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Massaker in Mali
Viele Tote und viele Gerüchte

Erneut gab es im westafrikanischen Mali ein Massaker. Die Konflikte zwischen den Volksgruppen eskalieren. Frauen, Kinder und Greise sind die Opfer. Es kursieren viele Vermutungen, wer jeweils hinter den Anschlägen stecken könnte. Die Regierung warnt vor Racheakten und ruft nach UN-Blauhelmen.

Von Bettina Rühl | 15.06.2019
Der Opfer des Massakers von Ogossagou wird in Bamako, Mali, am 26.03.2019 gedacht.
Der Opfer des Massakers von Ogossagou wird in Bamako, Mali, am 26.03.2019 gedacht. (imago images / Le Pictorium)
Kinder spielen zwischen Schafen und Kühen, am Rande von Strohlagern und Futtertrögen haben Menschen notdürftige Hütten errichtet. Dutzende Vertriebene haben auf dem Viehmarkt der malischen Hauptstadt Bamako Zuflucht gesucht. Sie flohen vor Überfällen auf ihre Dörfer im Zentrum von Mali. Diejenigen, die auf dem Viehmarkt untergekommen sind, gehören alle zum Volk der Dogon. Mahamad Guindo ist der Chef des Dorfes Yara, es liegt in der Nähe der Stadt Bankass. Vor gut zwei Monaten hätten Islamisten sein Dorf zum ersten Mal angegriffen.
"Sie hatten moderne Kriegswaffen dabei. Die Leute wurden panisch und ergriffen die Flucht. Die Islamisten haben alle zurückgerufen und gesagt: "Ihr braucht keine Angst vor uns zu haben, wir sind nicht gekommen um euch zu töten, sondern um mit euch über den wahren Islam zu sprechen." Aber dann haben sie uns auch noch erklärt, dass sie in unserem Dorf eine Basis errichten wollten und wir Yara deshalb verlassen müssten."
Ultimatum für die Dorfbewohner
Ein paar Tage später seien die Islamisten wiedergekommen. Sie hätten den Bewohnern des Dorfes ein Ultimatum gestellt:
"Sie haben gesagt: 'Bis morgen früh um drei Uhr müsst ihr das Dorf verlassen haben. Andernfalls werdet ihr schon sehen.' Wir konnten unser Dorf so kurzfristig nicht räumen, aber die meisten Bewohner sind in Nachbardörfer geflohen. Wir haben auch alle unsere Tiere in Sicherheit gebracht. Um fünf Uhr morgens sind die Islamisten zurückgekommen. Sie haben überall herumgeschossen, mit Sprengsätzen und Kalaschnikows, mit Granatwerfern. Im Dorf waren nur sieben Menschen zurückgeblieben, die haben sie alle getötet. Und sie haben das Dorf in Brand gesetzt."
Und dabei auch die Getreidespeicher und alle Lebensmittelvorräte verbrannt. Guillaume Ngefa leitet die Menschenrechtsabteilung der UN-Mission für Mali.
"Fast jeden zweiten Tag finden Angriffe statt. Mal zwei oder drei, mal einer am Tag. Mit Toten oder ohne. Aber selbst wenn die Angreifer unbeteiligte Zivilisten verletzen, ohne sie zu töten, ist das ein schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte."
Die UN-Menschenrechtsabteilung ermittelt immer wieder nach Massakern und Übergriffen. Als Täter gelten Selbstverteidigungsgruppen der jeweiligen Volksgruppen und Bewaffnete in Uniformen. Das seien allerdings keine Soldaten der malischen Armee, sagt Guillaume Ngefa. Es gebe in der Region mittlerweile etliche bewaffnete Gruppen, die teils militärisch organisiert seien. Wer dahinter steckt, kann auch Ngefa nicht mit Sicherheit sagen: bewaffnete Islamisten, kriminelle Gruppen oder ausländische Söldner?
Dorfchef Mahamad Guindo allerdings glaubt zu wissen, worum es bei dem Angriff auf sein Dorf ging:
"Beim ersten Mal waren die Islamisten alleine. Beim zweiten Mal kamen sie zusammen mit Fulani aus den Nachbardörfern, die wir alle kannten. Sie haben früher unsere Tiere gehütet. Unsere Nachbarn waren zahlenmäßig mehr als die Islamisten, die uns fremd waren. Das waren auch Fulani, aber aus einer anderen Gegend."
Religion als Vorwand?
Womöglich handelte es sich um Mitglieder der islamistischen Katiba Macina. Die Gruppe wurde 2015 von dem charismatischen, aber radikalen Prediger Amadou Koufa gegründet, einem Fulani. Denkbar ist aber auch, dass sich die Fremden nur als Islamisten ausgaben, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen.
"Als wir unsere Fulani-Nachbarn gesehen haben wurde uns klar, dass die Religion, von der die Islamisten beim ersten Mal sprachen, nur ein Vorwand war. In Wirklichkeit geht es um unser Land, es ist sehr gutes Weideland. Die Fulani denken offenbar, dass sie uns nur vertreiben müssten, um Weideflächen für ihre Tiere zu kriegen. Unsere Nachbarn haben sich deshalb organisiert, um uns zu vertreiben."
Das mag der Grund sein, oder auch nicht. Auf jeden Fall hat das Miteinander früher beiden Seiten genutzt, wie auch Mahamad Guindo weiß:
"Die Fulani sind Nomaden. In der Regenzeit ziehen sie mit den Tieren weiter, um sie anderswo weiden zu lassen. Nach der Ernte kommen sie zurück und lassen die Herden auf unseren abgeernteten Feldern fressen. Der Dung der Tiere düngt den Boden. So haben wir immer zusammen gelebt."
Klimawandel heizt Konflikte an
Von diesem Zusammenleben berichtet auch Abdoul Aziz Diallo. Er ist Präsident der Fulani-Kulturorganisation Tabital Pulaaku.
"Die Konflikte finden in einer Region statt, in der die Menschen schon früher Probleme miteinander hatten, es geht um die natürlichen Ressourcen: Um Ackerflächen, Wälder, Weideland, den Fischfang. Bevor die Folgen des Klimawandels spürbar wurden, hatten die Menschen einen Modus entwickelt, in dem sie einträglich miteinander leben konnten."
Ihre Grundstruktur haben die Ethnien bis heute behalten: Sie sind in gewisser Weise wie Berufsverbände: die einen sind Bauern, die anderen Hirten oder Fischer. Wenn es Probleme gab, wurden sie früher von den Ältesten gelöst. Die aber haben heute kaum noch Einfluss, und der moderne Staat, der nun die Justiz stellen müsste, bleibt diese Aufgabe schuldig. Im Zentrum von Mali, in der Region Mopti, spielt der mächtige Niger-Fluss eine wichtige Rolle: früher stieg er jährlich über die Ufer, der Schlamm düngte die Felder.
"Das Hochwasser war die Zeit der Fischer. Wenn das Wasser wieder fiel, fanden die Hirten ideale Weideflächen für ihre Tiere. Wenn das Wasser noch weiter abgelaufen war, fingen die Bauern an, ihre Felder zu bestellen. Die Menschen nutzten das Ökosystem also in einem Rotationsprinzip. Jeder hatte Arbeit, sie lebten in Frieden und ergänzten einander. Das gibt es nicht mehr. Der Niger tritt nicht mehr über die Ufer. Außerdem ist die Bevölkerung stark gewachsen."
Die Ressourcen sind also noch knapper als früher. Das sei aber nur ein Faktor, meint Diallo, ein emeritierter Professor der Sozialwissenschaft. Er ist davon überzeugt, dass interessierte Gruppen den Hass zwischen den Volksgruppen schüren, um Mali zu destabilisieren. Und um sich dann im allgemeinen Chaos an Rohstoffen wie Gold oder Erdöl bereichern zu können. Wer diese Hintermänner sein könnten, sagt er nicht. Eine vielleicht gewagte Hypothese. Mit seinem Fazit hat Diallo allerdings Recht.
"Die Kernprobleme sind das Desinteresse des Staates, die Korruption. Deshalb werden die Probleme, die den Konflikten zugrunde liegen, nie abschließend gelöst. Höchstens oberflächlich kaschiert."
Ein paar gezielte Provokationen und Morde hätten deshalb gereicht, um den gegenwärtigen Zyklus der Vergeltung in Gang zu setzen.