Auf den Bühnen der Theaterstadt Berlin pulsiert das Leben. Bis der Erste Weltkrieg ausbricht, gilt die Hauptstadt der nun kriegführenden Nation als eine der dynamischsten Unterhaltungsmetropolen Europas. Neben dem so genannten Kulturtheater mit Produktionen von Max Reinhard bieten Kabarett Operette, Revuen und Varieté Unterhaltung für das breite Publikum. Gerade diese "ambivalente Stellung zwischen Eliten- und Populärkultur" macht das Theater in den Augen des Münchner Historikers Martin Baumeister zu einem besonders sensiblen Medium seiner Zeit. Ihn interessieren die Auswirkungen des Krieges auf das bunte Treiben auf der Bühne und ein mögliches Wechselspiel zwischen Mobilisierung und Selbstmobilisierung. Denn die Frage, ob es in Kriegszeiten eine Existenzberechtigung für Theater und Unterhaltung geben könne, wurde von Seiten der Bühnen recht schnell gelöst. Und zwar so formuliert es Baumeister, zugunsten eines "pragmatischen Patriotismus".
"Die Wirklichkeit forderte mit dem Übergang von der Normalität des Friedens in den Ausnahmezustand des Krieges, mit dessen Tendenz zur Totalisierung, mit der Überspannung aller Kräfte und wachsenden Verstrickungen und Traumatisierungen immer mehr Vermittlung und Erklärung, Antrieb und Rechtfertigung sowie Möglichkeiten des Ausgleichs und der Distanzierung. "
Die Theaterstadt Berlin ließ sich mehr oder weniger bereitwillig in die vaterländische Pflicht nehmen. Selbst in den Kaffeehäusern Unter den Linden und am Potsdamer Platz warben Vortragskünstler, Sänger und Sängerinnen um Gunst und Spenden des Publikums. Die Palette der Künstler reichte vom Opernsänger bis zum Deutschen Frauen-Quintett Germania: Geboten wurden deutsche Volks- und Kunstlieder sowie "patriotische Gesänge". Auch in den Berliner Vororten trugen Sänger-Trupps zeitgemäße Lieder und Prosa vor, nachdem sie ihren nachmittäglichen Lazarett-Auftritt absolviert hatten. In den Kinos machten patriotische Vorträge Schule. Die Berliner Theaterpolizei, oberste Instanz und Kontrollbehörde allen Bühnengeschehens, gab ihren Segen für diese Vorträge von - wie es hieß - "höherem Kunstinteresse".
"Der ‚August 1914’, die Mobilmachung und die ersten Kriegswochen bis zur Erstarrung der Fronten im Westen hatten in Deutschland einen ausgesprochen theatralischen Charakter. In den städtischen Zentren, zumal in der Hauptstadt, trat das Volk in Gestalt heterogener Menschenmengen auf Straßen und Plätzen als Publikum und Akteur in einer Weise in Erscheinung, die den Rahmen der politischen Kultur des Kaiserreiches sprengte. Die Grenzen zwischen Straßen- und Bühnenöffentlichkeit begannen sich aufzulösen. Die Theater setzten die Werte und Symbole in Szene, die den Krieg als Verteidigung einer überlegenen Kultur rechtfertigen sollten, während die Zuschauer das geeinte Volk darstellten, das die Siegesnachrichten von der Bühne entgegennahm und voller Inbrunst patriotische Lieder anstimmte. "
Allerdings konnten die Theater diese Mobilisierungsfunktion nicht lange durchhalten. Nach den lautstarken patriotischen Stücken der ersten Kriegsmonate lagen bald sentimentale Operetten in der Publikumsgunst ganz vorn.
Eine Bühnenkunst, so Baumeister, die als "Sedativ und Analgetikum" auf die ständig belasteten Nerven der Zuschauer einwirken sollte. Die Theaterpolizei, deren Kommentare eine der wichtigsten Quellen für Baumeister darstellen, wachte gleichwohl streng darüber, dass auf den Brettern, die die Welt bedeuten, das geforderte Weltbild nicht in Frage gestellt wurde. Jeder Text, jedes Chanson musste die Zensur passieren, bevor sich das Publikum eine eigene Meinung bilden konnte. Die Zirkusunternehmen Busch, Schumann und Sarasani z.B. mussten selbst für ihre Manegenschaustücke ohne Text ein detailliertes Drehbuch vorlegen.
Zu den größten Erfolgen und "Dauerbrennern" des Theaters an der Heimatfront zählte ein so genanntes vaterländisches Volksstück des Berliner Theaterdirektoren Herman Haller mit dem vielsagenden Titel "feste druff", ein Zwitter aus patriotischem "Hau drauf-Stück" und lustiger Operette.
Während sich die Theater an der Heimatfront also bemühten, der Kriegsnation und den Erwartungen des Publikums gleichermaßen gerecht zu werden, begann gleich hinter den Schützengräben ein Bühnenleben ganz anderer Art. Im Theaterneubau von Lille, in den Marineunterhaltungsheimen und in den Lazaretten, und in Waldlagern dicht hinter den ersten Linien – gespielt wurde überall und alles: Vorherrschend war nicht hohe Theaterkultur, sondern das, was Spaß machte, der Unterhaltung und - der Ablenkung diente. Lustspiele feierten Hochkonjunktur. Je länger der Krieg dauerte, desto stärker organisiert waren die kulturellen Ablenkungsmanöver: Dabei rekrutierten die Fronttheater Soldaten, zum Teil aber auch Zivilisten, denen ein eigener Begleitoffizier zur Seite gestellt wurde. Und um den Mangel an Frauen auszugleichen, schlüpfte so mancher Soldat auf der Bühne in Frauenkleider. Für Martin Baumeister, der auch das wenig erforschte Transvestitentum auf der Bühne unter die Lupe nimmt, gehört auch das zur Funktion des Fronttheaters, die manchmal absurde Inszenierung von Heimat, Familie und Normalität angesichts der Schrecken des Krieges.
Eines der eindringlichsten Kapitel des Buches ist dem bayerischen Unterhaltungskünstler Weiß Ferdel gewidmet, der mit selbst verfassten humoristisch-sentimental gefärbten Gesangsnummern die Welt der Frontsoldaten thematisierte. Zugleich belegen die Tagebuchaufzeichnungen und Briefe des Soldaten, wie sehr er unter dem barbarischen Töten und Sterben an der Front litt. Ein Kapitel, das die Gratwanderung des Frontheaters zwischen Verarbeitung, Ablenkung und Verleugnung auf den Punkt bringt und auch deutlich macht: Für die Schauspieler an der Front bedeutete der Rollentausch auf der Bühne nicht zuletzt eines: die Befreiung vom Dienst an der Waffe, vom Ausharren in den Schützengräben und dem meist grauenhaften Tod für das Vaterland.
Susanne Hagemann über: "Martin Baumeister: Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur, 1914-1918". Die Untersuchung ist erschienen im Rahmen der Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. Klartext Verlag, Essen. 320 Seiten, 34,90 Euro.
"Die Wirklichkeit forderte mit dem Übergang von der Normalität des Friedens in den Ausnahmezustand des Krieges, mit dessen Tendenz zur Totalisierung, mit der Überspannung aller Kräfte und wachsenden Verstrickungen und Traumatisierungen immer mehr Vermittlung und Erklärung, Antrieb und Rechtfertigung sowie Möglichkeiten des Ausgleichs und der Distanzierung. "
Die Theaterstadt Berlin ließ sich mehr oder weniger bereitwillig in die vaterländische Pflicht nehmen. Selbst in den Kaffeehäusern Unter den Linden und am Potsdamer Platz warben Vortragskünstler, Sänger und Sängerinnen um Gunst und Spenden des Publikums. Die Palette der Künstler reichte vom Opernsänger bis zum Deutschen Frauen-Quintett Germania: Geboten wurden deutsche Volks- und Kunstlieder sowie "patriotische Gesänge". Auch in den Berliner Vororten trugen Sänger-Trupps zeitgemäße Lieder und Prosa vor, nachdem sie ihren nachmittäglichen Lazarett-Auftritt absolviert hatten. In den Kinos machten patriotische Vorträge Schule. Die Berliner Theaterpolizei, oberste Instanz und Kontrollbehörde allen Bühnengeschehens, gab ihren Segen für diese Vorträge von - wie es hieß - "höherem Kunstinteresse".
"Der ‚August 1914’, die Mobilmachung und die ersten Kriegswochen bis zur Erstarrung der Fronten im Westen hatten in Deutschland einen ausgesprochen theatralischen Charakter. In den städtischen Zentren, zumal in der Hauptstadt, trat das Volk in Gestalt heterogener Menschenmengen auf Straßen und Plätzen als Publikum und Akteur in einer Weise in Erscheinung, die den Rahmen der politischen Kultur des Kaiserreiches sprengte. Die Grenzen zwischen Straßen- und Bühnenöffentlichkeit begannen sich aufzulösen. Die Theater setzten die Werte und Symbole in Szene, die den Krieg als Verteidigung einer überlegenen Kultur rechtfertigen sollten, während die Zuschauer das geeinte Volk darstellten, das die Siegesnachrichten von der Bühne entgegennahm und voller Inbrunst patriotische Lieder anstimmte. "
Allerdings konnten die Theater diese Mobilisierungsfunktion nicht lange durchhalten. Nach den lautstarken patriotischen Stücken der ersten Kriegsmonate lagen bald sentimentale Operetten in der Publikumsgunst ganz vorn.
Eine Bühnenkunst, so Baumeister, die als "Sedativ und Analgetikum" auf die ständig belasteten Nerven der Zuschauer einwirken sollte. Die Theaterpolizei, deren Kommentare eine der wichtigsten Quellen für Baumeister darstellen, wachte gleichwohl streng darüber, dass auf den Brettern, die die Welt bedeuten, das geforderte Weltbild nicht in Frage gestellt wurde. Jeder Text, jedes Chanson musste die Zensur passieren, bevor sich das Publikum eine eigene Meinung bilden konnte. Die Zirkusunternehmen Busch, Schumann und Sarasani z.B. mussten selbst für ihre Manegenschaustücke ohne Text ein detailliertes Drehbuch vorlegen.
Zu den größten Erfolgen und "Dauerbrennern" des Theaters an der Heimatfront zählte ein so genanntes vaterländisches Volksstück des Berliner Theaterdirektoren Herman Haller mit dem vielsagenden Titel "feste druff", ein Zwitter aus patriotischem "Hau drauf-Stück" und lustiger Operette.
Während sich die Theater an der Heimatfront also bemühten, der Kriegsnation und den Erwartungen des Publikums gleichermaßen gerecht zu werden, begann gleich hinter den Schützengräben ein Bühnenleben ganz anderer Art. Im Theaterneubau von Lille, in den Marineunterhaltungsheimen und in den Lazaretten, und in Waldlagern dicht hinter den ersten Linien – gespielt wurde überall und alles: Vorherrschend war nicht hohe Theaterkultur, sondern das, was Spaß machte, der Unterhaltung und - der Ablenkung diente. Lustspiele feierten Hochkonjunktur. Je länger der Krieg dauerte, desto stärker organisiert waren die kulturellen Ablenkungsmanöver: Dabei rekrutierten die Fronttheater Soldaten, zum Teil aber auch Zivilisten, denen ein eigener Begleitoffizier zur Seite gestellt wurde. Und um den Mangel an Frauen auszugleichen, schlüpfte so mancher Soldat auf der Bühne in Frauenkleider. Für Martin Baumeister, der auch das wenig erforschte Transvestitentum auf der Bühne unter die Lupe nimmt, gehört auch das zur Funktion des Fronttheaters, die manchmal absurde Inszenierung von Heimat, Familie und Normalität angesichts der Schrecken des Krieges.
Eines der eindringlichsten Kapitel des Buches ist dem bayerischen Unterhaltungskünstler Weiß Ferdel gewidmet, der mit selbst verfassten humoristisch-sentimental gefärbten Gesangsnummern die Welt der Frontsoldaten thematisierte. Zugleich belegen die Tagebuchaufzeichnungen und Briefe des Soldaten, wie sehr er unter dem barbarischen Töten und Sterben an der Front litt. Ein Kapitel, das die Gratwanderung des Frontheaters zwischen Verarbeitung, Ablenkung und Verleugnung auf den Punkt bringt und auch deutlich macht: Für die Schauspieler an der Front bedeutete der Rollentausch auf der Bühne nicht zuletzt eines: die Befreiung vom Dienst an der Waffe, vom Ausharren in den Schützengräben und dem meist grauenhaften Tod für das Vaterland.
Susanne Hagemann über: "Martin Baumeister: Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur, 1914-1918". Die Untersuchung ist erschienen im Rahmen der Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. Klartext Verlag, Essen. 320 Seiten, 34,90 Euro.