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Marta Kijowska: Der letzte Gerechte - Andrzej Szczypiorski

Er - aufgewachsen im bürgerlichen Vorkriegs-Polen der 30er Jahre - war einer jener Vertreter seiner Generation, der die oft erbarmungslos zupackende Geschichte seines Heimatlandes im vergangenen Jahrhundert selbst hautnah erlitten, dabei präzise registriert und in seinen letzten Lebensjahren dann aktiv mitgestaltend durchlebt hat. Von Andrzej Szczypiorski wird jetzt zu berichten sein, jenem polnischen Intellektuellen, der vor allem in den neunziger Jahren als Literat, als häufiger Gast deutscher Medien wohl entscheidend dazu beigetragen hat, das Polenbild hierzulande zu entkrampfen, umzuformen und - im Wortsinn - zu entspannen. Die gebürtige Krakauerin, Germanistin und Jornalistin Marta Kijowska, hat jetzt beim Aufbau-Verlag eine Biographie vorgelegt mit dem Titel: "Der letzte Gerechte - Andrzej Szczypiorski."

Von Martin Sander |
    Als "höchsten Priester" der deutsch-polnischen Verständigung hat die angesehene polnische Kulturzeitschrift "Odra" Andrzej Szczypiorski einmal tituliert. Verglichen mit Szczypiorski hätten alle anderen Beteiligten an diesem Ritual ausgesehen wie anonyme Meßdiener. Zweifelsohne war Andrzej Szczypiorski bis zu seinem Tod im Jahre 2000 die bekannteste, vielleicht sogar die beliebteste Stimme Polens in Deutschland - literarisch, publizistisch und politisch. Grund genug, seinen Lebensweg für das deutsche Publikum nachzuzeichnen. Die Publizistin Marta Kijowska erzählt das Leben Andrzej Szczypiorskis wie einen Dokumentarroman und bettet ihn ein in die polnische Geschichte. Dabei kontrastiert sie die Wirkungsmacht nationaler Mythen mit der Lebenswirklichkeit.

    Andrzej Szczypiorski wurde 1928 in Warschau als Sohn eines Historikers und Sozialisten geboren. Es war die vergleichsweise heile Welt einer bürgerlich aufgeklärten und westeuropäisch orientierten Linken, in der Szczypiorski aufwuchs, und die für ihn im Zweiten Weltkrieg zerbrach. Der Fünfzehnjährige hatte soeben mit zwei Erzählungen in einem literarischen Salon der besetzten Hauptstadt debütiert, als das Warschauer Ghetto nach einem letzten verzweifelten Aufbegehren im Spätsommer 1943 dem Erdboden gleichgemacht wurde. Ein Jahr später kämpfte Szczypiorski in der Uniform der prosowjetischen Polnischen Volksarmee gegen die Deutschen. Anschließend wurde er ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Diese Erlebnisse boten ihm Stoff genug, um Zeit seines Lebens über das Verhältnis von Polen, Deutschen und Juden nachzudenken. In den frühen sechziger Jahren trat Szczypiorski mit einer einschlägigen Roman-Tetralogie hervor über Deutschland und Polen im Nationalsozialismus. Politisch hatte sich Szczypiorski vom Stalinismus der frühen fünfziger Jahre ferngehalten. Doch nach Einbruch des "Tauwetters" setzte er - unter dem Nationalkommunisten Gomulka - voll und ganz auf die Karte der Volksrepublik - unter anderem als allwöchentlicher Feuilletonist des staatlichen Rundfunks.

    Sein suggestiver, nicht selten aggressiver Tonfall, seine Suada, die oft selbstverständlichen Dingen die Aura einer Offenbarung verlieh, sein Hang zum Moralisieren, der das Gesagte mitunter in die Nähe plumper Indoktrinierung rückte, irritierte vor allem seine Journalisten- und Schriftstellerkollegen. Und in der Tat zeugen diese Feuilletons, die 1968 in Buchform erschienen, nicht gerade von hochoppositioneller Gesinnung. Ob er nun über den 20. Jahrestag von Hiroshima, ein Treffen der ehemaligen Kommentatoren des Nürnberger Prozesses, die Eröffnung der Warschauer Oper oder einen Kinobesuch sprach, nahezu aus jedem seiner Beiträge war die staatlich verordnete Ideologie herauszuhören.
    Marta Kijowska geizt nicht mit kritischen Seitenblicken auf ihren Helden. Da ist auch von mancher literarischen Plattheit die Rede, von Prosa, die in der Form von publizistischen Thesen daherkommt und das System glorifiziert, zu einer Zeit als viele polnische Schriftsteller bereits Distanz halten. Doch dann kommt für Szczypiorski das plötzliche Ende aller realsozialistischen Illusion - im März 1968. Damals betrieben führende polnische Kommunisten, Parteichef Gomulka eingeschlossen, eine beispiellose antisemitische Hetzkampagne, in deren Folge Tausende von Juden, vor allem Intellektuelle, aus Polen vertrieben wurden. Auf einen Schlag war Szczypiorski nun der Protagonist einer unbeugsamen antikommunistischen Opposition und schrieb zudem seinen wohl besten Roman: "Eine Messe für die Stadt Arras", ein Buch, das von einer antijüdischen Massenhysterie im Mittelalter handelt und sich als Parabel auf den März 1968 lesen lässt. Fortan war Szczypiorski also ein entschiedener Gegner des Kommunismus: Petitionen, konspirative Arbeit, Solidarnosc, 1981, im Kriegszustand, Internierungslager. Dabei blieb ihm, für den die christliche Religion zunehmend an Bedeutung gewann, das nationalkatholische Pathos der polnischen Rechten ein Greuel, auch und gerade, als er sich nach der Wende in der Rolle eines Senators auf der politische Bühne des neuen, unabhängigen Polen wieder fand.

    Das große Echo, das Szczypiorski in den letzten Jahren seines Lebens in Deutschland fand, hat gewiss mit dem Bestsellererfolg seines Kriegs- und Nachkriegsromans "Die schöne Frau Seidenman" zu tun. Aber auch mit seinem tiefen Bedürfnis, Deutschland in seiner ganzen Geschichte und Gegenwart zu begreifen. Eindrucksvoll führt Marta Kijowska das Charisma dieses polnischen Intellektuellen vor, seine oftmals entwaffnende Offenheit und seinen Witz, mit dem er den eher hölzernen Dialog zwischen Polen und Deutschen zu entkrampfen vermochte. Das, was für Szczypiorski in Deutschland zu Buche schlug, steigerte sein Ansehen im Heimatland aber keineswegs. Dort blieb er umstritten - bis zuletzt.

    Weshalb nun? Ging es um die literarische Qualität seiner Werke? War es sein internationaler Erfolg, der die Neider auf den Plan rief? Irritierte das hohe Ansehen, das er ausgerechnet im "feindlichen" Deutschland genoss? Trug man ihm immer noch die heiklen Kapitel seiner eigenen Biographie nach? Störte man sich an dem höhnisch-moralistischen Ton, den er gern in seiner Publizistik anschlug? Die kürzeste Antwort auf all diese Fragen lautet: Es war alles zugleich.
    Auf überaus eindringliche und stets allgemeinverständliche Weise ist es Marta Kijowska gelungen, die widerspruchsvolle Lebensgeschichte eines polnischen Intellektuellen nachzuzeichnen und dem deutschen Leser dabei die polnische Geschichte des 20. Jahrhunderts näher zu bringen.

    Marta Kijowska: "Der letzte Gerechte. Andrzej Szczypiorski. Eine Biographie". Erschienen ist der Band im Aufbau-Verlag, Berlin. 381 Seiten - für genau 20 Euro.