Fabian Elsäßer: Am 2. April wäre er 80 Jahre alt geworden: Marvin Gaye, legendärer US-amerikanischer Soulsänger, bekannt für seine großen Liebeslied-Duette etwa mit Tammi Terrell – "Ain’t No Mountain High Enough" –, für anzügliche Brunftballaden wie "Sexual Healing" – aber auch als politisch engagierter, sozialkritischer Sänger, etwa auf dem Album "What’s Going On" aus dem Jahr 1971. Marvin Gaye wurde nur 44 Jahre alt, er wurde am 1. April 1984 nach einem Streit mit seinem Vater von diesem erschossen. Zum 80. Geburtstag erscheint jetzt ein neues Album von ihm, oder besser gesagt: ein Album, das es in dieser Form noch nicht gegeben hat, "You’re The Man". Jens Balzer hat es gehört. Was gibt es da Neues, das wir noch nicht kannten?
Wahlkampfhymne für den Kandidaten der Demokraten
Jens Balzer: "Wirkliche Neuheiten gibt es auf diesem Album nicht zu hören. Jeden Song darauf hat man irgendwo anders schon einmal veröffentlicht bekommen, aber zum größeren Teil an recht entlegenen Stellen, die außer den ganz harten Fans von Marvin Gaye oder von Motown im Allgemeinen dann vielleicht doch nicht nicht viele in der Sammlung haben. Auf Bonus-CDs von Luxuseditionen oder in voluminösen und teuren Boxsets. Also wer kein Marvin Gaye Komplettsammler ist, kann durchaus profitieren. Insbesondere der Zusammenhang, der hergestellt wird, ist neu. Das Album heißt "Your’re The Man" und so heißt auch eine Single von Marvin Gaye aus dem Jahr 1972 aus seiner, Sie hatten es schon erwähnt, politischen und sozialkritischen Phase, direkt nach "What's going on" von 1971. Die Single "You’re The Man" ist ein direkter Wahlkampfaufruf, und zwar für den damals antretenden demokratischen Präsidentschaftskandidaten George McGovern, der 1972 gegen Richard Nixon um das Amt kämpfte, wie man weiß erfolglos. Ein weißer Demokrat, der aber auf der Seite der Gegenkulturen stand, der sich für die Rechte der Schwarzen, der Frauen und Schwulen einsetzte und für die Beendigung des Vietnamkriegs, und dem wird hier von Marvin Gaye in typisch schwungvollem Falsett gehuldigt, unterstützt von einem vierstimmigen Chor, den er selber auch eingesungen hat.
Elsäßer: Das war ein Ausschnitt aus "You’re The Man" von Marvin Gaye von 1972, dem Titelstück eines gleichnamigen Albums, das damals dann aber nicht erschienen ist. Warum eigentlich?
Balzer: Marvin Gaye wollte damit an den enormen Erfolg von "What’s Going On?" anschließen, dem Album aus dem Jahr 1971, auf dem er sich mit politischen und sozialen Fragen beschäftigt und vor allem mit der Enttäuschung und Frustration der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, die sich nach der Aufbruchszeit Ende der Sechziger an der Wende zu den Siebzigern einstellte. Marvin Gaye wollte in dieser Richtung weitermachen, aber sein Labelboss, der Motown-Chef Berry Gordy, war dagegen. Der hatte vorher schon lieber leichte Liebeslieder hören wollen wie in den 60ern von Marvin Gaye, weil er glaubte, dass sich alles andere nicht verkauft. Bei "What’s Going On" wurde er eines besseren belehrt, aber "You’re The Man" blieb wiederum hinter den Erwartungen zurück, insbesondere beim weißen Publikum. Marvin Gaye hat damit den Sprung aus der afroamerikanischen Soulhörerschaft nicht geschafft."
Elsäßer: Haben Sie eine Idee, woran das gelegen habe könnte? Denn "You're The man" ist ja kein schlechter Song, auch ziemlich aufwändig gemacht.
Balzer: "Wie gesagt, beim schwarzen Publikum war er auch erfolgreich, aber ich könnte mir vorstellen, dass er, um ein Massenpublikum zu erreichen auch über diese Rassenschranken hinweg, dann vielleicht doch zu konkret war und zu zeitgebunden. Jedenfalls hat sich da dann kein weiterer Erfolg eingestellt.
Schwungvolle Soul-Nummern und Weihnachtsmelodien
Elsäßer: Dieses Album zur Single "You’re The Man" wurde also damals verworfen. Was für Songs sind uns alle entgangen?
Balzer: Uns ist zum entgangen eine schwungvolle Soul-Funk-Nummer namens "The World Is Rated X", die sich ähnlich wie "Mercy Mercy Me" auf der Vorgängerplatte schon mit der eskalierenden Umweltverschmutzung befasst: Der Zustand der Welt ist so schlimm, dass er x-rated ist, also für Kinder ungeeignet. " Oder auch "Where Are We Going", ein Stück, das ähnliche Themen aufwirft wie "What’s Going On", also die Desorientierung und die Verzweiflung Anfang der 70er. Die die Hoffnungen sind dahin, dass sich Rassismus und Diskriminierung bald überwinden lassen: wie machen wir weiter, wo gehen wir hin?
Insgesamt ist der Tonfall, der Sound auf diesen Songs aus dem Jahr 72 heiterer und lichter als auf dem ja doch sehr melancholisch gefärbten "What’s Going On", es gibt eine deutliche Latin-Note und, wie etwa in "Where Are We Going", eine Verbindung von Soul-Balladen und jazzartigen Motiven, mit Streichern, aber gerne auch mit Synthesizern und Drummachine. Und das ist damals, Anfang der 70er Jahre, ja noch wirklich neu, ebenso wie diese vielfach gelayerten Vokalpassagen, die wir schon auf der Single "You’re The Man" gehört haben, also: Marvin Gaye singt mit sich selber im Chor. Später wird dieses Genre dann mal "Quiet Storm" heißen, nach einer gleichnamigen Platte von Smokey Robinson aus dem Jahr 1975, aber erfunden hat es eigentlich Marvin Gaye.
Insgesamt ist der Tonfall, der Sound auf diesen Songs aus dem Jahr 72 heiterer und lichter als auf dem ja doch sehr melancholisch gefärbten "What’s Going On", es gibt eine deutliche Latin-Note und, wie etwa in "Where Are We Going", eine Verbindung von Soul-Balladen und jazzartigen Motiven, mit Streichern, aber gerne auch mit Synthesizern und Drummachine. Und das ist damals, Anfang der 70er Jahre, ja noch wirklich neu, ebenso wie diese vielfach gelayerten Vokalpassagen, die wir schon auf der Single "You’re The Man" gehört haben, also: Marvin Gaye singt mit sich selber im Chor. Später wird dieses Genre dann mal "Quiet Storm" heißen, nach einer gleichnamigen Platte von Smokey Robinson aus dem Jahr 1975, aber erfunden hat es eigentlich Marvin Gaye.
Elsäßer: Also kann man sagen, dass dieses Album auch ein bisschen die Verhältnisse zurechtrückt. Was mich etwas hat: wie kommen denn die Weihnachtslieder, die da auch noch drauf sind, auf das Album?
Balzer: Das ist gar nicht so überraschend, denn damals haben alle großen Künstler Weihnachtsplatten aufgenommen, insbesondere die Motown-Künstler. Das sind jetzt aber Songs, die mit Sicherheit nicht zu den Planungen für dieses "verlorene" Album gehörten, sondern von vornherein für solche Weihnachtskompilationen gedacht waren. Ich bin aber trotzdem sehr froh, dass die auf "You’re The Man" jetzt drauf sind, egal ob es thematisch passt oder nicht. Zum Beispiel diesem Stück, "Christmas in the City".
Demütigungen und sexuelle Gewalt gegen die junge Ehefrau
Elsäßer: "Christmas in the city" von Marvin Gaye, 1972 produziert, aber erst 20 Jahre dann auf einer Weihnachts-Motown-Platte zum ersten Mal veröffentlicht, und jetzt noch einmal auf "You're The man". Wenn Sie gerade erst eingeschaltet haben: Marvin Gaye haben Sie nicht gehört? Doch, haben Sie. Es ist zwar ein reines Instrumental, aber Marvin Gaye bedient da einen Moog-Synthesizer. Die Musik auf dem Album stammt also einer musikalischen Umbruchszeit. Aber, Jens Balzer, ich glaube auch in persönlicher Hinsicht. Wie hört man das auf dem Album?
Balzer: Es gibt einige Songs, die man als Trennungsballaden hören kann, zum Beispiel "I’m Gonna Give You Respect". Marvin Gaye hat sich damals von seiner Frau Anna Gordy getrennt wegen der damals 17-jährigen Janis Hunter, mit der er dann bis zum Jahr 1979 zusammengelebt hat, bis Janis Hunter nämlich mit ihren beiden gemeinsamen Kindern vor ihm geflohen ist. In ihrer Autobiografie "After the Dance", die im Jahr 2015 erschienen ist, hat sie von der sexuellen Gewalt berichtet, von der häuslichen Gewalt, von den Erniedrigungen, die Gaye ihr angetan hat. Er hat sie wohl zum Sex mit fremden Männern und zum Gruppensex gezwungen, weil er wollte, dass sie dadurch "schmutziger" wird, wie er sagte. Das ist eine verstörende Lektüre, und nicht umsonst ist vor den aktuellen Fällen von R. Kelly und Michael Jackson in den USA auch schon im Fall von Marvin Gaye immer mal wieder gefragt worden, ob man dessen Musik überhaupt noch hören darf, im Lichte dieser Enthüllungen. Das spielt bei diesem Album keine Rolle, interessanterweise auch in den Liner Notes nicht, obwohl deren Autor. Davon bin ich ein bisschen enttäuscht, gerade weil deren Autor, David Ritz, auch schon die Biografie von Janis Hunter mitverfasst hat.
Elsäßer: Das heißt, er müsste diese schmutzigen und wirklich unerfreulichen Details aus Marvin Gayes Leben kennen?
Balzer: Der ist ganz nah dran. Er hat auch eine Marvin Gaye - Biographie Anfang der 80er verfasst und übrigens sogar auch an einzelnen Songs von ihm mitgeschrieben, zum Beispiel an dem eingangs schon erwähnten "Sexual Healing". Er wird wohl seine Gründe haben, warum das in diesem Fall nicht noch einmal ausgebreitet wird.
Gewissensfrage für jeden einzelnen Hörer
Elsäßer: Die Frage möchte ich gerne aufgreifen, zumal wir sie neulich erst anlässlich der Michael Jackson - Ausstellung in Bonn hatten. Darf man oder sollte man solche Musik noch spielen? Darf man sie noch hören?
Balzer: Tja: dürfen, sollen. Ich bin ja grundsätzlich dagegen, irgendwas zu zensieren. Ich finde, das sollte jeder und jede für sich entscheiden, ob man dabei ein gutes Gefühl hat, das zu hören. Es ist in jedem Fall wichtig, darum bin ich auch von den Liner Notes enttäuscht, dass man beim Hören dieser Musik diese biografischen Details zumindest kennt und dass man wenigstens weiß, dass derselbe Mann, der Ende der 70er, Anfang der 80er diese schönen Schmuse- und Schmachtballaden singt, seine Frau sexuell gequält und misshandelt hat und sie 1979 in einem Eifersuchtsanfall mit einem Messer erstechen wollte. In dem schon erwähnten Song "I’m Gonna Give You Respect", da beteuert er in den Lyrics, nie wieder eifersüchtig sein zu wollen, weil er seine geliebte Frau dafür viel zu sehr respektiert – als autonome Persönlichkeit. Da kriegen Zeilen wie diese im Licht der späteren Biografie schon einen sehr eigenen Unterton.