Sonntag, 12. Mai 2024

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Martin Spiewak: Wie weit gehen wir für ein Kind? Im Labyrinth der Fortpflanzungsmedizin.

Deutschland erlebt einen heimlichen Boom, und zwar auf dem Markt der künstlichen Befruchtung. Schon heute wird jedes 80. Kind im Labor erzeugt. Für die wachsende Zeugungsunfähigkeit in den Industrieländern gibt es manche Ursache, auf jeden Fall ist die Fortpflanzungsmedizin eine entsprechend wachsende Branche. Da es sich naturgemäß um ein heikles, sehr persönliches Thema handelt, gibt es darüber kaum Literatur - von der rein wissenschaftlichen mal abgesehen -, jedenfalls keine, die die betroffenen Eltern brauchen. Martin Spiewak ist dieses Defizit angegangen, er legt einen Leitfaden in das Labyrinth der Fortpflanzungsmedizin vor. Stefan Rehder hat sein Buch rezensiert:

Stefan Rehder | 17.02.2003
    Ein Donnerstag im Dezember, der Raum im obersten Stock eines Altbaus in einer deutschen Großstadt füllt sich schnell. Bald sind die Stühle bis auf den letzten Platz besetzt. Noch schnell drängt sich ein Mann im Anzug und mit Aktentasche unter dem Arm zwischen die Reihen und setzt sich neben seine Frau. ‚Vor Weihnachten ist der Andrang besonders groß’, erklärt der Arzt später, ‚da kommen die Gefühle hoch.’ Der Arzt schaut auf die Uhr und gibt seiner Mitarbeiterin ein Zeichen. Das Licht verlöscht, und auf der Leinwand erscheint der Anlass der Zusammenkunft: ‚Informationsveranstaltung für Kinderwunschpaare’.

    So anschaulich, so packend wie zu Beginn der Einleitung liest sich das ganze Buch, mit dem Martin Spiewak, im Hauptberuf Redakteur im Wissenschaftsressort der Wochenzeitung ‚DIE ZEIT’, den ersten zusammenhängenden Überblick über das weite Feld der Fortpflanzungsmedizin in deutscher Sprache vorlegt. 20 Jahre nach der Geburt des ersten Deutschen mittels In-Vitro-Fertilisation erzeugten Kindes informiert Spiewak in seinem Buch "Wie weit gehen wir für ein Kind? Im Labyrinth der Fortpflanzungsmedizin" über den aktuellen Stand und die Möglichkeiten der Zukunft.

    In 13 Kapiteln behandelt der Autor alles wirklich Wissenswerte. Er informiert über die Ursachen ungewollter Kinderlosigkeit und schildert die Entstehungsgeschichte der künstlichen Befruchtung. Er beschreibt den Boom der In-Vitro-Fertilisation in Deutschland, berichtet, wie aus kleinen Uni-Instituten oftmals riesige Reproduktionskliniken wurden und erläutert, wie es auf dem Markt der Babymacher zugeht.

    Bereits heute wird jedes 80. Kind im Labor erzeugt, pilgern jährlich rund 40.000 Frauen in die rund 110 deutschen Reproduktionskliniken und -zentren. Zusammen teilen sich diese einen Jahresumsatz von rund 3oo Millionen Euro, der wiederum zum größten Teil von der Solidargemeinschaft über die Krankenkassenbeiträge bezahlt wird. Kinderlosigkeit gilt heute ebenso wie eine ungewollte Schwangerschaft als eine Krankheit, die künstliche Befruchtung wie die Abtreibung als eine Heilbehandlung. Damit nicht genug, klärt Spiewak auch über die alles andere als hohen Erfolgschancen künstlicher Befruchtungen sowie über das Risiko von Fehlgeburten und sogenannten Mehrlingsschwangerschaften auf. Das und vieles Weitere liefert dem Leser wichtige, oft verschwiegene Erkenntnisse über die Erfolgsaussichten künstlicher Befruchtungen an die Hand:

    Die Lebendgeburtrate (baby-take-home-rate) liegt bei rund 15 Prozent. Und wenn man jetzt noch all jene Fälle mit in die Rechnung nimmt, bei denen es am Anfang nicht zur Reifung von Eizellen gekommen ist, dann rutscht die Erfolgsquote in die Nähe der Zehn-Prozent-Marke. Der Schlussbericht der Enquète-Kommission des Deutschen Bundestages ‚Recht und Ethik in der modernen Medizin’ schätzt diese tatsächliche Erfolgsrate auf zwischen elf und 13 Prozent. Nur wenige medizinische Behandlungen sind so hochemotional und haben gleichzeitig eine so geringe Erfolgsquote wie die künstliche Befruchtung.

    Besonders wertvoll macht die überaus gelungene Mischung aus Reportage und Faktenwissen jedoch, dass der Autor in ihr ausführlich jene zu Wort kommen lässt, die in der Öffentlichkeit sonst nur wenig Gehör finden: die betroffenen Paare. Aus berufenem Munde erfährt der Leser so, wie es Kinderlosen ergeht, die sich einer künstlichen Befruchtung unterziehen. Er begleitet Frauen, die sich einer Hormonbehandlung unterziehen und erfährt, wie sie damit fertig werden, wenn ihnen die Babymacher die Mehrlinge - einen nach dem anderen - durch selektiven Fetozid wieder nehmen, damit das verbleibende Kind optimale Entwicklungschancen behält. Er wird Zeuge, wenn sich Ärzte in männlichen Hoden auf Spermiensuche machen und wie diese in den Kliniken gewonnen werden.

    Dank der einfühlsamen Schilderung des Autors wird der Leser bei all dem jedoch nie zum Voyeur, sondern zum verständnisvollen und oftmals mitleidenden Begleiter. So beginnt er zu verstehen, was Paare dazu bringt, für eine fremde Eizelle Fernreisen zu starten, oder im Ausland nach einer Leihmutter Ausschau zu halten oder warum Paare auch der fünften, sechsten oder gar siebten erfolglosen IVF-Prozedur, von denen jede rund 4.000 Euro kostet, weitermachen.

    Bei alldem vermeidet Spiewak den erhobenen Zeigefinger. Da nicht wenige Schilderungen dazu angetan sind, den Leser fassungslos zurückzulassen, wird sicher nicht jeder das Fehlen klarer Wertungen als echten Gewinn empfinden und sich bisweilen mehr als nur die Nennung bloßer Handlungsmaximen wie ‚Im Zweifelsfall gegen den Fortschritt’ wünschen. Freilich würde auch eine explizite Bewertung des Autors den Leser nicht von der selbst auferlegten Pflicht zur Durchdringung und Prüfung des Dargelegten dispensieren.

    Spiewak verlangt von seinen Lesern, dass sie das, was sie in seinem Buch erfahren, selbst in einen moralischen Kontext bringen. Wer diesen Ansatz akzeptiert, wird nicht umhin können, über das Augenmaß zu staunen, das der Autor dabei zu wahren versteht. So wenig, wie er sich etwa zum Interpreten christlicher Morallehre macht, die bekanntlich gegen die künstliche Befruchtung Grundsätzliches einzuwenden hat, so wenig wird er zum Agenten der Reproduktionsmediziner. Spiewak geht es einzig und allein um die Auf- hellung der Faktenlage. Ihre Bewertung überlässt er getrost dem Leser:

    Jeder, der sich in das Labyrinth der Fortpflanzungsmedizin begibt, sollte wissen, welche Wege und Umwege es gibt; wie die Chancen stehen, heil und belohnt wieder herauszufinden - und wie groß die Gefahren sind, sich darin zu verlieren. Wenn das Buch dazu beiträgt, hat es seinen Sinn erfüllt. Ganz nach dem Motto: ‘We are still confused, but on a higher level - Wir haben immer noch keine Lösung, wissen jetzt aber mehr.’

    Diesem Anspruch wird das Buch, das der Autor unter anderem all jenen gewidmet hat, die trotz Fortpflanzungsmedizin kinderlos geblieben sind, voll und ganz gerecht. Und mehr: Ein sorgfältig erarbeitetes Glossar, eine stattliche Literaturliste sowie eine Liste mit Internetadressen für weiterführende Informationen sorgen darüber hinaus dafür, dass selbst der unmäßige Wissensdurst des einen oder anderen Lesers schnell und nachhaltig gestillt werden kann.