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Massensterben der Larven des Nordseehering

Beim Hering dauerte die Gewichtszunahme diesem kalten Frühjahr länger als sonst. Das Nordseewasser war einfach zu kalt, die Nahrung knapp. Aber nächste Woche ist es dann soweit: Die Matjessaison kann beginnen. Unterdessen weisen Meeresforscher auf ein anderes Problem hin: Viele Heringslarven sterben ab, viel mehr jedenfalls als gewöhnlich. Dabei waren die Fischer eigentlich sehr zufrieden mit dem Heringsgeschäft der letzten Zeit.

Von Volker Mrasek | 09.06.2006
    Zuletzt ging es dem Hering in der Nordsee ausgesprochen gut. Niederländische und deutsche Fischer freuten sich über rekordreife Fänge. Und jetzt das:

    " Nach unseren Schätzungen lag der Bestand 2005 noch bei rund 1,7 Millionen Tonnen. In diesem Jahr dürften es aber nur noch 1,3 Millionen sein. Das ist eine rapide Abnahme. Wir sollten deshalb die Fangquoten entsprechend reduzieren."

    Diese Empfehlung kommt von Martin Pastoors. Oder allgemeiner: vom Internationalen Rat für Meeresforschung, dem der niederländische Fischereibiologie angehört. Die Fachinstitution hat ihren Sitz in Kopenhagen. Sie arbeitet im Auftrag der Anrainerstaaten des Nordatlantik. Heute veröffentlichen die Wissenschaftler ihr neues Jahresgutachten. Und raten dringend dazu, die Fangquote für Nordsee-Hering in dieser Saison um fast die Hälfte zu beschneiden. Das wäre ein drastischer Einschnitt ...

    " Es gibt jede Menge ausgewachsene Heringe in der Nordsee. Doch die Zahl von Jungfischen geht stark zurück. Und das jetzt schon im vierten Jahr hintereinander. Der Heringsbestand wird deshalb in den kommenden Jahren schrumpfen. Und es wäre sicher unklug, wenn man sich dieser Situation nicht anpasste."

    Der Nordsee-Hering zeugt munter Nachwuchs wie eh und je. Doch mit den Larven stimmt irgendetwas nicht mehr. Viele von ihnen sterben, ehe sie zu Jungfischen herangewachsen sind. Man könnte von einem mysteriösen Tod in der Kinderstube sprechen. Der britische Fischereibiologe Marc Dickey-Collas hat die Aufgabe, das Rätsel zu lösen. Er ist der führende Heringsexperte im Meeresforschungsrat:

    " Es gibt viele Untersuchungen zum Nordseehering. Deshalb wissen wir genau, wann das Problem auftritt. Es werden immer noch genügend Larven erzeugt. Aber einige Monate später sind sie nicht mehr da. Irgendetwas bringt sie um. Man kann nicht unbedingt von einem Massensterben sprechen. Aber die Überlebensrate ist eindeutig gesunken, um bis zu 20 Prozent. Wenn so viele Larven frühzeitig sterben, dann kann sich der Heringsbestand nicht mehr wie gewohnt erneuern."

    Deshalb die Empfehlung der Forscher, die Fangquoten noch in dieser Saison rigoros zu reduzieren. Sonst, sagen sie, falle der Heringsbestand in der Nordsee unter eine kritische Grenze. Ob die EU-Kommission diesem Rat folgt, ist allerdings eine andere Frage. Es gibt nämlich eine Vereinbarung zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Sie besagt, dass die Fangquoten von einer Saison auf die andere höchstens um 15 Prozent gekappt werden sollen. Und aus der Fischerei gibt es bereits erste Stimmen, die von einer "viel zu drastischen" Fangbeschränkung sprechen. Biologe Pastoors meint allerdings, es bleibe gar keine andere Wahl, wenn man den Heringsbestand in der Nordsee stabil halten wolle:

    " Im Management-Plan für den Nordseehering gibt es eine Klausel, die klar sagt: Wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht, kann man die Fangquote auch um mehr als 15 Prozent absenken."

    Woran die Heringslarven sterben, ist noch offen. Vermutlich hat es etwas mit dem Klimawandel und gestiegenen Meerestemperaturen zu tun. In den letzten Jahren sind neue, wärmeliebende Arten in die Nordsee eingewandert und haben die alten zum Teil verdrängt. Das gilt auch für Kleintiere im Wasser, von denen sich Heringe ernähren. Die Zusammensetzung dieses so genannten Zooplanktons hat sich stark verändert. Es könnte also sein, dass die sehr wählerischen Heringslarven eingehen, weil ihnen die Nordsee nicht mehr das Richtige auftischt. Sicher sind sich die Wissenschaftler da aber noch nicht. In anderen Fangregionen tritt das Phänomen jedenfalls nicht auf. Hering-Spezialist Marc Dickey-Collas wird der Sache weiter nachgehen. Schon jetzt kann er aber Verbraucher beruhigen:

    " Es wird auch weiter genug Hering geben. Denn den anderen Beständen geht es sehr gut - vor allem dem vor Norwegen. Deswegen werden die Marktpreise auch nicht ins Uferlose steigen. Selbst in der Nordsee ist noch immer viel Hering vorhanden. Wir wollen nur sicherstellen, dass der Bestand weiter verantwortungsbewusst befischt wird."

    Deshalb müsse auch noch niemand ein schlechtes Gewissen haben, wenn er weiter Hering esse.