"CHINESEN EROBERN HUNAN ZURÜCK und zwingen die Japaner, sich in südöstlicher Richtung bis Ling zurückzuziehen, während nordamerikanische Flugzeuge großkalibrige Bomben auf Linchwan abladen Durham Duplex-Klingen, die, die Sie für Ihren Bart immer gewünscht haben, halten für Sie bereit: Carlos und Rodolfo Cardenal, mit Filialen in Managua und Granada. VERZWEIFELTE SITUATION DER RUSSEN AN DER SÜDFRONT nach den Erfolgen der Deutschen, die nach erbitterten Kämpfen um jedes Haus die Einnahme von Voroshilovsk melden. HARTE SCHLACHT AM UFER DES DON, obwohl die sowjetischen Truppen alle Versuche der Nazis, den Fluß zu überqueren, mit großkalibrigem Artilleriefeuer zurückschlagen konnten Spirituosenhandel 'San Ramón' informiert seine geschätzte Kundschaft..."
Auf die Anzeige des Spirituosenhändlers folgt die Nachricht, daß auf einen der besten Köpfe seiner Zeit, den nordamerikanischen Intellektuellen Waldo Frank, in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires ein Attentat verübt wurde; ein antisemitischer Hintergrund wird nicht ausgeschlossen; wonach ein in den USA ausgebildeter Zahnarzt im nicaraguanischen Matagalpa sich und seine modernsten Behandlungsmethoden anpreist, und die nachfolgende Schlagzeile die Aufmerksamkeit auf einen Sensationsprozeß lenkt, der in eben dieser Stadt gerade zum Abschluß kam : "SCHÖNE DAME IN MATAGALPA VON SCHWURGERICHT FREIGESPROCHEN (per Telegraf von unserem Korrespondenten Tijerino)..."
Nach dem interessanten Bericht unseres Korrespondenten Tijerino - nachzulesen in "Maskentanz" Seite 8 -, kommen Gesellschaftsnachrichten, Vermischtes, Wirtschaft, Sport und Kultur an die Reihe; wobei letztere sich in der Rubrik "HEUTE IM KINO" erschöpft sowie in Anzeigen, die darauf schließen lassen, daß es in dem damals bereits von General Anastasio Somoza senior beherrschten Nicaragua an "Le dernier cri de la mode americaine" und, Damenhüte betreffend, an "El Chic Parisien" nicht fehlte. Die letzte Meldung - eine Kabelmeldung aus Europa informiert über die Hinrichtung einer holländischen Widerstandskämpferin in Amsterdam durch die deutschen Besatzungsbehörden. Den Textblock beschließt das Impressum, und jetzt endlich erfährt man, daß es "dein Großvater" - "dein Großvater Teófilo" - ist, der die in der Hauptstadt, in Managua, erscheinende Tageszeitung "LA NOTICIA" liest; und zwar die Ausgabe vom Mittwoch, dem 5. August 1942. Er liest im Gehen. Geht, die Lippen wie im Gebet bewegend und Bekannte zerstreut grüßend, die Hauptstraße entlang. Ist auf dem Heimweg vom Bahnhof, wo er sich jeden Tag, außer sonntags, die Zeitung direkt von dem aus Managua kommenden Zug abholt. Eine den Bewohnern der Ortschaft Masatepe vertraute Gestalt -
"...immer in grauen Drillich gekleidet, der Anzug von Juan Cubero, dem Schneider, maßgefertigt, Hose und Jacke aus demselben Stoff, die Jacke mit vier Taschen und am Hals zugeknöpft: so sieht Josef Stalin auf den Fotos aus, eine schlichte Mode, die nur er sich nachzuahmen traut; obwohl der Gerechtigkeit halber erklärt werden muß, daß er nicht den buschigen Schnauzbart Stalins trägt und sein nicht gerade volles Haar immer auf Nummer Null rasiert ist ... Er beantwortet die Grüße, ohne von seiner Lektüre aufzusehen ... indem er die Hand hebt ... ; und weil er beim Grüßen manchmal vergißt, daß er auf dieser gleichen Seite seinen Spazierstock mit dem Hundekopf unter die Achsel geklemmt trägt, fällt ihm der Stock herunter, weshalb er böse wird und stehenbleibt; dann sieht er sich nach allen Seiten um; und wenn ihm niemand zu Hilfe eilt - denn es gehört dein Großvater Teófilo zu denen, die meinen, alle Welt schulde ihnen Hilfe und besondere Rücksichtnahme -, dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich zu bücken und ihn selbst aufzuheben. Der Stock ist aus Guayacán-Holz, sehr hart und schwer zu drechseln, doch es gibt kein Holz, das zu schwierig wäre für seine geschickte Hand und seine pedalgetriebene Drehbank. Und den Hundekopf, den hat er selbst mit dem Messer geschnitzt, mit offenen Fängen, klugen Augen, aufgestellten Ohren und glatter Schnauze."
Don Teófilo Mercado, "dein Großvater Teófilo", - man erfährt es en passant, tröpfchenweise und in dieser Reihenfolge -, ist auf einem Ohr taub; dafür auf dem anderen um so hellhöriger. Er ist ein eingefleischter Protestant, Begründer der Ersten Baptistischen Kirche von Masatepe; außerdem Besitzer einer Drogerie, die zugleich Apotheke, Eisenwarenhandlung und Benzinverkaufsstelle ist. Ein Mann von beinahe schon erbarmungsloser Prinzipienstrenge, dabei in vielem unkonventionell, rebellisch, fortschrittlich. Seine Tochter Luisa, zum Beispiel, ist die erste Frau mit Abitur im Ort. Don Teófilo Mercado ist darüber hinaus unter anderem der Großvater seines Enkels Sergio Ramirez Mercado, des Autors also, der an diesem 5. August 1942, an dem in Masatepe ein Kostümfest gefeiert wird, sehnsüchtig erwartet und am Ende des Romans, kurz vor Mitternacht, geboren werden wird.
Sergio Ramírez Mercado, als Politiker ebenso bekannt wie als Schriftsteller, gründete bereits als Jurastudent literarische Zeitschriften und Verlage; war ab 1969 Generalsekretär der Mittelamerikanischen Rektorenkonferenz und lebte in den Jahren 1973 bis 75 als Stipendlat des Künstlerprogramms des DAAD, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, in Berlin; eine Zeit, die in seinem literarischen Oeuvre, auch im "Maskentanz", sichtbare Spuren hinterließ. Als Repräsentant des Widerstands gegen die Somoza-Diktatur, jetzt der des Sohnes vom ersten Somoza, war Ramirez Initiator der "Gruppe der Zwölf"; einem Zusammenschluß von Intellektuellen und Künstlern, dem neben anderen der Jesuitenpater Fernando Cardenal und sein in Deutschland sehr bekannter Bruder, der Dichter-Priester Ernesto Cardenal, angehörten.
Nach dem Sieg der Sandinistischen Revolution, 1979, wurde Ramirez in die fünfköpfige Regierungsjunta berufen; war anschließend, von 1984 bis 1990, Vizepräsident seines Landes; danach vier Jahre Sprecher der sandinistischen Opposition im Parlament. 1995 ließen ihn unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten insbesondere mit dem früheren sandinistischen Präsidenten, Daniel Ortega, eine eigene Partei gründen, die "Bewegung für die sandinistische Erneuerung", die allerdings bei den letzten Wahlen wenig erfolgreich war.
Seine literarischen Arbeiten betreffend, läßt sich das Gegenteil konstatieren: Ramirez' jüngster Roman wurde vor wenigen Monaten in Madrid, im Manuskript, mit dem erstmals vergebenen, hochdotierten Alfaguara-Literaturpreis ausgezeichnet. Er wird, dem Vernehmen nach, mit -"Margarita, das Meer ist schön" -, eine Verszeile des weltberühmten, 1916 gestorbenen nicaraguanischen Dichters Rubén Darío als Titel tragen und die Geschichte von Darios Liebe zu eben jener Margarita erzählen, die später den Begründer der Somoza-Despotie, General Anastasio Somoza senior, zum Ehemann wählte.
In deutschen Übersetzungen liegen bislang eine Biographie Sandinos, einige Erzählungen sowie drei Romane vor; "Maskentanz" eingeschlossen. - Mit "Baile de máscaras", dieser 1997 im Original in Mexiko edierten schöpferischen Rekreation seiner Familienangehörigen und des Ortes seiner Geburt, ist Sergio Ramírez Mercado ein bestechendes literarisches Meisterwerk gelungen. Es wurde von Lutz Kliche kongenial ins Deutsche übertragen. Die Druckfehler, fast schon Markenzeichen von Ramirez' deutschem Verlag, halten sich in Grenzen und sind nicht sinnentstellend. Zu wünschen wäre lediglich ein Verzeichnis der dramatis personae gewesen angesichts der Vielzahl von Gestalten, die die Familien Mercado und Ramírez bevölkern. Ganz zu schweigen von dem Reigen der zumeist recht exzentrischen Nebenpersonen, deren Spitznamen erklärt werden und deren Lebensgeschichten man erfährt. Diesen Reigen eröffnet Inocencio "Niemand", der Zeitungsausträger, da ihn "dein Großvater Teófilo" als ersten, bereits auf dem Bahnhof beim Ausladen der Zeitungen aus Managua antrifft.
"...Inocencio 'Niemand' (ist ein) Albino, der von Kopf bis Fuß in Milch gebadet zu sein scheint - Haar, Schnauzbart, Wimpern, Brauen wie aus Kalk -, und der in der Nacht leuchten kann wie eine weißbrennende Fackel. Und wenn man ihn im Ort so geringschätzig 'Niemand' nennt, dann deshalb, weil ihm diesen Namen Pedro, der Kaufmann, gegeben hat, der vom Verkaufstisch des Ladens in seinem Haus am Kirchplatz aus für alle Welt Spitznamen erfindet: ganz einfach 'Niemand', denn vor lauter Weiß scheint Inocencio 'Niemand' gar nicht zu existieren."
Obgleich der Autor vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen scheint - wie sich denken läßt, sind es nicht gerade wenige Bewohner Masatepes, die deinem zeitunglesenden Großvater Teófilo auf der Hauptstraße begegnen -, zeichnet diesen Roman bei genauerer Betrachtung eine beeindruckend strenge, bis in die feinsten Nuancen durchgearbeitete Kompositionsstruktur aus. Das erste Kapitel, zum Beispiel, der Familie Mercado gewidmet, enthält trotzdem bereits den ganzen Roman im Kern. Sogar das "Orchester Ramírez" tritt auf, dessen Mitglieder die Protagonisten des zweiten Kapitels sind. Denn zum einen heiratet "deine Tante Adelfa", heiratet unter großen Komplikationen, wie sich herausstellt, am Morgen dieses 5. August 1942. Und zum anderen wird "dein Großvater Lisandro", der Komponist ist und Dirigent, für eine fast zeitgleich stattfindende Beerdigung angefordert. Mitglieder seines Orchesters sind unter anderen:"dein Onkel Edelmiro", der Cellist, "dein Onkel Alejandro", der Flötist, "dein Onkel Eulogio", der Geiger, sowie "dein Onkel Eulalio", der erst vierzehn ist und die Klarinette spielt. Gestorben ist die im Indio-Viertel Masatepes wohnende, verrufene alte Kräuterfrau.
"...Doppelt hat heute dein Großvater Lisandro mit den Musikern seines Orchesters Ramírez zu tun, ein Maskenball am Abend, und jetzt eine Gala-Beerdigung mit allem Drum und Dran und Trauermärschen den ganzen Weg über, so wie es die drei Hexenschwestern gewollt und bezahlt haben, um ihrer Hexenmutter, Docleciana Putoya, ein letztes, lautes Lebwohl zu schenken, bei dem auch die Feuerwerksraketen nicht fehlen, die an jeder Straßenecke abgebrannt werden."
Als ein Beispiel für das mittels der Erzählstrukturen geschaffene poetische Gleichgewicht des Romans mag der Hinweis dienen, daß am Ende des ersten Kapitels "deine Großmutter Luisa" das Haus verläßt, um dieselbe Hauptstraße hinaufzugehen, die "dein Großvater Teófilo" zu Beginn des Kapitels herabkam. Bewegung und Gegenbewegung, während der - aufgrund dieses Gleichgewichts - die Gestalt der Großmutter stark anrührt und sich bildhaft ins Gedächnis prägt. Sie macht sich auf den Weg zu ihrer hochschwangeren Tochter Luisa; will auch Pedro, dem Kaufmann, ihrem Schwiegersohn, im Laden aushelfen. Und es versteht sich von selbst, daß ihr nun kaum weniger, nur andere Einwohner Masatepes begegnen als ihrem Mann.
"...Grüß Gott, Doña Luisa, hört man die Grüße tief aus den Häusern heraus durch Stuben und Veranden, aus den blumenbewachsenen Gärten, baumbestandenen Höfen und rauchgeschwärzten Küchen, und auch von den Türen aus, wohin mehr als einer, die Säge in der Hand, und mehr als eine mit der Bratpfanne, die sie gerade vom Herd genommen hat, hinaustritt, um sie vorbeigehen zu sehen, denn daß deine Großmutter Luisa auf der Straße vorbeikommt, das ist schon eine gewisse Neuigkeit. Und von ihrem weit geöffneten Fenster aus ruft auch, doch leicht verweint, Aurora Cabestrán, wobei ihr das wallende, schwarze Haar durchs Fenster bis auf den Gehsteig quillt: Grüß Gott, Doña Luisa, der Herrgott möge Sie begleiten..."
"Maskentanz": "Geschichten, die ich mir erzähle", um den Titel einer Erzählung des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar zu zitieren. Das Zwiegespräch des Autors mit sich selbst; dem Kind in sich, vielleicht; dem vor der Geburt stehenden Kind, das er gewesen sein könnte; die reizvolle Du-Form, die unterschwellig den Leser mit anspricht und gefühlsmäßig in die Familie und das Geschehen einbindet. Eine Tragikomödie. Ein hintersinniges, hintergründiges Buch. Es kommt leichtfüßig und fröhlich daher. Sergio Ramírez zieht alle Register seiner Ironie und seines vielbewunderten Humors, der sich bis zur irrwitzigen Groteske steigern kann - im "Maskentanz" ohne daß der Haß, der Ekel spürbar würde, der in früheren Werken mitschwang. Der Eindruck allerdings, ein reines Divertimento vor sich zu haben, liegt weniger in den Inhalten als in Sprachton und Erzählatmosphäre begründet. Ramirez' Lachen ist eine Widerstandskraft. Ist das Lachen allem zum Trotz.
Darauf, daß diese Erzählung im Kern eine Tragödie ist, deutet der Autor bereits durch die dem Text vorangestellten drei Motti hin. Das mittlere, auf eine Geburt weisende, wird eingerahmt von Worten Elliots und aus Verdis Oper "Maskenball", die den Blick auf die Vergeblichkeit menschlichen Strebens lenken - und auf den Tod. Das Geburtsmotto stammt von Rubbén Darío. Es lautet:
"Komm' lieber spät zu diesem Schmerz, zu dem du kommst, in diese Schreckenswelt voll Leid und voll Entsetzen..."
Tatsächlich häufen sich Unglück, Schmerz,Todesfälle und Katastrophen am Abend dieses 5. August 1942. Schließlich findet nicht einmal mehr der Maskenball statt, zu dem der Tuchmacher jedes Jahr einlädt, um den Geburtstag seiner Frau zu feiern: "Chronik eines angekündigten Todes": Des Tuchmachers Bruder - Spitzname "Salzsäure" -, begeht Selbstmord aus Gehässigkeit; um den andern das Fest zu verderben. Und wie es sich spätestens seit der Existenz des genannten weltberühmten Romans von Gabríel Garcia Márquez gehört, war er zuvor, den Nachmittag über, mit der Ankündigung seines Vorhabens durch Masatepe gezogen.
In "Maskentanz", einem Buch, dem gar nicht genug Leser gewünscht werden können, sind unzählige, die literarische Substanz nährende Hommagen verborgen. Angefangen bei Ramirez' Hommage an seine zwei Mitstreiter in der erwähnten Widerstands-"Gruppe der Zwölf". Gleich zu Beginn, im ersten Reklametext, in dem die Brüder Cardenal Rasierklingen anpreisen.
Auf die Anzeige des Spirituosenhändlers folgt die Nachricht, daß auf einen der besten Köpfe seiner Zeit, den nordamerikanischen Intellektuellen Waldo Frank, in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires ein Attentat verübt wurde; ein antisemitischer Hintergrund wird nicht ausgeschlossen; wonach ein in den USA ausgebildeter Zahnarzt im nicaraguanischen Matagalpa sich und seine modernsten Behandlungsmethoden anpreist, und die nachfolgende Schlagzeile die Aufmerksamkeit auf einen Sensationsprozeß lenkt, der in eben dieser Stadt gerade zum Abschluß kam : "SCHÖNE DAME IN MATAGALPA VON SCHWURGERICHT FREIGESPROCHEN (per Telegraf von unserem Korrespondenten Tijerino)..."
Nach dem interessanten Bericht unseres Korrespondenten Tijerino - nachzulesen in "Maskentanz" Seite 8 -, kommen Gesellschaftsnachrichten, Vermischtes, Wirtschaft, Sport und Kultur an die Reihe; wobei letztere sich in der Rubrik "HEUTE IM KINO" erschöpft sowie in Anzeigen, die darauf schließen lassen, daß es in dem damals bereits von General Anastasio Somoza senior beherrschten Nicaragua an "Le dernier cri de la mode americaine" und, Damenhüte betreffend, an "El Chic Parisien" nicht fehlte. Die letzte Meldung - eine Kabelmeldung aus Europa informiert über die Hinrichtung einer holländischen Widerstandskämpferin in Amsterdam durch die deutschen Besatzungsbehörden. Den Textblock beschließt das Impressum, und jetzt endlich erfährt man, daß es "dein Großvater" - "dein Großvater Teófilo" - ist, der die in der Hauptstadt, in Managua, erscheinende Tageszeitung "LA NOTICIA" liest; und zwar die Ausgabe vom Mittwoch, dem 5. August 1942. Er liest im Gehen. Geht, die Lippen wie im Gebet bewegend und Bekannte zerstreut grüßend, die Hauptstraße entlang. Ist auf dem Heimweg vom Bahnhof, wo er sich jeden Tag, außer sonntags, die Zeitung direkt von dem aus Managua kommenden Zug abholt. Eine den Bewohnern der Ortschaft Masatepe vertraute Gestalt -
"...immer in grauen Drillich gekleidet, der Anzug von Juan Cubero, dem Schneider, maßgefertigt, Hose und Jacke aus demselben Stoff, die Jacke mit vier Taschen und am Hals zugeknöpft: so sieht Josef Stalin auf den Fotos aus, eine schlichte Mode, die nur er sich nachzuahmen traut; obwohl der Gerechtigkeit halber erklärt werden muß, daß er nicht den buschigen Schnauzbart Stalins trägt und sein nicht gerade volles Haar immer auf Nummer Null rasiert ist ... Er beantwortet die Grüße, ohne von seiner Lektüre aufzusehen ... indem er die Hand hebt ... ; und weil er beim Grüßen manchmal vergißt, daß er auf dieser gleichen Seite seinen Spazierstock mit dem Hundekopf unter die Achsel geklemmt trägt, fällt ihm der Stock herunter, weshalb er böse wird und stehenbleibt; dann sieht er sich nach allen Seiten um; und wenn ihm niemand zu Hilfe eilt - denn es gehört dein Großvater Teófilo zu denen, die meinen, alle Welt schulde ihnen Hilfe und besondere Rücksichtnahme -, dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich zu bücken und ihn selbst aufzuheben. Der Stock ist aus Guayacán-Holz, sehr hart und schwer zu drechseln, doch es gibt kein Holz, das zu schwierig wäre für seine geschickte Hand und seine pedalgetriebene Drehbank. Und den Hundekopf, den hat er selbst mit dem Messer geschnitzt, mit offenen Fängen, klugen Augen, aufgestellten Ohren und glatter Schnauze."
Don Teófilo Mercado, "dein Großvater Teófilo", - man erfährt es en passant, tröpfchenweise und in dieser Reihenfolge -, ist auf einem Ohr taub; dafür auf dem anderen um so hellhöriger. Er ist ein eingefleischter Protestant, Begründer der Ersten Baptistischen Kirche von Masatepe; außerdem Besitzer einer Drogerie, die zugleich Apotheke, Eisenwarenhandlung und Benzinverkaufsstelle ist. Ein Mann von beinahe schon erbarmungsloser Prinzipienstrenge, dabei in vielem unkonventionell, rebellisch, fortschrittlich. Seine Tochter Luisa, zum Beispiel, ist die erste Frau mit Abitur im Ort. Don Teófilo Mercado ist darüber hinaus unter anderem der Großvater seines Enkels Sergio Ramirez Mercado, des Autors also, der an diesem 5. August 1942, an dem in Masatepe ein Kostümfest gefeiert wird, sehnsüchtig erwartet und am Ende des Romans, kurz vor Mitternacht, geboren werden wird.
Sergio Ramírez Mercado, als Politiker ebenso bekannt wie als Schriftsteller, gründete bereits als Jurastudent literarische Zeitschriften und Verlage; war ab 1969 Generalsekretär der Mittelamerikanischen Rektorenkonferenz und lebte in den Jahren 1973 bis 75 als Stipendlat des Künstlerprogramms des DAAD, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, in Berlin; eine Zeit, die in seinem literarischen Oeuvre, auch im "Maskentanz", sichtbare Spuren hinterließ. Als Repräsentant des Widerstands gegen die Somoza-Diktatur, jetzt der des Sohnes vom ersten Somoza, war Ramirez Initiator der "Gruppe der Zwölf"; einem Zusammenschluß von Intellektuellen und Künstlern, dem neben anderen der Jesuitenpater Fernando Cardenal und sein in Deutschland sehr bekannter Bruder, der Dichter-Priester Ernesto Cardenal, angehörten.
Nach dem Sieg der Sandinistischen Revolution, 1979, wurde Ramirez in die fünfköpfige Regierungsjunta berufen; war anschließend, von 1984 bis 1990, Vizepräsident seines Landes; danach vier Jahre Sprecher der sandinistischen Opposition im Parlament. 1995 ließen ihn unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten insbesondere mit dem früheren sandinistischen Präsidenten, Daniel Ortega, eine eigene Partei gründen, die "Bewegung für die sandinistische Erneuerung", die allerdings bei den letzten Wahlen wenig erfolgreich war.
Seine literarischen Arbeiten betreffend, läßt sich das Gegenteil konstatieren: Ramirez' jüngster Roman wurde vor wenigen Monaten in Madrid, im Manuskript, mit dem erstmals vergebenen, hochdotierten Alfaguara-Literaturpreis ausgezeichnet. Er wird, dem Vernehmen nach, mit -"Margarita, das Meer ist schön" -, eine Verszeile des weltberühmten, 1916 gestorbenen nicaraguanischen Dichters Rubén Darío als Titel tragen und die Geschichte von Darios Liebe zu eben jener Margarita erzählen, die später den Begründer der Somoza-Despotie, General Anastasio Somoza senior, zum Ehemann wählte.
In deutschen Übersetzungen liegen bislang eine Biographie Sandinos, einige Erzählungen sowie drei Romane vor; "Maskentanz" eingeschlossen. - Mit "Baile de máscaras", dieser 1997 im Original in Mexiko edierten schöpferischen Rekreation seiner Familienangehörigen und des Ortes seiner Geburt, ist Sergio Ramírez Mercado ein bestechendes literarisches Meisterwerk gelungen. Es wurde von Lutz Kliche kongenial ins Deutsche übertragen. Die Druckfehler, fast schon Markenzeichen von Ramirez' deutschem Verlag, halten sich in Grenzen und sind nicht sinnentstellend. Zu wünschen wäre lediglich ein Verzeichnis der dramatis personae gewesen angesichts der Vielzahl von Gestalten, die die Familien Mercado und Ramírez bevölkern. Ganz zu schweigen von dem Reigen der zumeist recht exzentrischen Nebenpersonen, deren Spitznamen erklärt werden und deren Lebensgeschichten man erfährt. Diesen Reigen eröffnet Inocencio "Niemand", der Zeitungsausträger, da ihn "dein Großvater Teófilo" als ersten, bereits auf dem Bahnhof beim Ausladen der Zeitungen aus Managua antrifft.
"...Inocencio 'Niemand' (ist ein) Albino, der von Kopf bis Fuß in Milch gebadet zu sein scheint - Haar, Schnauzbart, Wimpern, Brauen wie aus Kalk -, und der in der Nacht leuchten kann wie eine weißbrennende Fackel. Und wenn man ihn im Ort so geringschätzig 'Niemand' nennt, dann deshalb, weil ihm diesen Namen Pedro, der Kaufmann, gegeben hat, der vom Verkaufstisch des Ladens in seinem Haus am Kirchplatz aus für alle Welt Spitznamen erfindet: ganz einfach 'Niemand', denn vor lauter Weiß scheint Inocencio 'Niemand' gar nicht zu existieren."
Obgleich der Autor vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen scheint - wie sich denken läßt, sind es nicht gerade wenige Bewohner Masatepes, die deinem zeitunglesenden Großvater Teófilo auf der Hauptstraße begegnen -, zeichnet diesen Roman bei genauerer Betrachtung eine beeindruckend strenge, bis in die feinsten Nuancen durchgearbeitete Kompositionsstruktur aus. Das erste Kapitel, zum Beispiel, der Familie Mercado gewidmet, enthält trotzdem bereits den ganzen Roman im Kern. Sogar das "Orchester Ramírez" tritt auf, dessen Mitglieder die Protagonisten des zweiten Kapitels sind. Denn zum einen heiratet "deine Tante Adelfa", heiratet unter großen Komplikationen, wie sich herausstellt, am Morgen dieses 5. August 1942. Und zum anderen wird "dein Großvater Lisandro", der Komponist ist und Dirigent, für eine fast zeitgleich stattfindende Beerdigung angefordert. Mitglieder seines Orchesters sind unter anderen:"dein Onkel Edelmiro", der Cellist, "dein Onkel Alejandro", der Flötist, "dein Onkel Eulogio", der Geiger, sowie "dein Onkel Eulalio", der erst vierzehn ist und die Klarinette spielt. Gestorben ist die im Indio-Viertel Masatepes wohnende, verrufene alte Kräuterfrau.
"...Doppelt hat heute dein Großvater Lisandro mit den Musikern seines Orchesters Ramírez zu tun, ein Maskenball am Abend, und jetzt eine Gala-Beerdigung mit allem Drum und Dran und Trauermärschen den ganzen Weg über, so wie es die drei Hexenschwestern gewollt und bezahlt haben, um ihrer Hexenmutter, Docleciana Putoya, ein letztes, lautes Lebwohl zu schenken, bei dem auch die Feuerwerksraketen nicht fehlen, die an jeder Straßenecke abgebrannt werden."
Als ein Beispiel für das mittels der Erzählstrukturen geschaffene poetische Gleichgewicht des Romans mag der Hinweis dienen, daß am Ende des ersten Kapitels "deine Großmutter Luisa" das Haus verläßt, um dieselbe Hauptstraße hinaufzugehen, die "dein Großvater Teófilo" zu Beginn des Kapitels herabkam. Bewegung und Gegenbewegung, während der - aufgrund dieses Gleichgewichts - die Gestalt der Großmutter stark anrührt und sich bildhaft ins Gedächnis prägt. Sie macht sich auf den Weg zu ihrer hochschwangeren Tochter Luisa; will auch Pedro, dem Kaufmann, ihrem Schwiegersohn, im Laden aushelfen. Und es versteht sich von selbst, daß ihr nun kaum weniger, nur andere Einwohner Masatepes begegnen als ihrem Mann.
"...Grüß Gott, Doña Luisa, hört man die Grüße tief aus den Häusern heraus durch Stuben und Veranden, aus den blumenbewachsenen Gärten, baumbestandenen Höfen und rauchgeschwärzten Küchen, und auch von den Türen aus, wohin mehr als einer, die Säge in der Hand, und mehr als eine mit der Bratpfanne, die sie gerade vom Herd genommen hat, hinaustritt, um sie vorbeigehen zu sehen, denn daß deine Großmutter Luisa auf der Straße vorbeikommt, das ist schon eine gewisse Neuigkeit. Und von ihrem weit geöffneten Fenster aus ruft auch, doch leicht verweint, Aurora Cabestrán, wobei ihr das wallende, schwarze Haar durchs Fenster bis auf den Gehsteig quillt: Grüß Gott, Doña Luisa, der Herrgott möge Sie begleiten..."
"Maskentanz": "Geschichten, die ich mir erzähle", um den Titel einer Erzählung des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar zu zitieren. Das Zwiegespräch des Autors mit sich selbst; dem Kind in sich, vielleicht; dem vor der Geburt stehenden Kind, das er gewesen sein könnte; die reizvolle Du-Form, die unterschwellig den Leser mit anspricht und gefühlsmäßig in die Familie und das Geschehen einbindet. Eine Tragikomödie. Ein hintersinniges, hintergründiges Buch. Es kommt leichtfüßig und fröhlich daher. Sergio Ramírez zieht alle Register seiner Ironie und seines vielbewunderten Humors, der sich bis zur irrwitzigen Groteske steigern kann - im "Maskentanz" ohne daß der Haß, der Ekel spürbar würde, der in früheren Werken mitschwang. Der Eindruck allerdings, ein reines Divertimento vor sich zu haben, liegt weniger in den Inhalten als in Sprachton und Erzählatmosphäre begründet. Ramirez' Lachen ist eine Widerstandskraft. Ist das Lachen allem zum Trotz.
Darauf, daß diese Erzählung im Kern eine Tragödie ist, deutet der Autor bereits durch die dem Text vorangestellten drei Motti hin. Das mittlere, auf eine Geburt weisende, wird eingerahmt von Worten Elliots und aus Verdis Oper "Maskenball", die den Blick auf die Vergeblichkeit menschlichen Strebens lenken - und auf den Tod. Das Geburtsmotto stammt von Rubbén Darío. Es lautet:
"Komm' lieber spät zu diesem Schmerz, zu dem du kommst, in diese Schreckenswelt voll Leid und voll Entsetzen..."
Tatsächlich häufen sich Unglück, Schmerz,Todesfälle und Katastrophen am Abend dieses 5. August 1942. Schließlich findet nicht einmal mehr der Maskenball statt, zu dem der Tuchmacher jedes Jahr einlädt, um den Geburtstag seiner Frau zu feiern: "Chronik eines angekündigten Todes": Des Tuchmachers Bruder - Spitzname "Salzsäure" -, begeht Selbstmord aus Gehässigkeit; um den andern das Fest zu verderben. Und wie es sich spätestens seit der Existenz des genannten weltberühmten Romans von Gabríel Garcia Márquez gehört, war er zuvor, den Nachmittag über, mit der Ankündigung seines Vorhabens durch Masatepe gezogen.
In "Maskentanz", einem Buch, dem gar nicht genug Leser gewünscht werden können, sind unzählige, die literarische Substanz nährende Hommagen verborgen. Angefangen bei Ramirez' Hommage an seine zwei Mitstreiter in der erwähnten Widerstands-"Gruppe der Zwölf". Gleich zu Beginn, im ersten Reklametext, in dem die Brüder Cardenal Rasierklingen anpreisen.