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Massendemonstrationen gegen die Regierung

Der Libanon steckt in einer politischen Krise. Seit Freitag findet in der Innenstadt von Beirut ein riesiges Sit-In statt. Mit dieser Open-End-Demonstration wollen die Hisbollah und ihre Verbündeten auf die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit drängen.

Von Anne Françoise Weber |
    "Grün, gelb, orange - wir wollen den Fall der Regierung." Mit diesem Spruch zeigten die Demonstranten am Freitag Nachmittag in der Innenstadt von Beirut, wie viele allesamt pro-syrische Strömungen sich hier zusammen gefunden haben: Grün für die schiitische Partei Amal und die maronitisch-christliche Bewegung Marada, gelb für die Hisbollah und orange für die Bewegung der Freien Patrioten des Generals Michel Aoun.

    "Diese Regierung ist nicht für den ganzen Libanon, sondern nur für einen Teil; wir wollen eine Regierung, die alle Libanesen vereint. Wir hoffen, dass Premierminister Siniora unsere Forderung hört und wir unser Ziel erreichen."

    Amsha Midlij ist mit ihren Nachbarn zur Demonstration eigens aus der zwei Autostunden entfernten Bekaa-Ebene gekommen. Über ihr Kopftuch hat sie eine Libanonfahne gebunden; ein Parteiabzeichen trägt sie nicht - genau wie es der Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, gewünscht hatte.

    Andere halten sich weniger daran. Jad Abi Khalil und seine Freunde sind durch ihre orangefarbene Kleidung und Fahnen weithin als Anhänger von General Michel Aoun erkennbar. Jad trägt auch noch eine politische Parole auf dem T-Shirt: "Vorwärts zu Reformen - und lass die Korruption hinter Dir."

    "Das Geld des Staates, der Bevölkerung ist verschwunden - wohin? Sie sollen die Akten öffnen und zeigen, wo es gelandet ist. Wenn die Opposition in die Regierung kommt, wird sie die Akten öffnen und sehen, wer Fehler gemacht hat. Mit den anderen Mitgliedern der jetzigen Regierung können wir zusammen arbeiten."

    Wie viele Libanesen ist Jad von der Integrität der Hisbollah überzeugt. Er würde sogar Verbündeter der Schiiten-Partei bleiben, wenn sein Parteiführer Aoun das vor anderthalb Jahren geschlossene Bündnis wieder auflösen würde.
    Der Ruf, nicht korrupt zu sein, ist aber nicht das einzige, was die Leute zur Hisbollah bringt, erklärt Ali Haidar. Er ist mitsamt Ehefrau und drei Kindern aus einem Dorf an der israelischen Grenze gekommen.

    "Die Leute hier haben Stolz und Würde. Und Hisbollah wahrt ihren Stolz, ihre Würde und ihre Einheit - und verteidigt sie.""

    Von der Regierung fühlt sich der 48-Jährige dagegen verraten. Nie habe sie sich um den Südlibanon gekümmert; Israel habe seine Truppen von dort im Jahr 2000 nur abgezogen, weil es so starken Widerstand von der Hisbollah erfahren habe.

    Während des Krieges im letzten Sommer habe sich die Regierung sogar mit Israel gegen die Hisbollah verbündet, meint Ali Haidar. Wie so viele will er im Stadtzentrum von Beirut bleiben, bis eine Regierung der nationalen Einheit gebildet ist. Seine Mitstreiterin Amsha Midlij findet es ebenfalls nicht verwunderlich, dass so viele Menschen dem Ruf der Hisbollah gefolgt sind:

    "Die Hisbollah liebt den Libanon und ist der Bevölkerung gern zu Diensten. Deswegen liebt die Bevölkerung die Hisbollah. Sie hilft viel, im sozialen Bereich, im Agrarsektor, mit Stiftungen und so weiter. Die Hisbollah hilft den Leuten und gibt ihnen das Gefühl, einfach Libanesen zu sein."

    Es reicht, in die schiitische Vorstadt Beiruts zu gehen, um zu merken, wie häufig die Hisbollah die Rolle staatlicher Stellen übernimmt.

    Zum Beispiel im Leben von Umm Hisham. Sie betreibt mit ihrer Familie im Viertel Haret Hreik einen winzigen Laden, in dem sie Trinkwasser in großen Kanistern verkauft. Der Laden blieb im Krieg fast unversehrt, aber ihre Wohnung hat Umm Hisham verloren - sie wartet bis heute auf staatliche Unterstützung.

    "So viele Hilfslieferungen sind in den Libanon gekommen, noch immer haben wir nichts erhalten. Die Hisbollah hat uns Geld gegeben, damit wir eine Wohnung mieten und ein paar Möbel kaufen. Aber das reicht natürlich nicht. Eigentlich wäre das Aufgabe der Regierung. Aber noch ist nichts passiert."

    Umm Hisham glaubt nicht, dass sie auf die Regierung Siniora zählen kann. Auf dem schwarzen Wassertank hinter ihr prangt ein Poster von Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah. Auf die Frage, ob sie denn in ihn Vertrauen habe, sagt Umm Hisham lachend: "Natürlich!"

    In der schiitischen Vorstadt, direkt an der großen Strasse zum Flughafen, liegt auch das Hisbollah-Krankenhaus Al-Rasul Al-Azm. Die Moschee mit der großen blaugrünen Kuppel im Vorhof zeigt, dass es sich hier um ein besonderes Krankenhaus handelt. Naima Qassir, die gerade einen Angehörigen eingeliefert hat, ist das sehr wichtig:

    "Die Behandlung ist sehr gut, weil es ein islamisches Krankenhaus ist. Und im Islam respektiert man die Menschen und die Kranken."

    Naima kam mit ihrer Familie eigens aus dem Südlibanon - in ein nicht islamisches Krankenhaus wären sie gar nicht gegangen. Doch längst nicht alle, die hier auf die Gesundheitsdienste der Hisbollah zurückgreifen, sehen das so. Auf die Frage, ob sie das Krankenhaus für die Herzoperation ihrer Tochter nach seiner politisch-religiösen Ausrichtung gewählt hat, antwortet Fatma Scha'er:

    "Nein, nein, nein. Lass uns die Politik von der Krankenpflege trennen. Meine Tochter sagt mir, dass es ihr hier sehr gut geht, mit dem Arzt, dem Krankenhaus und den Krankenschwestern. Sobald sie nach ihnen klingelt, kommen sie; Gott sei dank."

    Ganz ähnlich lautet das Urteil von Yumna Chahine, deren Ehemann in der Intensivstation von Al-Rasul Al-Azm im Koma liegt. Die pensionierte Oberschwester meint, dass er nirgends besser aufgehoben sein könnte:

    "Ein besseres Krankenhaus kann es gar nicht geben. Exzellente Pflege, es ist sauber, sie bewegen den Kranken, saugen ihn ab, überwachen ihn ständig, machen die Untersuchungen schnell, wirklich sehr gut - und es gibt soviel Respekt. Man hört keinen Lärm, und wenn viel los ist, sagen sie dir ganz höflich, dass kein Bett frei ist und du warten musst - sie helfen dir."

    Auch Christen lassen sich hier behandeln, weiß Yumna Chahine, die mit Politik nichts zu tun haben will. Zum gerade laufenden Sitzstreik kommt sie nicht in die Innenstadt, sondern bittet Gott, dass er allen Libanesen in dieser schwierigen Krise helfen möge.

    Ali Haidar, der bis zur Lösung der Krise am Märtyrerplatz im Zentrum von Beirut ausharren will, findet, dass die Krankenhäuser und anderen Einrichtungen der Hisbollah im Grunde keine Besonderheit sind:

    "Das haben alle Organisationen hier, der Future-Block von Saad Hariri hat Krankenhäuser und Schulen, die Bewegung der Freien Patrioten auch - so ist unser System hier im Libanon, alle Bewegungen und Parteien hier haben solche Einrichtungen, alle."

    Gerade weil sie in vielen Lebensbereichen Hilfestellung leisten, haben fast alle libanesischen Parteien so zahlreiche Anhänger, die bereitwillig auf die Strasse gehen und den Namen ihres Anführers rufen - der von Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah erklingt dieser Tage in Beirut besonders oft.