Freitag, 19. April 2024

Archiv

Martin Mosebach: „Krass“
Im Verein der Krass-Geschädigten

Dieser Mann ist ein pompös auftretender Nimmersatt: Wie ein Barockfürst schart Protagonist Ralph Krass Untergebene um sich und kennt keine Skrupel, sein Geld mit Waffengeschäften zu verdienen. Auf Dauer kann das nicht gutgehen. "Krass" ist das faszinierende Porträt eines unverbesserlichen Machtmenschen.

Von Wolfgang Schneider | 28.01.2021
Martin Mosebach und sein Roman "Krass"
Die einen preisen ihn als Wiedergänger von Thomas Mann, die anderen finden ihn altmodischn: Der Frankfurter Schriftsteller Martin Mosebach polarisiert (Foto Mosebach: Hagen Schnauss, Buchcover: Rowohlt Verlag)
Im Geschäftsleben kommt es auf Seriosität an. Gerade deshalb ist es eine Welt, in der der Schein gepflegt wird. Nicht wenige Bürger führen simulierte Existenzen, indem sie sich grundsolide geben. Kaum ein anderer Autor hat die Theatralität der Businesswelt so pointiert in Szene gesetzt wie Martin Mosebach. In seinen Werken ist eine Porträtgalerie windiger Geschäftsleute zu bestaunen: Konstrukteure von Scheinfirmen, Virtuosen der Pleite, ratlose Berater, Immobilien-Phantasten, Schmarotzer am Ende ihrer Kreditlinie. Sein neuer Roman führt diese Reihe fort und zu einem neuen Höhepunkt.

Besonders furchteinflößend ist sein Schweigen

Mit Ralph Krass. Die Hauptfigur ist ein voluminöser und dabei kraftberstender Mann, ein Willensmensch, der nicht viele Worte macht, sondern gehämmerte Aphorismen ausstößt zu Themen, die ihm nahegehen; Genie zum Beispiel. Noch ausdrucksvoller ist sein Schweigen:
"Nun war Ralph Krass gerade in seinem Schweigen unübertroffen. Das lastende Schweigen, das drohende Schweigen gehörten ebenso zu seinem Repertoire wie das gelassene und das ermutigende Schweigen. Schweigend konnte er etwas zu verstehen geben: Alles, was Sie sagen, weiß ich längst besser als Sie. Oder: Reden Sie nur, sprechen Sie sich selbst das Urteil!"
Es gehört zur Ironie dieses Romans eines Geschäftsmannes, dass auf 500 Seiten kaum von den Gegenständen seiner Transaktionen die Rede ist. In Neapel, wo der erste von drei Teilen im Jahr 1988 spielt, treten einmal ein paar finstere Araber auf; irgendeine Rechnung für eine Panzer-Lieferung war da wohl nicht ganz korrekt. Mag sein, dass Krass mit seiner Philosophie des Handels herunterspielt, dass er sein Geld mit Waffen macht.
"Ihm war es immer gleichgültig gewesen, womit er handelte. Der Handel war etwas Eigenes, hatte mit dem Produkt gar nichts zu tun, das Produkt war nur das Mittel, um das Handeln möglich zu machen."
Auch hier also eher Schweigen. Umso akkurater liefert Mosebach dafür die Physiognomik, Rhetorik und das Gebärden-Repertoire eines Machtmenschen, der mehr an einen orientalischen Monarchen als an die smart getrimmten Entscheider von heute erinnert. Flache Hierarchien? Nichts davon im Krass-Kreis. Hier haben wir es vielmehr mit einem kleinen, spendabel ausgehaltenen Hofstaat zu tun, wo gedienert und geschranzt wird und allenfalls hinter dem breiten Rücken des "Gewaltigen" die aufgesparte Unzufriedenheit laut wird. Wer ausscheidet, wird lebenslang Mitglied im Verein der Ralph-Krass-Geschädigten. Das alles ist einerseits sehr befremdlich. Andererseits beschleicht einen dank mancher Wiedererkennungsmomente der Verdacht, dass es solche kleinen "Hofstaaten" dort, wo Mächtige ihre Gravitationskräfte spielen lassen, auch heute noch gibt – jedenfalls häufiger als es den demokratisch-teamfreudigen Anschein hat.
Den Machtmenschen stellt Martin Mosebach in seinen Romanen die leicht verkrachten Geisteswissenschaftler-Existenzen gegenüber; sie werden zu ihren Trabanten und arbeiten sich mit ihrer Nachdenklichkeit an ihnen ab. In "Krass" ist es der Kunsthistoriker Dr. Jüngel. Weil es ihm gerade an beruflicher Perspektive fehlt, heuert er bei Ralph Krass als Jüngelchen für alles an. Mit einer komödienhaften Beflissenheit organisiert er den Alltag des reisenden Krass-Clans in Neapel: Restaurantbesuche, Museumsvisiten, Bootsausflüge.

Sein Jüngelchen fürs Nötige

Jüngel kommt es auch zu, die faszinierende Lidewine Schoonemaker als neue Begleiterin von Krass zu engagieren. Lidewine ist eine aus Belgien gebürtige Lebenskünstlerin, die sich von Mann zu Mann hangelt. Zuletzt war sie Assistentin eines Zauberkünstlers. In einem Restaurant ist sie Krass ins Auge gefallen. Via Jüngel macht er ihr ein Angebot:
"Sie unterbreiten ihr folgenden Vorschlag. Sie zieht hier ins Hotel, in eine eigene Suite. Sie wird neu eingekleidet. Diese Bluse will ich nicht mehr sehen. Es wird keinesfalls Intimitäten zwischen ihr und mir geben; sie hat in dieser Hinsicht weder Erwartungen zu hegen, noch hat sie in dieser Richtung Initiativen zu ergreifen. Eine Bedingung: Sie unterhält während der Zeit unseres Zusammenseins keine andere intime Beziehung."
Eine der Hauptbeschäftigungen von Krass ist es, außergewöhnliche Immobilien als Rahmung für sein rahmensprengendes Leben zu finden. So gipfelt der erste Teil des Romans in der Besichtigung einer grandiosen Ruine, hoch gelegen über einer schroffen Felswand von Capri. Kurz danach kommt es zum Eklat: Die so eigensinnige wie lebensfreudige Lidewine verstößt gegen das Liebesverbot und nimmt sich einen Kellner zur Brust. Kurzentschlossen wird sie von Krass verbannt. Damit nimmt der Zerfall seines Kreises den Anfang.
Der Mittelteil des Buches besteht aus Jüngels Tagebuchaufzeichnungen. Ohne Geld und ausgebuht vom Leben hat er sich zum Wundenlecken in eine Einöde in der französischen Provinz zurückgezogen. Hier rekapituliert er seine gescheiterte Ehe, in der er eine jämmerliche Figur abgegeben hat, und beschreibt seine vergeblichen Versuche, noch einmal Gehör bei Herrn Krass zu finden, der ihn inzwischen ebenfalls verstoßen hat. Er freundet sich mit einem alten Klosterschuster an, und wie dieser schroffe Charakter ihm von seinem eigenen lebensprägenden Liebesunglück erzählt und mit Jüngel dann eine Sonntagsrundfahrt zu den von ihm heiß verehrten Schankwirtinnen der Umgebung unternimmt, die schließlich im Straßengraben endet – das ist fabelhafte Erzählkunst.

Auf den Luxusrausch folgt der Absturz

Der Roman ist freilich nicht auf einen gradlinigen Plot gebürstet. Er macht viele Umwege, die die Welt- und Menschenkenntnis erhöhen. Auf jeder Seite finden sich verblüffende Beobachtungen und augenöffnende Beschreibungen, obwohl der Roman doch andererseits so wirkt, als sei er an allen Weltwichtigkeiten gezielt vorbeigeschrieben. Bezeichnend dafür ist, dass in Jüngels Tagebuchaufzeichnungen, die vom Ende Oktober bis Anfang Dezember 1989 datieren, die Geschichtsbuchgeschehnisse jener Wochen – wie der Mauerfall – nicht mit einem einzigen Wort erwähnt werden. Stattdessen studiert Jüngel über mehrere Seiten zwei Wellensittiche. Wohl noch nie ist in der deutschen Literatur das Verhalten dieser Vögel so treffend geschildert worden. Harmlos ist das nicht, denn einer der Wellensittiche ist ein "Mörder", der seinem letzten Weibchen den Kopf zerhackt hat. Der hübsche Vogel ist Jüngel unheimlich. Auch sonst gibt es in diesem Roman wieder viele Mosebachsche Tier-Epiphanien: ein wütender Hahn, ein sterbender Hund, eine Bachstelze, die sich von ihrem Spiegelbild narren lässt und es aufs Umschlagsbild des Buches geschafft hat.
Fulminant ist der abschließende dritte Teil des Romans, der zwanzig Jahre später in Kairo spielt und Lidewine, Jüngel und Krass in einer aberwitzigen Dramaturgie des Zufalls wieder zusammenführt. Seit langem inspirieren Martin Mosebach nordafrikanische Schauplätze; sein letzter großer Roman "Mogador" spielte in Marokko.
Nach einem letzten geplatzten Deal mit einem ägyptischen General geht es nun steil bergab mit dem selbstherrlichen Geschäftsmann Krass. Komplett ruiniert und gesundheitlich schwer angeschlagen, hält das Leben aber noch eine Überraschung für den Alten bereit. Er wird quasi von der Straße weg adoptiert von dem jungen ägyptischen Rechtsanwalt Mohammed – eine kaum weniger wuchtige Gestalt als der Geschäftsmann selbst, mit einem narbigen, furchteinflößenden Gesicht. Aber gutmütig. Ganz ergeben spricht er Krass als "seinen Vater" an:
"Krass wurde bei diesen Worten endgültig klar, das Mohammeds Rede vom ‚Vater‘ inzwischen weit über die Höflichkeitsformel eines Jüngeren gegenüber dem Älteren hinausgewachsen war… Ralph Krass war jetzt sein Vater, wenn auch im Pass geschrieben stand, dass er der Sohn des Ameen, der Enkel des Mohammed und der Urenkel eines weiteren Ameen sei. Ralph Krass bemerkte mit Wohlgefallen, dass es ihm aufs Neue gelungen war, einen Menschen zu erobern."
Mohammed pflegt den "Vater" bis zu seinem Tod in einem trubeligen Armenkrankenhaus von Kairo. Death of a salesman. Rührung, Komik und Metaphysik gehen im Finale des Romans eine ungeahnte Mischung ein.

Mosebach macht lange Sätze, schweift gern ab

Mosebachs Sprache ist, ungeachtet manch liebevoll gepflegter Manierismen, ein subtiles Instrumentarium, das gerade widrige Eindrücke treffsicher vermittelt, etwa bei der Schilderung der wuchernden Stadtquartiere von Kairo – wenn auch in wohllautenden Formulierungen. Dass man der komplexen Welt in kurzatmigen Sätzen beikommen könne, daran glaubt dieser Autor allerdings nicht. Es bedarf schon einer gewissen Umständlichkeit und Schattierungskunst. Und auch wenn der Mosebach-Ton nach dem guten alten allwissenden Erzähler klingen mag, so schmiegt sich die Perspektive doch den Figuren an und richtet sich in ständigem Wechsel an ihrer Wahrnehmung aus. In dieser Erzählweise ist mehr Unruhe und Nervosität, als es oberflächlich scheint. "Krass" ist ein Meisterwerk, das Beschreibungskunst, komplex angelegte Charaktere, sorgfältige Motivarbeit und hintergründige Reflexion vereint – eine phantastische Lesereise, die man sofort buchen sollte.
Martin Mosebach: "Krass"
Rowohlt Verlag, Hamburg. 525 Seiten, 25 Euro.