Den Tadel eines mit Schmidt lange schon vertrauten Kritikers, der selber an einem Buch über den Hanseaten arbeitet, der Versuch von Rupps sei missglückt, hat der Verfasser in dieser Strenge nicht verdient. Schon zu Beginn sagt Rupps zutreffend:
Helmut Schmidt ist ein Politiker aus der Vergangenheit in der Gegenwart. Gälte Schmidt als Politrentner, der nur über seine aktive politische Zeit zu urteilen weiß, würde man ihm nicht immer wieder solche Foren der Meinungsäußerungen zugestehen.
Gemeint ist das Forum der Hamburger Wochenzeitung "DIE ZEIT", aber auch seriöse Fernseh-Programme wie Maischberger. Im Unterschied zu zahlreichen Politikern seiner Generation, aber auch jüngeren, meidet Schmidt konsequent jedwede Talkshow. Man weiß nicht, ob Gerhard Schröder die Artikel von Schmidt liest und sich durch den Älteren mitunter auch anregen lässt. Es könnte sein, denn jenes Strategiepapier, das Ende letzten Jahres die viel beschworenen "schmerzhaften Einschnitte" postuliert, enthält Gedanken, die Helmut Schmidt schon vor längerer Zeit entwickelt hat.
Wenn Martin Rupps die Persönlichkeitsstrukturen des nach schwerer Krankheit wieder genesenen ehemaligen Kanzlers zu beschreiben versucht, bemerkt der Leser eine gewisse Neigung des Verfassers zu Klischees. Ein Beispiel:
Die Haltung, die Schmidt gegenüber seinem Amt als Bundeskanzler einnimmt, ist sehr preußisch. Wie einst der Regent des preußischen Staates will er der erste Diener seines Volkes sein. Er will seine Pflicht tun, nicht mehr und nicht weniger. Kant lässt grüßen.
Das klingt etwas schnoddrig und ist nicht die ganze Wahrheit. Schmidt hat nämlich keinen Gefallen daran gefunden, dass ihn eine in Schablonen verliebte Journalistik als Preußen konterfeit hat, auch wenn es zutrifft, dass der kategorische Imperativ des Königsberger Philosophen für ihn eine ihn prägende Maxime gewesen ist und bleibt. Was man die preußischen Tugenden nennt, das sind genauso die Tugenden eines Hanseaten der alten Schule. Leitbilder für Schmidt waren nicht Könige, sondern Sozialdemokraten wie Max Brauer und Herbert Weichmann, die beiden großen Hamburger Bürgermeister. Ein Verdienst von Martin Rupps ist, dass er nicht das Zerrbild vom "Macher", vom bloßen Pragmatiker Schmidt übernimmt. Rupps zitiert Richard von Weizsäcker:
Helmut Schmidt hat geistig-politische Führung nachhaltig wahrgenommen, wenn auch in einer Art und Weise als wolle er sie abwehren.
Genauso ist es gewesen. Schmidt wollte den Deutschen nicht etwas "vor-philosophieren". Und eines seiner Lieblingsworte heißt: Berechenbarkeit". Rupps erläutert:
In den Meinungsumfragen steht Helmut Schmidt stets für Eigenschaften wie Entschlossenheit und Zuverlässigkeit. Seine Beliebtheit bis heute rührt daher, dass sich die Menschen bei ihm gut aufgehoben fühlen. Solange er regiert, würde die Bundesrepublik gut dastehen.
Es wird Helmut Schmidt eher amüsiert haben, dass er unlängst in einer Umfrage zu den weisen Deutschen unserer Zeit befördert worden ist. Weisheit hat der Hamburger niemals für sich in Anspruch genommen, aber ein an den Realitäten orientiertes Urteil.
Schmidt hat sich wiederholt als den "Leitenden Angestellten" der Republik vorgestellt. Das war - und Martin Rupps liefert dafür in seinem Buch genug Belege - eine sehr hamburgische Untertreibung, eine Spur von Koketterie. Geistige Führung gab Schmidt durch konkretes Handeln. Und in seinen zahlreichen Büchern hat er sich nicht nur als viel beachteter strategischer Denker, sondern auch als einer der wichtigen europäischen Vordenker zu legitimieren gewusst, der sich ursprünglich von dem Franzosen Jean Monnet inspirieren ließ.
Wenngleich er das Wort Vision nicht besonders schätzt, hat er durch sein Regierungshandeln das große Projekt eines nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch geeinten Europas vorwärts bewegen helfen. Siehe das gemeinsam mit Giscard D'Estaing bewerkstelligte Europäische Währungssystem. Autor Rupps resümiert:
Schmidts Ansehen stünde heute in noch höherem Ansehen, hätte er nicht mit Willy Brandt den charismatischen Gegentyp als Vorgänger gehabt.
Das ist schief - jedenfalls ein ungenaues Urteil. So einfach sind die beiden Sozialdemokraten nicht zu vergleichen. Ihre Beziehung war für den, der beide aus der Nähe beobachten konnte, viel komplexer als es meist dargestellt wird. Beide verdienen den Titel von Staatsmännern, wenngleich von sehr unterschiedlichem, ja gegensätzlichem Temperament. Martin Rupps hat eine solide Arbeit vorgelegt, nicht unkritisch, doch mit viel Sympathie für den Hanseaten. Die vielen Facetten des Menschen, auch des Musik- und Kunstfreundes Helmut Schmidt, jenseits seiner Politikerkarriere müssen noch ausgelotet werden. Wenn es so etwas wie eine endgültige Biografie herausragender Persönlichkeiten überhaupt gibt, dann muss auf die ganz in die Tiefe lotende, umfassende Lebensbeschreibung des fünften Kanzlers noch gewartet werden.