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Marschmusik in der Südsee

Die deutsche Kolonialzeit auf dem kleinen Südseeinsel Samoa währte nicht lange. Zwar sind zahlreiche alte Kolonialgebäude bereits verschwunden. Dennoch gibt es viele Dinge, die daran erinnern, wie zum Beispiel die Marschmusik der "Samoa Police Band".

Von Ulli Weissbach | 16.12.2012
    Marschmusik in der Südsee? Jawohl, wir sind in Apia, der Hauptstadt Samoas. Jeden Morgen um 8:45 Uhr marschiert hier die "Samoa Police Band" die Beach Road entlang, die Hafenpromenade von Apia. Ziel ist das Regierungsgebäude am westlichen Hafenende, vor dessen Fassade ein Banner in den blau-roten Landesfarben hängt mit der Aufschrift "50 Jahre Samoa”. So lange ist der kleine Südseestaat mit seinen 190.000 Einwohnern schon selbstständig.

    Nach Ankunft am Regierungsgebäude hisst die Police Band die samoanische Flagge, salutiert, schlägt die Hacken zusammen und marschiert zum Polizeihauptquartier zurück. Das hat sie schon vor hundert Jahren so gemacht, als Samoa noch deutsche Kolonie war. Auch die blaue Uniform und die weißen Tropenhelme sind den Uniformen der kaiserlichen deutschen Polizeitruppen in Übersee entlehnt. Einziges Zugeständnis an samoanische Lebensweise: Hier tragen die Polizisten einen Lavalava, den knielangen samoanischen Wickelrock statt Hose und Sandalen statt Stiefel.

    Nicht weit vom heutigen Regierungsgebäude wurde am 1. März 1900 die deutsche Reichsflagge gehisst, die deutsche Kolonialherrschaft begann. Wobei der Begriff "Herrschaft” nicht ganz angebracht ist. Denn die 14 Jahre von 1900 bis 1914 waren nach Ansicht vieler Historiker - und auch der einheimischen Samoaner - eine der friedlichsten, ersprießlichsten und glücklichsten Epochen in der Geschichte Samoas. Ersprießlich weil die Samoaner ihre Ländereien behalten durften und am Verkauf der Produkte ihrer Plantagen verdienten. Glücklich, weil sie nicht zur Arbeit gezwungen wurden und weil sie ihren geruhsamen Lebensstil, das sogenannte Fa'a Samoa, weiterführen durften. Misa Telefoni Retzlaff, ein samoanischer Nachfahre eines frühen Kolonialbeamten, hat es als Politiker bis zum stellvertretenden Premierminister gebracht. Und er schätzt das deutsche Erbe in Samoa:

    "Meiner Meinung nach, wenn man eine Kolonialmacht beurteilt, geht man am besten nach den Motiven. Und die misst man daran, was die Leute getan haben. Es gab nie ein Anzeichen für Ausbeutung. Kein Anzeichen, dass Deutschland was aus Samoa rausholen wollte. Es wurden nur die allerbesten Leute hergeschickt. Die beiden Gouverneure Solf und Schultz waren beide Jura-Doktoren, beide gehörten also zur Elite. Die Tatsache, dass Schultz nach seiner Rückkehr nach Berlin beinahe Außenminister geworden wäre, ist doch ein Zeichen für den Status der Leute, die man uns geschickt hat.”"

    Dr. Wilhelm Solf, der erste Gouverneur, stammte aus Berlin. Die "Cyclopedia of Samoa", die 1907 unter seiner Schirmherrschaft und der des britischen Konsuls gedruckt wurde, schreibt:

    ""Dr. Solf tut eine ganze Menge, um das alte Vorurteil zu zerstören, die Deutschen seien keine guten Kolonisatoren. Die Deutschen haben unter seiner weisen Führung bewundernswerten Erfolg in der Kolonisation von Samoa. In vieler Hinsicht ist dies eine Modell-Kolonie."

    Der zweite Gouverneur ab 1910 war Dr. Erich Schultz. Er stammte ebenfalls aus Berlin, war unter Solf Oberster Richter für Samoa und sein Stellvertreter. Schultz beschäftigte sich intensiv mit samoanischer Kultur und Sprache und galt bald als einer der europäischen Experten darin.

    Die Samaoner gehören dem polynesischen Kulturkreis an, sehen sich selbst sogar als "Wiege Polynesiens”. Nicht ohne Grund, denn von Samoa aus begann die Besiedelung des Pazifiks durch polynesische Seefahrer. In ihren Ausleger-Segelkanus entdeckten sie, lange vor den europäischen Seefahrern, Tausende von Inseln im größten Ozean auf unserer Weltkugel. Mit sich brachten sie ihre Stammeskultur und eine Sprache, die in ihren Grundelementen auf allen polynesischen Inseln zwischen Hawaii und Neuseeland die gleiche ist.

    Heute beherrschen andere Klänge die Straßen Samoas. Aus buntbemalten Bussen dringen Disco-Beats. Die Samoaner in den Bussen kommen aus den Dörfern entlang der Küste, um in der Stadt auf den Markt zu gehen oder ihr Handy-Guthaben aufzuladen. Denn ohne Handy geht auch in Samoa nichts. Gelegenheitsarbeiter müssen abrufbereit sein und auch die Unterstützungsgelder der Verwandten in Neuseeland werden schon per Handy überwiesen. Vor hundert Jahren gab es noch kein Telefon. Misa Telefoni Retzlaffs Großvater Erich Retzlaff brachte es nach Samoa. Seitdem führt die Familie den Beinamen "Telefoni”.

    "Ja, er hat für die Deutsche Post gearbeitet, hat Telefonleitungen verlegt in Berlin. Und 1906 wurde er nach Samoa versetzt, um Telefone zu verlegen. Er kam mit 22 Telefonen an, gerade genug, um den Gouverneur mit seiner Verwaltung zu verbinden.”"

    Das heutige Telefonbuch von Samoa listet ganze Spalten mit deutschen Namen auf, wie Schmidt, Kruse, Retzlaff und Netzler. Alles Nachfahren der deutschen Kolonialherren. Lynn Netzler zum Beispiel hat den Geschäftssinn ihres Urgroßvaters Carl Fritz Netzler geerbt, der schon lange vor der Kolonialzeit große Plantagen auf Samoa unterhielt. Lynn führt ein kleines Hotel am Hang über der Stadt, einen Supermarkt und eine Tankstelle, für samoanische Maßstäbe ein kleines Business-Imperium. Und auch sie kann über die deutschen Kolonialherren nur Gutes sagen:

    ""Ich denke, wenn du mit der älteren Generation sprichst, die sagen immer 'die alten Zeiten waren die besten'. Weil sie in einem Paradies lebten. Sie konnten tun was sie wollten, alles wurde für sie getan. Sie mussten nicht in den Plantagen arbeiten, denn die Samoaner sind ein stolzes Volk. Die Deutschen haben deshalb die Chinesen als Plantagenarbeiter hereingeholt. Für einen Samoaner mit einem Häuptlingstitel wäre das eine Schande gewesen.”"

    Noch heute besitzen die Netzlers ausgedehnte Kokospalmenplantagen, die zur Kolonialzeit gutes Geld brachten. Kopra, das getrocknete Fleisch der Kokosnuss, war die Basis zur Herstellung von Seifen und Kosmetik und als Rohstoff fast so wichtig wie heute das Öl.

    Hans Joachim Keil, ein weiterer alteingesessener Abkömmling deutscher Kolonialherren, ist auch erfolgreicher Geschäftsmann. Die Bedeutung des Kopra für seine Vorfahren hat er nicht vergessen:

    ""Ja, die haben ne Menge Kopra exportiert, haben viel verdient. Nach den Aufzeichnungen, die ich gesehen habe, hat der Kopraexport nie mehr solche Zahlen erreicht wie zu dieser Zeit. 1914 war der Rekord - und heute spielt es kaum mehr eine Rolle.”"

    Schon bevor Samoa deutsche Kolonie wurde, dominierte die "Deutsche Handels- und Plantagen-Gesellschaft” den Anbau von Kokospalmen und den Handel mit Kopra im Pazifik. Das Imperium der DHPG, respektvoll nur "die Firma” genannt, erstreckte sich über die ganze Südsee mit Niederlassungen in Samoa, Tahiti, Tonga, dem heutigen Papua-Neuguinea, den Salomoninseln und im Nordpazifik.

    In Samoa unterhielt "die Firma” ihre größten Anbauflächen. Die Einnahmen aus dem Kopraexport sorgten für eine bis dahin nicht gekannte Wirtschaftsblüte in der jungen Kolonie. Und das wiederum trieb den Ausbau der Infrastruktur an. In 14 Jahren deutscher Kolonialverwaltung wurden Hunderte von Kilometern Straßen gebaut, Brücken und viele öffentliche Gebäude. Die Grundlagen der Strom- und Wasserversorgung entstanden ebenso wie eine Hafenverwaltung, Polizei und das Gesundheitswesen. Zwei Hospitäler wurden errichtet und 320 Schulen, an denen in Deutsch, Samoanisch und Englisch unterrichtet wurde.

    Abgesehen vom Straßennetz ist kaum mehr etwas geblieben aus dieser Zeit. Nur die alten Verwaltungsakten schlummerten unangetastet über hundert Jahre im Nationalarchiv. Nun hat sich die für Samoa zuständige Deutsche Botschaft in Neuseelands Hauptstadt Wellington ihrer angenommen. Schätzungsweise 400.000 vergilbte Blätter, die meisten eng beschrieben in Sütterlin-Schrift, sollen digitalisiert werden. Im feucht-heißen Klima Samoas drohte ihnen sonst der Verfall. In einem klimatisierten Raum des Bildungsministeriums sind auf Regalen Pappschachteln mit losen Dokumenten gestapelt. Auf einem Tisch steht eine Vorrichtung mit zwei Digitalkameras zum Abfotografieren der Dokumente. Scannen wäre einfacher, aber die hohe Lichtintensität eines Scanners könnte die 100 Jahre alten Dokumente beschädigen.

    Die samoanischen Regierungsangestellten, die mit dem Abfotografieren befasst sind, verstehen kein Deutsch, geschweige denn die Sütterlin-Schrift. Jede Bilddatei bekommt eine Nummer, die Analyse und Interpretation der Akten wird noch Generationen von Historikern beschäftigen. Der deutsche Honorarkonsul Arne Schreiber überwacht die Digitalisierung. Die Akten bekommt auch er nur flüchtig zu sehen. An einen Verwaltungsvorgang erinnert er sich aber:

    "Interessant war zum Beispiel bei dem Gouverneur Schultz, dass er eben doch recht reisefreudig war und andere Inseln besucht hatte und danach ein wenig im Streit gelegen hatte: War das jetzt eine Dienstreise oder war das Urlaub?”"

    Schon zu Kaiser Wilhelms Zeiten rangelte man sich also um die Spesenabrechnung. Es hat sich nichts geändert. In Samoa dagegen um so mehr. Von den alten deutschen Kolonialgebäuden ist nur noch eines stehengeblieben: das 1902 errichtete, weiße Gerichtsgebäude an der Strandpromenade. Alle anderen Kolonialbauten wurden abgerissen. Der augenblickliche Premier Samoas, Tuilaepa Lupesoliai Malielegaoi, will Samoa in die Moderne führen und hat mit Denkmalschutz nicht viel am Hut. Mit chinesischer Hilfe hat er in Apia eine Reihe bombastischer Regierungsgebäude hochziehen lassen, auf der Strecke blieb fast alles, was Apia mal den Charme einer alten Südsee-Kolonialstadt gegeben hat.

    Die Samoa Police Band gibt ein Ständchen im Vorgarten des alten deutschen Gerichtsgebäudes. 1902 aus kalifornischem Rotholz gebaut und weiß angemalt, diente es als Oberstes Gericht von Samoa, später dann als Sitz des Premierministers. Es besteht aus zwei langen, zweigeschossigen Flügeln, die im Winkel auf eine Straßenkreuzung zulaufen. Mit umlaufenden Veranden, wie sie für den Kolonialstil typisch sind. Die Police Band spielt für geladene Gäste. Eine Ausstellung soll eröffnet werden mit Vorschlägen zur Nutzung des ehrwürdigen Gebäudes. Dem Courthouse Trust, einem Treuhandverein zur Erhaltung des Gebäudes, gehören auch einige Nachkommen der deutschen Kolonialherren an wie Hans Joachim Keil. Keil gehörte lange Jahre als Minister in mehreren Portfolios der samoanischen Regierung an und begrüßt als Gastredner den Premierminister.

    Der hält, nach einigen samoanischen Höflichkeitsfloskeln, einen allgemeinen Vortrag zur Bedeutung des Denkmalschutzes und kommt nach einem höflichen Beifall ziemlich abrupt zur Sache:

    ""Also, nach diesem Beifall muss ich sie darauf hinweisen: Das war der vorbereitete Text, den ich mit großem Widerwillen gelesen habe. Warum? Die Realität ist: Unsere Regierung hat nicht die Mittel, dieses Gebäude weiter bis in alle Ewigkeit zu erhalten. Es ist ein extrem teures Unterfangen, an so einem Gebäude nur wegen des nationalen Erbes festzuhalten. Wenn ich unseren Leuten auf dem Lande die Frage stellen sollte, was ihre Priorität wäre: dieses Gebäude oder die Sicherung ihrer Wasserversorgung? Dann wüsste ich, was die Antwort wäre: die Wasserversorgung. Wir hatten drei ähnliche Gebäude, alte Gebäude, die wir vor Kurzem abreißen ließen, um Platz zu machen für andere Erschließungen. Also, es bleibt sehr wenig Zeit für den Verein. Ihr müsst hart arbeiten und Resultate hervorbringen.”"

    Die Gäste und vor allem die Mitglieder des Unterstützungsvereins sind in gleicher Weise fassungslos über die Unverblümtheit, mit der hier ein Regierungschef über das Kulturerbe einer Nation hinweggeht. Dennoch schauen sich alle die Ausstellung an, mit Skizzen und Modellen einer möglichen Nutzung des Gebäudes, die von Architekten einer technischen Hochschule in Neuseeland entworfen wurden. Sie laufen auf eine Mehrfachnutzung hinaus. Das Gebäude ist groß genug, um ein Museum und ein Kulturzentrum zu beherbergen, dazu kleine Shops und Cafés. In dieser Mischung und mit dem Prestige eines der ältesten Kolonialgebäude im Pazifik wäre es auch eine Touristenattraktion. Auch der deutsche Architekt Christoph Schnoor gehört zu dem Planungsteam. Ist das Gerichtsgebäude deutscher Kolonialstil?

    ""Das ist eine interessante Frage und damit habe ich mich eine Weile lang beschäftigt, weil ich das wissen wollte. Dann haben wir alle Kolonien einmal durchgeguckt und die Antwort ist: Nein, es gibt keine deutsche Kolonial-Architektur per se. Sondern ob in Tsingtao, ob in Tansania oder Neuguinea, jede Kolonie war ein bisschen anders. Und das hat oft abgehangen von den einzelnen Architekten, die da jeweils tätig waren, manchmal, oft auch in großem Maß von dem jeweiligen Gouverneur. Und so gibt es in Tsingtao und in China eine sehr deutsche, deutsch anmutende Architektur, das ist auch allgemein bekannt. Und in Neuguinea und hier in Samoa eigentlich eher nicht."

    Mehr als ein Jahr Frist hat Samoas Premier dem Court House Trust nicht gegeben. Dann kommen die Bulldozer. Es müsste schon ein kleines Wunder geschehen, wenn die schätzungsweise fünf Millionen Euro zur Rettung des Gebäudes doch noch gefunden würden. So sieht es auch der Premierminister.

    "Wir haben unseren Beziehungen zu Deutschland immer Bedeutung zugemessen. Trotzdem warte ich noch immer auf den deutschen Samariter, den guten Samariter, der kommt und das Gebäude rettet."

    Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Deutschland hat als Kolonialmacht in Samoa eine außerordentlich gute Figur gemacht. Da sollte es doch auch gelingen, ein Gebäude zu erhalten, das diese glückliche Ära wie kein anderes verkörpert.