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Massenarbeitslosigkeit in Ägypten

Mindestens zwei Millionen Jugendliche und junge Erwachsene sind in Ägypten arbeitslos, Tendenz steigend. Arbeitsagenturen und Beratungsstrukturen sind unbekannt. Die Industrie sucht händeringend Arbeitskräfte, doch für arbeitslose Akademiker gelten solche Jobs wegen des geringen gesellschaftlichen Ansehens als Tabu.

Von Verena Kemna | 25.06.2012
    Minar Meher, ein junger Kopte, 23 Jahre alt, hat an einer staatlichen Universität in Kairo Germanistik studiert. Er hat schon in der Schule Deutsch gelernt und vor drei Jahren sein Studium mit einem Bachelor abgeschlossen. Seitdem ist er auf der Suche. Wie viele junge Akademiker in Ägypten verdient er Geld mit Gelegenheitsjobs ohne Perspektive auf eine berufliche Karriere.

    "Ich wollte irgendeinen Job, der etwas mit der deutschen Sprache zu tun hat. Entweder die deutsche Sprache unterrichten oder in einer deutschen Institution arbeiten. Man kann hier qualifiziert sein und gut ausgebildet, und trotzdem gibt es keinen guten Job. Darunter leiden viele junge Leute in Ägypten."

    Bisher war keine seiner Bewerbungen erfolgreich. Minar Meher ist froh, dass er seit einigen Monaten als Kundenberater bei einer privaten Telefongesellschaft arbeiten kann. Er verdient etwa 300 Euro im Monat, zu wenig, um eine eigene Wohnung zu finanzieren oder gar eine Familie zu gründen. Der 23-Jährige wohnt bei seinen Eltern. Dort hat er gerade mal ein Bett zum Schlafen. Viele junge Ägypter wandern aus, doch Minhar Meher will bleiben.

    "Ich bin soweit zufrieden mit meinem Job, aber ich suche, falls ich etwas Besseres finde. Ich möchte mich auch entwickeln. Wenn ich was Besseres finde, werde ich wechseln. Das Hauptproblem ist die Arbeit, wenn es keine Arbeit gibt, gibt es keine Wohnung, kein Leben. Ich habe keine andere Wahl, ich muss mein Leben aushalten und die schwierigen Situationen ertragen."
    Hilfe bei der Karriereplanung, eine Beratung oder gar sinnvolle Weiterbildungsprogramme gibt es für ihn nicht. So bleibt, wie bei den meisten Akademikern, auch seine berufliche Laufbahn dem Zufall überlassen. Eine Zusatzausbildung als Facharbeiter nach dem Studium kommt für Minar Meher nicht infrage. Es wäre in seinen Augen ein sozialer Abstieg. Dabei bieten etwa Industrie- und Automobilkonzerne durchaus Karrieremöglichkeiten mit Perspektive. Doch in der ägyptischen Gesellschaft steht der akademische Rang über allem erklärt Hildegard Vogelmann. Sie betreut Arbeitsmarktprojekte für die deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit in Kairo.

    "Das Thema kulturelle Barriere ist eines der größten Probleme im ägyptischen Arbeitsmarkt. Mehr als 80 Prozent der Abgänger aus technischen Berufen streben einen Hochschulabschluss an. Eigentlich bräuchte man 80 Prozent Facharbeiter und 20 Prozent Akademiker. Die Ausbildungsquoten zeigen genau das gegenteilige Bild. Nämlich 20 Prozent Abgänger aus Ausbildungsbereichen, die für den Arbeitsmarkt wichtig wären, und eine Akademikerschwemme, die sich mit 80 Prozent bemerkbar macht und die auf dem Arbeitsmarkt keinen Platz findet."

    Der sogenannte National Employment Pakt soll Abhilfe schaffen. NEP ist eine Initiative vor allem von deutschen und ägyptischen Firmen, die dringend Arbeitskräfte suchen. Das Beratungszentrum in der Innenstadt von Kairo gilt als Novum.

    In einer Wohnung in einem Hochhaus sitzen Heba Hassan und Jasmin Ali. Die beiden Frauen aus Kairo sind durch das NEP-Programm der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit als Berufsberaterinnen ausgebildet worden. Seit einem Jahr vermitteln sie meist ungelernte Arbeiter vor allem an ägyptische Firmen. Diese müssen Mindestvoraussetzungen erfüllen, etwa einen Arbeitsvertrag mit festgelegtem Mindestlohn plus Versicherung. Genau so einen Job sucht Achmed Hassan, 21 Jahre alt. Der junge Mann trägt eine blaue Trainingshose und T-Shirt, er hat bisher ohne jede Absicherung beim Wachschutz gearbeitet. Jasmin Ali fragt ihn nach Schulabschluss und Vorlieben. Beide einigen sich darauf, dass Achmed sich als Arbeiter bei einer Geflügelfarm am Stadtrand vorstellen soll. Ob er am Ende wirklich dort arbeiten wird, ist ungewiss, meint Kristin Steinmetz. Sie betreut das Projekt der Arbeitsvermittlung vor Ort.

    "Das Schwierigste ist wirklich das Grundgehalt. 700 Pfund pro Monat ist das niedrigste, was wir akzeptieren. Bei der Registrierung hier, sagen auch viele, dass sie das machen wollen, aber im Endeffekt lehnen sie es dann doch ab, weil die Leute, die hiervon erfahren, haben meistens einen Job und suchen einfach einen besseren."

    Das niedrige Einstiegsgehalt von gerade einmal 100 Euro pro Monat schreckt viele ab. Dabei bietet ein fester Arbeitsvertrag mit Sozialversicherung durchaus Aufstiegschancen. So organisieren Firmen interne Schulungen und stocken den Mindestlohn auf, wenn die Qualifikation passt. Doch berufliche Karriereplanung mit langfristiger Perspektive ist sowohl bei Akademikern als auch bei ungelernten Arbeitern ein Fremdwort. Dazu kommt, dass die Arbeit in einer Fabrik oft mit stundenlangen Anfahrtswegen verbunden ist. Dabei ist das Potenzial auf dem ägyptischen Arbeitsmarkt riesig. Allein beim NEP-Projekt sind Zehntausende freie Stellen registriert. Da ist das einzige Beratungszentrum in Kairo nicht mehr als ein erster Schritt.