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Massenproteste in Rumänien
Einig im Hass auf die politische Klasse

Der verheerende Brand in einem illegalen Bukarester Nachtclub mit über 50 Toten hat eine Protestwelle in Rumänien gegen Politik und Korruption ausgelöst. Viktor Ponta ist unter diesem Druck als Ministerpräsident zurückgetreten. Der bekannte Autor Mircea Cartarescu spricht von einem 11. September für sein Land - mit weitreichenden Folgen.

Von Mirko Schwanitz | 22.11.2015
    A Romanian man holding a placard that reads 'I WANT A FUTURE FOR MY COUNTRY' shouts slogans against the political establishment during a rally in reaction to the nightclub fire accident at University Plaza in downtown Bucharest, Romania, 06 November 2015.
    Ein Mann demonstriert Anfang November in Bukarest, mit einem Plakat "Ich möchte eine Zukunft für mein Land". (dpa / Robert Ghement)
    "Wir wollen Gerechtigkeit!"
    "Das Schmiergeld und der Diebstahl töten Rumänien"
    Diese Slogans riefen die vor dem Regierungssitz in Bukarest und in Städten des ganzen Landes. Es war der Tod eines jungen Polizisten, der einen Minister bei einer mysteriösen Privatfahrt begleiten musste. Es waren die inzwischen mehr als 50 Todesopfer infolge eines Brandes in einer vor den Augen der Behörden betriebenen illegalen Diskothek, der Hunderttausende Menschen im ganzen Land auf die Straßen brachte. Mit großer Sorge aber auch mit Hoffnung schaut die Grande Dame der rumänischen Literatur, Nora Iuga, auf die Proteste der letzten Wochen.
    "Weil hier etwas ganz Unerwartetes passiert ist. Unsere Jugend hat sich nie für Politik interessiert. Überhaupt nicht. Ich habe Angst, weil alle diese Leute, die in sehr vielen Städten zusammenkommen, sie wollen nicht das Gleiche. Was sie einigt, ist ihr Hass auf die politische Klasse. Aber das genügt nicht, die Mentalität muss sich ändern. Hoffentlich wird es letzten Endes klappen."
    Schock über die Toten löst Politisierung aus
    Die Wucht der Proteste, die innerhalb von wenigen Stunden den korrupten Premier Victor Ponta zum Rücktritt zwangen, überraschte nicht nur Nora Iuga. Diese Proteste, glaubt auch die Autorin Gabriela Adamesteanu, werden das Land auf lange Sicht nachhaltig verändern. Sie habe jedenfalls viele Beobachtungen gemacht, die auf eine Mentalitätsänderung hindeuten, wie sie Nora Iuga so vehement fordert."
    "Heute hörte ich wie ein Mann sich aufregte, weil jemand illegal auf dem Fußweg parkte: 'Jeder macht hier was er will!', rief er aufgebracht. 'Genau deshalb ist unser Land in diese Situation geraten!' Ich habe das Gefühl, dass die Proteste mehr und mehr auch ein kollektives Bewusstsein ans Tageslicht bringen. Ein Bewusstsein dafür, dass w i r es waren, die in den letzten Jahren völlig passiv eine inkompetente und korrupte politische Klasse geduldet haben."
    Gabriela Adamesteanu, in den 1990er-Jahren mit ihrem Roman "Die Applausmaschine" auch in Deutschland bekannt geworden, bekennt, dass sie vor diesen Protesten fast nicht mehr daran glaubte, dass man das korrupte politische System in Rumänien verändern könne. Ob das wirklich gelingt, wird davon anhängen, ob der Schock über die Toten der Brandkatastrophe von Bukarest ein Umdenken bei der Mehrheit der Rumänen bewirken könne, meint der international bekannte Schriftsteller Mircea Cartarescu.
    "Das Erste, was ich sagen möchte, ist, dass der Brand in dieser Diskothek für mein Land eine Art 9/11 war. Ein großer Schock, der noch immer dabei ist, sich bis in die letzten Winkel des Landes auszubreiten wie die Wellen eines Erdbebens. Die Bewegung für die Opfer am Morgen danach wandelte sich innerhalb weniger Tage zu einer wirklichen Revolution, die bis heute andauert."
    Neue politische Reife junger Rumänen ist erwacht
    Nicht zufällig griffen die Demonstranten auf Slogans und eine Symbolik zurück, die man vom Beginn der 1990er-Jahre und dem Sturz des damaligen Diktators Ceausescu kenne, analysiert Cartarescu. Wie für Gabriela Adamesteanu offenbare sich für ihn in den Protesten eine neue politische Reife vor allem junger Rumänen.
    "Ich würde sagen, dieses tragische Unglück löste in sehr vielen Menschen das erste Mal ein Gefühl von Verantwortlichkeit aus. Der Tod von 53 jungen Menschen ließ sie erkennen, dass das System der Korruption ihre Kinder zu töten beginnt. Und das wiederum ließ sie begreifen, dass eine wirkliche Revolution nicht vom Himmel oder der EU, sondern nur aus ihnen selbst kommen kann. "
    Trotz oder gerade wegen des in Rumänien weitverbreiteten Anti-Intellektualismus trügen in dieser Phase Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle eine große Verantwortung. Denn der politische und kulturelle Geist der neuen Bewegung formiere sich nicht in dem von Parteien beherrschten Fernsehen, nicht in den von korrupten Oligarchen beherrschten Tageszeitungen, sondern vor allem in den sozialen Medien.
    Viele Schriftsteller beteiligen sich an diesen Protesten. Auch ich bringe mich täglich ein, teile so vielen Menschen wie möglich mit, wie ich über die Entwicklungen denke. Im Moment habe ich etwa 20.000 Followers auf Facebook. Ich versuche also alles, damit meine Worte von den Menschen gehört werden. Und es gibt viele Intellektuelle wie mich, die das gleiche versuchen.