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Martin Schulz: Europa "wünscht sich sicher einen Sieg von Barack Obama"

Während die Europäer interessiert auf den Wahlkampf blicken, spielt Europa im US-Wahlkampf keine Rolle: "Wenn wir uns in unsere Einzelteile zerlegen, was wir bedauerlicherweise sehr oft tun, dann sind wir als Europäer irrelevant", kritisiert Martin Schulz (SPD), Präsident des EU-Parlaments.

Martin Schulz im Gespräch mit Sandra Schulz | 06.11.2012
    Sandra Schulz: Über die europäischen Erwartungen wollen wir in den kommenden Minuten sprechen. Am Telefon begrüße ich den Präsidenten des Europäischen Parlaments, den SPD-Politiker Martin Schulz. Guten Morgen!

    Martin Schulz: Guten Morgen, Frau Schulz.

    Sandra Schulz: Wie wichtig ist die Wahl für Europa?

    Martin Schulz: Ja, ich glaube, sie ist schon sehr wichtig, denn es ist eine Richtungsentscheidung. Das hat der Wahlkampf auch gezeigt. Es ist immer schwierig, die US-Präsidenten und auch die Parteien in den USA mit europäischen Maßstäben zu messen, weil sie doch sehr unterschiedlich sind. Aber in der Grundtendenz, glaube ich, ist es in Europa ähnlich, wie es gerade aus London berichtet wurde. Die überwiegende Mehrheit der Politikerinnen und Politiker, auch der Wählerinnen und Wähler, wünscht sich sicher einen Sieg von Barack Obama, weil er mit seiner ganzen Politik, auch mit der Sozialpolitik – denken Sie an die Krankenversicherungsdebatte – den europäischen Wertvorstellungen näher ist als Mitt Romney. Und hinter Mitt Romney steht ja auch ein Teil der sogenannten evangelikalen Wähler, der ultrareligiösen, vor denen man ja manchmal auch ein bisschen sich fürchten kann. Von daher glaube ich, dass die überwiegende Mehrzahl in den Hauptstädten und auch in Brüssel selbst darauf hofft, dass es eine zweite Amtszeit für Barack Obama gibt.

    Sandra Schulz: Dass das so ist, das haben Umfragen ja gezeigt. Aber was hatte Europa denn bisher von einem US-Präsidenten Barack Obama?

    Martin Schulz: Ich will noch mal darauf hinweisen, dass Barack Obama ja eine gigantische Erblast übernommen hat: eine enorme Staatsverschuldung, ein Land, das auf der internationalen Ebene auf vielen, vielen Kriegsschauplätzen engagiert war, in vielen Krisenregionen engagiert war. Und das Gefühl sich ja auch breitmachte, die Vereinigten Staaten von Amerika sind ein bisschen überfordert. Und Obama hat den Versuch unternommen, zu Beginn seiner Amtszeit etwas zurückzufahren, die Vereinigten Staaten von Amerika ein bisschen zurückzunehmen. Und er hatte ein großes Problem, auch in Europa, nämlich diese Heilserwartung, die mit ihm verbunden war, glaube ich, die war auch eine Last, die er zusätzlich übernommen hatte. Denn das stellte sich im Verlauf der Amtszeit heraus: Er konnte ja nicht alle Probleme sofort lösen.
    Und dazu kommt: Seine Vorstellungen von einer aktiven Wirtschaftspolitik, seine Vorstellungen davon, dass man den Schuldenberg nicht nur durch einseitige Haushaltskürzungen, sondern durch eine aktive Wachstumspolitik auf der anderen Seite bekämpfen muss, das ist doch sehr nahe bei den Vorstellungen, die auch eine ganze Reihe von Regierungen in Europa haben. Nicht alle! Im Bericht aus London wurde klar gemacht, dass die Ultrakonservativen dort, die es ja auch bei uns in Brüssel gibt, eine andere Vorstellung haben, eine Vorstellung "Privat statt Staat" als Ideologie. Das ist sicher näher bei Mitt Romney. Aber die Vorstellung, dass man Haushaltsdisziplin einerseits und aktive Wirtschaftspolitik durch A staatliche und B die privaten Investitionen, nachziehende staatliche Investitionen betreiben muss, ich glaube, das ist durchaus ein Konzept, das den Europäern näher ist.

    Sandra Schulz: Herr Schulz, ich würde den Spieß gerne einmal umdrehen. Wir schauen natürlich auf die Vereinigten Staaten. Aber umgekehrt hat Europa im US-Wahlkampf gar keine oder so gut wie gar keine Rolle gespielt. Wie erklären Sie sich das?

    Martin Schulz: Ich glaube, die internationale Politik hat in diesem Wahlkampf insgesamt eine geringe Rolle gespielt, ja auch die Frage des militärischen Engagements, die Nahostpolitik. Ich glaube, das tauchte im Wahlkampf so gut wie nicht auf. Wenn wir uns noch mal daran erinnern, wie heftig die Auseinandersetzungen doch zwischen Benjamin Netanjahu, dem israelischen Ministerpräsidenten, und Barack Obama im vergangenen Jahr waren, dann war man ja doch überrascht, dass am Ende jetzt die Nahostpolitik so gut wie überhaupt nicht aufgetaucht ist in diesem Wahlkampf. Insofern: Es ist keine Wahlauseinandersetzung gewesen, in der die Außenpolitik eine große Rolle gespielt hat. Das war doch sehr innenpolitisch, auch auf die Wirtschaftskrise, auf die hohe Arbeitslosigkeit, auf die hohe Staatsverschuldung, auf die Auseinandersetzung über die Haushaltssanierung konzentriert, der Wahlkampf in den USA. Insofern ist die Abwesenheit der Debatte über Europa nichts Spezifisches. Dennoch: Wir müssen ...

    Sandra Schulz: Aber, Herr Schulz, darf ich da kurz einhaken? Europa hat sich ja – und vielleicht können wir da noch mal auf die Ursachensuche gehen – tief gespalten gezeigt, beim letzten Gipfel zum Beispiel. Arbeiten wir da nicht vielleicht auch an unserer eigenen Bedeutungslosigkeit?

    Martin Schulz: Ja, ganz ohne Zweifel. Die Vereinigten Staaten von Amerika nehmen die Europäer dann ernst, wenn sie geschlossen und als starke Einheit auftreten, und das bezieht sich nicht nur auf die USA. Das Problem der Europäischen Union ist, dass sie nur als Gemeinschaft von 500 Millionen Menschen und 27 Staaten ernst genommen werden, die sich gemeinschaftliche Institutionen geben, um in der Welt zu bestehen. Nur dann werden sie ernst genommen. Wenn wir uns in unsere Einzelteile zerlegen, was wir bedauerlicherweise sehr oft tun, dann sind wir als Europäer irrelevant.
    Dazu kommt, dass man eine Sache nicht unterschätzen darf. Es war Barack Obama, der vor dem australischen Parlament diesen Satz gesagt hat: "Wir sind eine pazifische Nation." Das heißt, die Orientierung der Vereinigten Staaten in den Pazifik-Raum – und wenn Sie mal an den Hinweis Ihres Korrespondenten aus China denken, der für die Frage der engeren Kooperation der Vereinigten Staaten mit Japan oder mit den Philippinen, also dem pazifischen Engagement einen Hinweis gegeben hat, der in Peking zum Beispiel zu Befürchtungen führt -, da kann man sehen, dass das transatlantische Verhältnis nicht mehr an allererster Stelle steht in Washington. Und das hat sicher auch etwas damit zu tun, dass die Europäer sehr häufig nicht mehr handlungsfähig sind, weil sie innerlich so zerstritten sind, was eines unserer großen Probleme ist.

    Sandra Schulz: Der Präsident des Europäischen Parlaments, der SPD-Politiker Martin Schulz, hier heute in den "Informationen am Morgen". Haben Sie herzlichen Dank!

    Martin Schulz: Danke Ihnen, Frau Schulz.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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