit den Erwartungen widersprechen, welche viele an eine Wirtschaftskorrespondentin haben, die seit 14 Jahren für die links-alternative Tageszeitung schreibt und nun ein Buch über den Kapitalismus vorlegt. Hermann präsentiert keine Abrechnung mit dem Kapitalismus, sondern erklärt, wie der Kapitalismus funktioniert und welchen Irrtümern viele ihrer Meinung nach über dessen Funktionsweise aufsitzen, ob Investmentbanker oder linke Kapitalismuskritiker. Das gelingt ihr sehr gekonnt. Hermann nimmt den Leser mit an den Geburtsort des Kapitalismus: Im Nordwesten Englands entstand mit Manchester die erste Industriestadt der Geschichte. Hier hatten Menschen Mitte des 18. Jahrhunderts eine revolutionäre Idee: Sie ersetzten menschliche Arbeit durch investiertes Geld – sprich Kapital. Aber wie kamen sie dazu? Warum konstruierten sie gerade dort Maschinen, mit denen Baumwolle gesponnen und gewebt werden konnte?
    "Und die Antwort, die beste, die es bisher gibt, ist, dass eben im 18. Jahrhundert die Löhne in England doppelt so hoch waren wie auf dem Kontinent und die Engländer deswegen eben nicht mehr wettbewerbsfähig waren. Und in dieser Situation haben die Engländer diesen tatsächlich revolutionären Einfall gehabt, Menschen durch Maschinen zu ersetzen."
    Ein hoher Lohn wurde nach Ansicht von Hermann zu dem entscheidenden Katalysator für den technischen, industriellen und gesellschaftlichen Fortschritt. Tatsächlich gab es viele andere für unsere heutige Wirtschaftsweise typischen Merkmale schon Tausende Jahre vorher, ohne dass sie zu Wachstum geführt hätten. So kannten schon die Gesellschaften in der Antike das Geld, den Zins, Wettbewerb, Gewinnstreben oder die Märkte. Aber vom alten Ägypten bis weit in die Neuzeit blieben die Gesellschaften stationäre Agrarwirtschaften. Erst durch die Steigerung der Löhne sei es rentabel geworden, Technik einzusetzen, schreibt Hermann und schlägt den Bogen ins hier und heute. Sie ist überzeugt: Wer erst einmal verstanden habe, wie der Kapitalismus funktioniert, blicke anders auf die derzeitige Sparpolitik in der Eurozone:
    "Der Kapitalismus ist ein System des Massenkonsums. Das bringt nichts, wenn man ein Prozent Reiche hat, die sich alles leisten können, sondern Produktivität lebt ja davon, dass man mit Maschinen immer mehr Güter herstellen kann. Aber das sind auch normierte Güter. Das sind nicht Jachten. Und wenn man diesen Massenkonsum abwürgt, indem man eben niedrige Löhne zahlt, dann würgt man eben auch den Kapitalismus und das Wachstum ab und gleichzeitig pumpt sich darüber eine riesige Vermögensblase auf und das ist natürlich ein ganz sicherer Weg in den Abgrund."
    Aber nicht nur die Sparpolitik der Bundesregierung hält die Autorin für fatal. Erfrischend zu lesen ist, mit welcher Überzeugungskraft und Eleganz sie die Argumente von manch einem rechten Kapitalismusverehrer genauso wegfegt wie von linken Kapitalismuskritikern. Schlecht weg kommt bei ihr der populäre Vordenker der Occupy-Bewegung, David Graeber, mit seiner Idee eines Erlassjahres für alle Schulden. Hermann schreibt:
    "Ein Erlassjahr wäre jedoch unmöglich, weil nicht nur die Schulden gestrichen würden – auch die entsprechenden Geldvermögen wären verschwunden. Die Wirtschaft würde sofort zusammenbrechen, und im allgemeinen Chaos würden nicht nur "die Reichen" verlieren, sondern auch die Armen ihren Arbeitsplatz und ihren Lohn. Es ist bedauerlich, dass Graeber die Occupy-Bewegung mit falschen Analysen lahmlegt. Denn es gibt im Kapitalismus massive Ausbeutung, die man bekämpfen muss. Aber sie findet nicht mehr durch die Schuldknechtschaft statt, sondern durch ungleiche Löhne oder ungleiche Bildungschancen. Doch diese Themen kommen bei Graeber nicht vor."
    Hermann schafft es vortrefflich, für jedermann leicht verständlich darzulegen, was den Kapitalismus antreibt und den Unterschied zwischen Geld und Kapital deutlich zu machen. Denn nur produktiv investiertes Geld ist Kapital. Nur, wenn die Realwirtschaft wächst, indem Straßen, Schulen und Fabriken gebaut werden, kann eine Gesellschaft heute die Grundlage für den Wohlstand von morgen legen.
    "Das Tragische ist natürlich, dass diese linken Kapitalismuskritiker letztlich den gleichen Fehler machen wie die Investmentbanker. Denn auch die Investmentbanker denken ja, das Geld sei zentral und ihre komischen Produkte, die sie da immer erfinden, würden irgendwie das Wachstum ankurbeln, das ist Quatsch."
    So fasziniert Hermann vom Kapitalismus ist und dem "Sieg des Kapitals" 19 Kapitel ihres sehr lesenswerten Buches widmet, so ist der Kapitalismus für sie dennoch ein Auslaufmodell, weil er keine Lösung für die ökologischen Probleme biete. Als bedenkenswerte Vision spricht die Autorin von einer ökologischen Kreislaufwirtschaft. Wie der Übergang gelingen soll, ist ihr aber ein Rätsel.
    "Was fehlt, und zwar in allen Büchern, ist die Brücke. Und das ist kein Zufall, dass diese Brücke fehlt, weil der Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er Wachstum erzeugt und Wachstum braucht und ohne Wachstum ist der Kapitalismus sofort tot. Wenn man jetzt einfach sagen würde, Wachstum ist hier jetzt nicht mehr, wir machen jetzt hier auf ökologische Kreislaufwirtschaft, dann würde er eben zusammenbrechen. Und das ist natürlich ein Systemzwang, der außerordentlich problematisch ist, muss ich zugeben."
    Diese Ehrlichkeit der Autorin mag für den Leser ernüchternd sein. Aber damit regt sie ihn zum Denken an, statt ihm mit einfachen Lösungen Sand in die Augen zu streuen. Etwas aus der Luft gegriffen wirkt angesichts dessen Herrmanns optimistischer Ausblick zum Schluss:
    "Es wird sich ein neues System herausbilden, das heute noch nicht zu erkennen ist. Aber es wird seine Zeitgenossen genauso überraschen, wie es der Kapitalismus tat, als er 1760 im Nordwesten Englands entstand. Niemand hat ihn erwartet, niemand hat ihn geplant – und trotzdem gibt es ihn."