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Massenprotest in Hongkong
Eine Millionenstadt demonstriert

Seit fast drei Monaten protestieren Menschen in Hongkong für Freiheit und Demokratie. Ob Studentin, Rentner oder Banker – ihnen allen geht es längst nicht mehr nur um das geplante Auslieferungsgesetz mit China, sondern auch um die Unabhängigkeit ihrer Stadt.

Von Steffen Wurzel | 03.08.2019
Das Bild zeigt tausende Demonstranten bei einer Anti-Regierungs-Demostration in HongKong am 07. Juli. Inmitten der Menschenmenge sieht man ein Transparent mit der Aufschrift "Hong Kong Independence"
Tausende demonstrieren in Hongkong gegen ein geplantes Auslieferungsgesetz mit China und gegen die Polizeigewalt (Geovien Sox / imago)
"Auf geht’s, Hongkonger!" rufen die Demonstranten im Chater Garden im Hongkonger Stadtteil Central. Und: "Weitermachen!"
Einige tausend Demonstranten haben sich in dem kleinen Park versammelt. Er liegt unmittelbar im Hongkonger Finanzviertel, im Schatten riesiger Hochhäuser. Nur 100 Meter entfernt steht etwa der Bank-of-China-Turm: Der knapp 370 Meter hohe Wolkenkratzer ist mit seiner aus dreieckigen Elementen bestehenden Glas- und Stahl-Fassade eines der bekanntesten Wahrzeichen der Finanzmetropole.
Die Proteste bleiben weitgehend friedlich
Es sind viel mehr Protestierende gekommen, als in den Park hinein passen. Deswegen haben sich viele auf die Straßen, Gehwege und in die Eingangsbereiche der umstehenden Hochhäuser gestellt. Autos, Busse und Straßenbahnen kommen stundenlang nicht durch.
Trotzdem bleibt es entspannt und friedlich, es herrschst eine fast schön fröhliche Stimmung. Abends jedoch kommt es nur einen Kilometer weiter westlich zu Straßenschlachten zwischen einigen radikalen Protestierenden und der Polizei.
"Wir gehen seit Anfang Juni auf die Straßen," sagt Protest-Teilnehmerin Pamela. Sie ist 33 Jahre alt und mit einigen Freundinnen zur Demo gekommen. "Wir erleben, wie unsere neue Kolonialmacht China immer stärker Kontrolle ausübt auf Hongkong. Und deswegen nutzen wir hier die Gelegenheit und protestieren hier auch für Demokratie und gegen die autoritären Machthaber."
Von Studierenden bis Geschäftsleuten gehen alle auf die Straße
Tatsächlich haben sich die Ziele der Demonstranten in den vergangenen Wochen geändert, beziehungsweise ausgeweitet. Als es Anfang Juni los ging mit den Protestaktionen gingen die Menschen vor allem wegen eines geplanten neuen Auslieferungsgesetzes auf die Straßen. Dieses Gesetz hätte es den Hongkonger Behörden möglich gemacht, Verdächtige auch nach Festlandchina auszuliefern. Dort herrscht – anders als im autonom regierten Hongkong – keine Rechtsstaatlichkeit.
Deswegen hat die theoretische Aussicht, aus fadenscheinigen Gründen von Hongkong über die Grenze nach Festlandchina abgeschoben werden zu können, vielen Menschen Angst gemacht: Studenten, Geschäftsleute, Angestellte des öffentlichen Dienstes, Selbstständige - aus allen Bereichen der Hongkonger Gesellschaft kam Widerstand.
Und tatsächlich: Am 9. Juli erklärte die Peking-treue Regierungschefin Carrie Lam das Gesetzesvorhaben für tot.
"Es geht uns um die Polizei-Brutalität"
Doch das genügt den Demonstranten nicht mehr, erklärt die 33-jährige Pamela: "Wir wollen, dass die Regierung das China-Auslieferungsgesetz vollständig zurückzieht. Und es geht uns um die Polizei-Brutalität. Wir erleben seit einigen Wochen, dass die Polizei immer gewaltsamer vorgeht gegen Demonstranten. Dazu muss es eine unabhängige Untersuchung geben."
Es sind nicht nur junge Hongkonger, die sich an den Massendemos beteiligen. Dieser Rentner zum Beispiel ist mit seiner Frau gekommen und steht neben einer klickenden Fußgängerampel am Straßenrand.
Erinnerungen an die Vergangenheit
Seinen Namen und sein genaues Alter möchte er lieber nicht nennen, sagt er. Schließlich sei das hier inzwischen ein "Weißer-Terror"-Staat. Der Rentner bezieht sich damit auf Vorgänge in Taiwan. Nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er-Jahre wurden dort Tausende Regierungskritiker unterdrückt und verfolgt - Asien-Historiker sprechen von einer Epoche des "Weißen Terrors".
Er lebe nun schon seit einem halben Jahrhundert in Hongkong, sagt der Ruheständler, und so schlimm wie jetzt sei es noch nie gewesen. Besonders beunruhige ihn die Gewalt: die einiger Demonstranten aber auch das brutale Vorgehen der Polizei. Deswegen wollten er und seine Frau die jungen Demonstranten unterstützen. Optimistisch sei er nicht. Es werde immer schlimmer. Das betreffe sowohl den Alltag wie auch die politischen Trends. Die Zeit der britischen Kolonialherrschaft über Hongkong dürfe man nicht romantisieren, warnt er, aber dies hier sei zehnmal so schlimm.
"Eine nie dagewesene politische Krise"
Im 28. Stockwerk eines der Hochhäuser im Hongkonger Zentrum befindet sich das Büro von Kevin Lai. Er ist Chef-Ökonom der japanischen Investmentbank Daiwa Capital Markets in Hongkong. Eine nie dagewesene politische Krise nennt Kevin Lai das, was in Hongkong gerade passiert. So etwas habe er noch nicht erlebt während seiner 25-jährigen Karriere in der Finanzmetropole, sagt der Banker.
Die derzeitigen Proteste seien nochmal deutlich größer und umfänglicher als die so genannten Regenschirm-Proteste, bei denen vor fünf Jahren vor allem Studierende wochenlang für mehr Demokratie in Hongkong auf die Straßen gingen.
Auslieferungsgesetz formell nicht zurückgenommen
"Diese Bewegung bringt auch Vertreter der Hongkonger Mittelschicht auf die Straße. Das sind also ganz andere Teilnehmer als vor fünf Jahren. Dieses Mal kommen auch ältere Leute mit grauen Haaren. Und auch viele Banker, Angestellte, Juristen und so weiter. Das hier ist also weit mehr als eine Studentenbewegung."
Kevin Lai macht keinen Hehl daraus, dass auch er inhaltlich mit einigen der Forderungen der Demonstranten sympathisiert. Und das gelte auch für Geschäftsleute in seinem Umfeld.
"Selbst viele Geschäftsleute, die eigentlich der Zentralregierung in Peking nahestehen, machen sich ihre Gedanken. Um die Krise einzugrenzen, sollte die Hongkonger Regierung mindestens das Auslieferungsgesetz formell zurücknehmen und das Vorgehen der Polizei in den vergangenen Wochen untersuchen."
Noch sieht es danach nicht aus. Im Gegenteil: Die de facto von der chinesischen Staatsführung eingesetzte Regierungschefin Carrie Lam zeigte sich vor einigen Tagen bei einer Feier demonstrativ mit Offizieren des chinesischen Militärs.
Chinesische Soldaten unterstützen die Regierung
Seit Ende der Kolonialherrschaft der Briten im Sommer 1997 hat China mehrere Tausend Soldaten in Hongkong stationiert. Die Kasernen für einen Einsatz verlassen haben sie seitdem noch nie.
Am 31. Juli äußerte sich erstmals der Kommandeur der in Hongkong stationierten chinesischen Soldaten, Chen Daoxiang, öffentlich zu den Massendemos gegen die Regierung. Er sprach von radikalen Protesten, die die Stabilität Hongkongs ernsthaft gefährdeten. Die chinesische Armee sei entschlossen, die nationale Sicherheit zu verteidigen.
Auch, wenn die meisten Menschen in Hongkong das für einen Bluff halten: Zur Beruhigung der Lage tragen solche Aussagen nicht bei. Im Gegenteil. Die Stimmung wird in Hongkong zunehmend aggressiv. Immer wieder verbieten die Behörden inzwischen Demonstrationen. Die Menschen protestieren trotzdem. Dabei kommt es immer häufiger zu Gewalt. Und unter den Demonstranten wächst die Zahl derer, die damit kein Problem haben. Im Gegenteil.
Demonstrantin: "Gewalt als letztes Mittel"
"Wenn wir alle friedlichen Mittel ausgeschöpft haben und sich trotzdem nichts tut, müssen wir notfalls eben zu Maßnahmen greifen, auf die die Regierung reagieren muss. Was immer es koste" sagt eine Demonstrantin Anfang 30, die sich "H" nennt und ihr Gesicht mit einem Tuch fast vollständig umwickelt hat, um unerkannt zu bleiben. Und Gewalt, sagt sie: "Falls nötig, als letztes Mittel: Ja."