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Marx und Mohammed miteinander verbinden

Eine neue islamische Bewegung entsteht, die in Istanbul, Ankara und zahlreichen anderen türkischen Städten kleine Ableger gebildet hat. Ihr Ziel: die herrschende Wirtschaftsordnung der Türkei hinterfragen, Marx und Mohammed miteinander verbinden - und die Regierung stürzen.

Von Luise Sammann |
    Wer regierungskritische Türken heute nach ihren Erfahrungen während der Demonstrationen vor fünf Monaten im Istanbuler Gezi-Park fragt, der hört Geschichten von einmaligem Zusammenhalt, von gegenseitigem Verständnis, Respekt und Toleranz. Ganz anders aber hat der türkische Ministerpräsident Erdogan die Situation wahrgenommen.

    "Sie haben die Dolmabahce-Moschee mit Schuhen betreten, dort Alkohol getrunken. Und nicht nur das. Sie attackieren meine verhüllten Mädchen, meine Kopftuch tragenden Schwestern!"

    Die Gezi-Demonstranten würden die Religion mit Füßen treten und die Gefühle ihrer gläubigen Landsleute missachten, erzählte der Ministerpräsident wochenlang im türkischen Fernsehen, um seine meist religiösen Anhänger noch fester an sich zu binden. Gezi als Kampf der Ungläubigen gegen die Gläubigen. Falsch, sagt der 29-jährige Sedat aus Istanbul und schüttelt genervt mit dem Kopf.

    "Wir sind damals mit Bannern in den Park gezogen, auf denen stand: Besitz kann nur Gott gehören. Oder: Alles Land gehört Gott. Wir haben die heiligen Nächte dort gemeinsam gefeiert, wir haben Freitagsgebete abgehalten und im Ramadan zum Fastenbrechen eingeladen."

    Tatsächlich stand Erdogan am Ende blamiert da. Kopftuch tragende Demonstrantinnen meldeten sich zu Wort, um das Gerücht von einer antireligiösen Stimmung im Gezi-Park zu widerlegen. Und der Imam der Moschee, in der angeblich Alkohol getrunken worden war, konnte sich auch nach sechsstündiger Befragung nicht an einen solchen Vorfall erinnern.

    Sedat und seine Freunde aber, die mit ihren religiösen Bannern und öffentlichen Freitagsgebeten zum Erfolg der Gezi-Bewegung beigetragen haben, sind seitdem im ganzen Land bekannt. Fast 35000 Türken folgen den Kommentaren und Aktionen der so genannten "Antikapitalistischen Muslime" auf Twitter.

    "Unsere Gruppe will die Wahrheit über die Regierenden und die Kapitalbesitzer herausschreien. Sie versuchen allesamt, den Islam auf den Kopf zu stellen. Wir kämpfen dafür, dass die Menschen sich wieder an den Kern unserer Religion erinnern."

    Özgür Kwanc gehört zu den Gründern der Bewegung, die inzwischen nicht nur in Istanbul und Ankaram, sondern auch in zahlreichen anderen türkischen Städten kleine Ableger geformt hat. Das Ziel hier wie dort: Marx und Mohammed miteinander verbinden.

    "Der Kapitalismus beherrscht alle Lebensbereiche: soziales Miteinander, Bildung, Recht, alles! Er ist nicht einfach ein Wirtschaftssystem, sondern eine Lebensart. Und weil er alles beherrscht, kann man sogar sagen, er ist selbst eine Art Religion. Damit muss er im Konflikt zum Islam stehen!"

    Zwei Mal in der Woche treffen sich die antikapitalistischen Muslime in einem Istanbuler Mietshaus, um über den ihrer Überzeugung nach antikapitalistischen Kern des Islam zu diskutieren, um weitere Protestaktionen im Gezi-Stil zu planen oder – wie an diesem Tag – um gemeinsam den Koran zu interpretieren.

    Keine bedächtigen Geistlichen mit Vollbart und Gebetskettchen sitzen da im Stuhlkreis, sondern junge Männer in Jeans und T-Shirts, manche mit langen Haaren, die eher an den marxistischen als an den muslimischen Ansatz der Gruppe erinnern. Es sind Studenten, Angestellte, Schichtarbeiter. Einige haben den aufgeschlagenen Koran vor sich liegen, andere lesen die Sure auf ihrem Handydisplay mit. Die islamische Bourgeoisie, die unter Erdogan in Windeseile zu Macht und Reichtum gekommen ist, ist ihnen zuwider.

    "Einer der wichtigsten Kritikpunkte innerhalb des Korans ist der, dass eine Klasse allen Reichtum der Welt in ihrer Hand hält und den Menschen damit einen bestimmten Lebensstandard aufzwingt, als wäre sie Gott. Im Koran heißt das ‚Shirk‘ und es ist die größte aller Sünden!"

    Özgür schnaubt. Auch er gehörte zu jenen, die voller Hoffnung für Erdogan stimmten, als der im Jahr 2002 zum ersten Mal mit seiner AK-Partei antrat. Wie Millionen andere hoffte er auf eine sozialere und auch religiös geprägte Politik. Inzwischen jedoch sind der Ministerpräsident und seine Predigten vom Wirtschaftsboom am Bosporus für Özgür zum Feindbild geworden. Seine Landsleute, die sich zwar heute Flachbildfernseher, Smartphone und Eigentumswohnungen leisten können, dafür aber auch die längsten Arbeitszeiten in ganz Europa haben und kaum Arbeitnehmerrechte besitzen, hält er für verblendet. Özgür erinnert das an die Zeiten des Propheten Mohammed.

    "Die Oligarchen, die damals Mekka beherrschten, hatten die Schlüssel zur heiligen Kaba, also eine Art Monopol auf die Religion. Und sie hatten das Kapital in ihren Händen. Heute ist es genauso: Das ganze Leben der Menschen hier, sowohl im ökonomischen als auch im religiösen Sinne, wird von den Regierenden kontrolliert und bestimmt."

    Wie dieses Leben auszusehen hat, das machen heute nicht nur immer neue, immer größere Moscheeprojekte deutlich. Sondern auch eine Rekordzahl an Shoppingmalls im ganzen Land – über 100 sind es allein in Istanbul. Auch die fortschreitende Umweltzerstörung, die Abholzung von Parks und Wäldern zugunsten von umstrittenen Mega-Projekten, lassen selbst ehemalige Erdogan-Anhänger am guten Willen der Regierung zweifeln.

    "Wenn sie sich selbst religiös nennen, dann wüsste ich gerne: Welche Religion soll das sein? Denn der Islam, den die AKP repräsentiert und der, den wir hier aus dem Koran und aus dem Leben des Propheten heraus verstehen und praktizieren, ist definitiv nicht derselbe."