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Marshall McLuhan

Auf die Frage, wer der wichtigste Denker seit Newton, Darwin, Freud und Einstein sei - wird vielleicht nicht jeder interessierte Hörer Marshall McLuhan setzen, wie es die 'New York Times' propagierte, - andererseits ist diese Reihung auch keine reine Provokation. Es gibt wohl wenige zeitgenössische Denker, die gleichrangig präsent sind, in manchen Kreisen sogar 'Kult', und die nicht als Universitätsdenker wichtig sind, sondern ganz handfest mit der sogenannten Arbeitswelt verknüft sind. Und die daneben als Mensch so verschwommen sind, darf man anfügen. Es war also Zeit für eine Biographie.

Guido Eckert |
    Marshall McLuhan zu verstehen heißt, unsere Mediengesellschaft verstehen, sagt der Klappentext, was denn auch den ein oder anderen Medien-Theoretiker zu einer forschen Zusammenfassung aller McLuhan-Theorien und ihrer realen Wiederkunft nötigte - aber, muß man optimistisch anfügen, das steht leider (oder Gottseidank) alles nicht in diesem Buch. Es ist keine seminaristische Vorbildung nötig. Die Biographie des kanadischen Journalisten und Kriminalautoren Philip Marchant über den Gestalter der Gutenberg-Galaxis ist eine akribisch recherchierte Lebens-Suche über die Herkunft sogenannter grosser Gedanken, über ihre Verstrickung in andere Gedanken, vor allem aber ihre Vernetzung mit einem gebärenden Körper, heißt: in das Alltagsleben. In das - nennen wir es ruhig: das dumme Denken großer Denker. In deren Neid, deren Vorurteile, Ängste und Sehnsüche. Bis hin zu MacLuhans Unfähigkeit als Familienvater.

    Wer nun einfügen möchte, daß es doch wohl nichts zu erzählen gibt, über einen Universitätsprofessor, der zeitlebens kaum aus Kanada herausgekommen ist, und sich zum Ende hin sogar festungsartig in einer Repräsentationsvilla verschanzt hatte, und der eben nichts anderes hinterließ als Gedanken, Gedanken, und vor allem Gedankensprengsel, - demjenigen muß man sogar zustimmen. Andererseits ist dieser Marshall McLuhan ein derart vielschichtiger, auch nerviger, auch irrender Charakter, daß es niemals langweilig wird, dessen Leben ein Stück zu begleiten. Und wenn man McLuhan einmal heraustrennt aus der Multimedia-Abteilung - in der er sich selber nie gesehen hat, schlimmer noch: er hat Computer abgelehnt -, dann erinnert er in seiner kanadischen Umwertung aller Werte entfernt an Glenn Gould. Der mit der gleichen Vehemenz, aus einer außereuropäischen Tradition heraus, MODERN war.

    Bei McLuhan kommt aber neben der plötzlich einbrechenden Popularität ein weiteres Element dazu: das verzweifelte Anrennen eines Mannes, der einsam lebt, ohne das zu bemerken, und trotzdem WIRKUNG erreichen möchte. Als Aufklärer, und Moraliker, gelegentlich paranoischer Weltverbesserer, und dem das nie gelang.

    Neil Postman, der das Vorwort schrieb, war in der beneidenswerten Situation eine Vorlesung von McLuhan erlebt zu haben, deren Aufbau sich so beschreiben läßt: "Wenn Ihnen das nicht gefällt, erzähle ich Ihnen etwas anderes- und schon prasselten die nächsten drei, vier ungewohnten Ideen auf seine Zuhörer ein." Sei es, daß die Erfindung der Brille im zwölften und dreizehnten Jahrhundert letztlich zur Idee der Genmanipulation führte oder die Telegrafie der Vorstellung zum Durchbruch verhalf, daß Information vom Kontext unabhängig sei. "Wir waren begeistert", erinnert sich Neil Postman. "Wir hatten das Gefühl, unser ganzes Leben auf so ein Ereignis und so einen Menschen gewartet zu haben." Gleichzeitig taten ihn viele seriöse Wissenschaftler und Intellektuelle als Scharlatan und Spinner ab - im Gegensatz aber zu anderen unverstandenen, geistigen Wegbereitern der letzten Jahrhunderte nicht deshalb, weil McLuhan's Ideen ihrer Zeit so weit voraus und von daher nicht verstanden worden wären, sondern weil McLuhan seine Ideen einfach nicht BEGREIFBAR machen konnte. Heißt: er scherte sich nicht um Beweisführung oder Logik, sondern streute pausenlos, wahllos, geistige Brosamen unter seine Zuhörer. Sprunghaft. Mal hier was, dann wieder dort was. Und dazwischen gleich noch ein Witz und eine Anekdote. Eine große, lebensverändernde Angelegenheit für jeden McLuhan-Jünger, aber tödlich nur allein für denjenigen, der eine kleine Nachfrage hatte. Denn es gab auch auf Verlangen keine Beweise, keine Herleitungen, keine Zitate. Stattdessen eine unablässige Brillianzkanonade. Ein Feuerwerk aus interessanten Einsichten, Aussichten, Vermutungen, Verdächtigungen und... Versen. McLuhan war ein Anhänger von humorigen Einzeilern.

    Verständlich irgendwie, daß seine Kollegen und Professoren, - allerdings auch die überwiegende Zahl der Studenten angesichts dieser Persönlichkeit zu den klassischen Methoden der Geisteswissenschaft überwechselten. Die Studenten hatten auch damals nichts gegen prickelnde Vorlesungen, mussten aber - wie heute immer noch - vor allem eine gute Abschlußprüfung ablegen. Und auf diese Prüfungen bereitete sie McLuhan in keiner Weise vor. Haus- und Exmansarbeiten las er nur auf der Suche nach inspirierenden Ideen. Für jede dieser Blitze gab es einen Punkt. Andererseits bewertete er eine gut recherchierte, gut geschriebene, genau belegte Arbeit, die im wesentlichen eine Widergabe der geläufigen Literatur zu einem Thema war, mit 'Null Punkten'. Durchgefallen.

    Dem Biographen Marchant ist es diesbezüglich zu verdanken, neben den Blitzen, auch einmal den ganzen Schrott zu dokumentieren, den MacLuhan so zusammenfabulierte. Beispielsweise daß der amerikanische Bürgerkrieg in Wirklichkeit eine Auseinandersetzung zwischen der nördlichen und südlichen Sektion der Freimaurer gewesen war; daß es mit Frauen ab dem zwölften Lebensjahr bergab ginge; daß alle K¸nstler entweder offiziell oder insgeheim katholisch seien; - und Marchant beleuchtet die Schattenseite der einsamen Brillianz: zeitlebens unfähig gewesen zu sein, eine Sache gründlich zu Ende zu führen. McLuhan war pausenlos mit mindestens vier, fünf Projekten gleichzeitig beschäftigt. Wobei das nicht nur Bücher, sondern auch ein Musical oder eine Unternehemsberatung sein konnte. Schon bei seiner Doktorarbeit zeigte sich dieses Charakteristikum: Je mehr er arbeitete, desto ausufernder wurde seine Abhandlung. "Einen Großteil meiner Arbeit verrichte ich", stöhnt der Denker, "während ich mit Leuten rede." Wobei dieses "Reden" darin bestand, daß er nach spätestens dreißig Sekunden das Gespräch an sich riß und für den Lauf des Tages nicht mehr losließ. Dieser monologische Redestrom verärgerte auch die letzten Freunde und vertrieb regelmäßig seine Mitarbeiter. Denn McLuhan brauchte vor allem Stichwortgeber. Oder, wie es einer seiner ehemaligen Mitstreiter protokollierte: McLuhan gefiel es, daß noch jemand im Raum war, während er laut nachdachte. Spannend zu sehen, wie sich aber aus dieser Dampfplauderei in frühen Jahren schon Grundzüge eben jener Theorien herauskristallisieren, die McLuhan später in seinem legendären Buch "Die Gutenberg-Galaxis" publizierte.

    Wer sich nun anhand dieser Andeutungen einen gewandten Kosmopoliten vorstellt, denn holt Marchant zurück auf den Boden der Tatsachen. Denn McLuhan war neben allen sonstigen Unannehmlichkeiten, auch noch ein provinzielles Landei. Verließ er einmal Kanada, wie bei einem Kurzaufenthalt in Cambridge, dann strahlte er keinerlei Genialität aus, vielmehr verkrampftes Abstrampeln. Er fiel höchstens durch typische Provokationen auf wie jene, daß die Reformation als größtes kulturelle Desaster in der Geschichte der Zivilisation zu brandmarken sei. Trotzdem wäre der Rezensent gerne anwesend gewesen, als Gertrude Stein einmal eine Lesung hielt, und McLuhan sie genüßlich aus den hinteren Reihen unterbrach, um ihren Prosastil als kindlich zu bezeichnen. Gertrude Stein schäumte daraufhin vor Wut, schnappte sich einen Regenschirm, und - so will es die Legende - "wie Urtiere aus dem Mesozoikum bauten sich die korpulente Stein und der schlaksige McLuhan voreinander auf."

    Auch als 1951 sein erstes Buches "Die mechanische Braut" erschien und den Vierzigjährigen damit zu einer diskutierten und damitrespektierten Persönlichkeit machte, änderte sich nichts an seinem Charakter. McLuhan wurde nun entgültig zu einem nervösen Vollbluthengst, schreibt der Biograph, der bis zum letzten trainiert war, ohne je an einem Rennen teilgenommen zu haben. Es ergreift den Leser deshalb, als McLuhan 1979 - nach einer Reihe alarmierender Warnsignale seines Körpers, die er allesamt ignorierte,- durch einen Schlaganfall getroffen wurde, der sein Sprachzentrum zerstörte. Dieser schrullige Professor, in seiner ganzen egomanischen Unausgeglichenheit, ist dem Leser zu diesem Zeitpunkt wirklich ans Herz gewachsen. Aber - so will es die Legende- beim Betrachten von Buster Keaton und Marx-Brothers-Filmen soll er so laut gelacht haben, daß den Krankenschwestern Angst und Bange wurde. Und so etwas versöhnt.