Archiv


Martha Kent

Potulitz - so hieß Potulice früher. Heute gehört Potulice zu Polen. Für ein sechsjähriges Mädchen war Potulitz einmal das Zentrum ihres Universums. Eines Universums, das eng begrenzt war - durch Stacheldraht und Wachtürme. In Potulitz/Potulice befand sich seit dem Frühjahr 1945 ein Lager, in dem Deutsche festgesetzt worden waren, die aus den unterschiedlichsten Gründen bei Kriegsende nicht Richtung Westen geflohen waren. - Wie spezifische Kindheitserlebnisse sie prägten, wie die erwachsene Frau sie später verarbeitete, das beschreibt das Buch von Martha Kent. Der Titel dieser Neuerscheinung: "Eine Porzellanscherbe im Graben - eine deutsche Flüchtlingskindheit".

Markus Krzoska |
    Viele Autoren haben in den vergangenen sechs Jahrzehnten über die Jahre des Krieges und die Zeit danach geschrieben. Der Leitgedanke dabei war meist derselbe: mit den traumatischen Erfahrungen irgendwie fertig zu werden, den Schmerz zulassen zu lernen, in der Gegenwart anzukommen. Die Lebenserinnerungen der kanadischen Psychologin Martha Kent gehören in diese Kategorie. Es geht in ihnen nicht um eine Aufrechnung von Leid, von Anklage, wie man sie heute immer noch mitunter findet. Die Verfasserin hat nach langem Ringen ihren Frieden gefunden, indem sie in der Empathie ihre wichtigste Maxime zum Überleben entdeckt hat. Das war nicht leicht für sie. Sie musste bis zu den Grenzen der körperlichen und geistigen Belastbarkeit gehen, um damit fertigzuwerden, was sie als kleines Kind erlebte. Martha, 1940 geborenes Kind einer volksdeutschen Familie aus dem östlichen Polen, wuchs mehrere Jahre lang in einem volkspolnischen Gefangenenlager auf.

    ’Ihr kommt nach Potulice’, hatte Rymarkiewicz gedroht. Und in Potulice waren wir gelandet. Die Blicke meiner Mutter flogen vom Tor zu den Zäunen. Männer in Uniform kamen auf uns zu, das Fuhrwerk würde uns nicht schützen können, wenn sie uns etwas antun wollten. Wir Kinder drängten uns aneinander. 'Sind das alles ihre?’ fragte ein Uniformierter. Seine Hand deutete dabei in unsere Richtung. 'Ja, das sind alles meine’, antwortete meine Mutter mit unbewegter Miene. Sie war nicht bereit, sich aus der Fassung bringen zu lassen".

    Potulice, in der Nähe von Bromberg im früheren Westpreußen gelegen, hatten die Deutschen während des Zweiten Weltkrieges als Lager für Kriegsgefangene errichtet. Die Polen übernahmen es wie zahlreiche andere Einrichtungen dieser Art im Jahre 1945 und rächten sich nun an den zurückgebliebenen Deutschen für die furchtbaren Erfahrungen des Krieges. Krankheiten, Hunger und manche Erschießung sorgten in den Jahren bis 1949 dafür, dass für alle noch in Polen lebenden Deutschen, aber auch manche Autochthone – so nannten die neuen kommunistischen Herrscher die Angehörigen der regionalen Bevölkerung, die als polonisierbar galten – Namen wie Potulice, Świętochłowice, Zimnawoda und andere zum Synonym des Schreckens wurden.

    Für Martha dagegen wird Potulice zunächst sogar zu ihrem Heimatdorf. Sie erlebt dort, zeitweise von der Mutter und ihren Geschwistern getrennt, die Gesetzmäßigkeiten des Lagerlebens aus der Perspektive eines Kindes. Instinktiv erkennt sie, was sie am Leben halten kann: zwischenmenschliche Kontakte, seien diese auch noch so künstlich und absurd.

    Kinder opferten ihr Essen, um einen Blick auf ihre Eltern werfen zu können. Erwachsene waren imstande, für ein Stück Brot oder eine Kartoffel zu töten. Mit leidenschaftlichem Eigeninteresse strebte ich nach Bindungen. Einem Gesicht nahe zu kommen, wie Mutter meinem Gesicht nahe gekommen war, würde mir einiges abverlangen – scheinbar zufällig herumstehen, lauschen, warten, mich um Bindungen bemühen.

    Es scheint so, als ob Martha noch relativ gut davonkommt. Ihre Mutter taucht wieder auf, einmal sieht sie durch den Zaun den Vater, der zu Besuch gekommen ist. Die Zustände im Lager bessern sich allmählich und am Ende werden alle Familienmitglieder entlassen, nur die Großmutter bleibt irgendwo zurück. Das Leben der Familie nimmt nun seinen Lauf von Millionen anderer Menschen in jenen Jahren. Sie ziehen gen Westen, zunächst nach Thüringen, dann ins oberhessische Trutzhain. Dort ist Martha wohl das erste Mal richtig glücklich, sie entdeckt die Welt neu, aber der Weg sollte noch nicht zu Ende sein.

    Vater blickte finster drein. 'Hier werden wir nicht bleiben und anderswo auch nicht’. Endlich begriff ich das Wort Land. Ich verstand es tatsächlich. Länder führten Kriege. Sie wollten einander vernichten. Die Puzzleteilchen, die ich zum Thema Krieg und Länder zusammengefügt hatte, versetzten mich in Aufregung. Vater schaute immer noch finster. 'Verwünscht. Länder, Krieg, Europa – das ist alles verwünscht.’ – 'Aber wir sind jetzt in Deutschland’ – 'Das ändert überhaupt nichts. Wir haben genug Krieg erlebt. Wir bleiben nicht in Europa.’

    Der Entschluss ist rasch gefasst und die ganze Familie wandert nach Amerika aus, genauer gesagt nach Kanada zu einem dort lebenden Onkel.

    Über die ersten Jahre dort schreibt Martha Kent nicht viel, man lebt auf dem Land, beinahe in der Wildnis. Ganz so spurlos sind die Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit doch nicht an ihnen vorübergegangen: Eine Schwester leidet an Tuberkulose, der Bruder Adusch ("Klein-Adolf") entwickelt eine geistige Erkrankung, die ihn schließlich in ein Heim führt. Auch Martha hat ihre Probleme mit dem Normal-Sein. Sie fühlt sich steif und befangen, sie weiß wenig von der Welt ihrer Klassenkameradinnen. Der Hunger nach Wissen prägt ihr Leben. Es gibt wunderschöne Szenen in diesem Buch, etwa die Schilderung ihres Freizeitjobs in einer Großküche, wo beim Zubereiten der Mahlzeiten geradezu existentialistische Gespräche geführt werden, atemberaubende Landschaftsbeschreibungen, die der Autorin immer wieder vortrefflich gelingen. Ihren inneren Frieden kann Martha allerdings nicht finden, auch nicht, als sie auf die Universität geht, einen liebevollen Mann findet und die akademische Laufbahn einschlägt. Die Vergangenheit, die Frage ihrer Identität holt sie immer wieder ein. Sie ahnt, dass noch größere Probleme auf sie zukommen werden, dass der "anschleichende Killer ohne Gesichtszüge", "das unsichtbare Gift" unterwegs zu ihr sind.

    Die Gesetze des Wissenschaftsbetriebes sind es schließlich, die sie nach unten ziehen. Der subtilen Form von Gewalt, den Intrigen der Kollegen ist Martha, die als Kind mit offener Gewalt irgendwie umzugehen gelernt hatte, nicht gewachsen. Sie verlässt ihren Job und wagt einen Neuanfang im Umgang mit Krankenhauspatienten, die an schweren körperlichen Traumata leiden. Aber auch hier ist sie nicht sicher: Im Gesicht eines Patienten stößt sie auf Spuren ihrer Vergangenheit und es beginnt der wahre "Sturz durch die Erde", wie sie es selber nennt.

    Tief in meinem Hirn, wo die Emotionen sitzen, lösten sich wohl geordnete Bereiche auf. Aus Mülltonnen quoll Rauch. Laute Stimmen und brennender Unrat brachen wie Flammen in einem Comic-Heft durch die Fenster der Klinik. Abfallgeruch drang in mein Hirn.

    Schließlich landet Martha in der Psychiatrie. Die Beschreibung ihres Dahinvegetierens unter dem Einfluss der Medikamente, die Leere ihres Daseins gehört zu den eindringlichsten Passagen des Buches. Nicht die Psychopharmaka führen Martha aus der Krise, es ist die Beschäftigung mit ihrer Vergangenheit, das Sprechen, und vor allem das Schreiben darüber.

    An dem Tag, da ich den Gefangenen von Potulice ihre tatsächliche Gestalt gab, wie ich sie erlebt hatte, als ich ein Kind in diesem Lager war, ergriff ein intensives Grauen meine Glieder und setzte sich in allen Gelenken meines Körpers fest. Ich war überzeugt, ich würde zugrunde gehen. Das Grauen begleitete mich ins Bett. Als ich am nächsten Morgen erwachte, spürte ich meine Arme und Beine, meinen regelmäßigen Atem und war überrascht, dass ich nicht gestorben war, ja sogar ein wenig enttäuscht, weil ich noch einigermaßen munter lebte.

    Von nun an geht es wieder aufwärts mit Martha. In Liebe und Versöhnung mit ihrer Vergangenheit findet sie ihr persönliches Gegengift gegen die Leiden der Kindheit. Die Reise nach Europa, der Weg zurück nach Potulice zu einer Gedenkfeier der ehemaligen Gefangenen beschließt den Prozess von Marthas Selbstheilung.

    Martha Kents Buch ist eine unsentimentale Reise durch die Zeit. Indem sie nicht die Verbrechen gegeneinander aufrechnet, sondern im Persönlichen bleibt, vermeidet sie die Falle, in die zum Beispiel vor einigen Jahren die Journalistin Helga Hirsch in ihrem Buch "Die Rache der Opfer" über die polnischen Lager für Deutsche getappt ist. Es geht nicht um Nationen, sondern um die konkreten Menschen, die am Krieg und seinen Folgen leiden, oft so sehr, dass sie noch Jahrzehnte später davon eingeholt werden: die überlebenden KZ-Opfer, die Verschütteten in den Bunkern und Luftschutz-Kellern, die vergewaltigten Frauen. Nicht alle hatten oder haben das Glück, "ihre" Lösung zu finden.

    Markus Krzoska besprach: Martha Kent: "Eine Porzellanscherbe im Graben - Eine deutsche Flüchtlingskindheit", 336 Seiten, zu beziehen im Scherz-Verlag, Bern. Das Buch kostet 19 Euro 90.