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Maßstäbe für Engelhaftigkeit

Jörg-Uwe Albig stellt gerne Welten auf den Kopf: Sein neuer Roman "Ueberdog" lässt die Welt der Hamburger Kunstszene mit der Welt der Obdachlosen verschmelzen. Das Buch handelt von Aufsteigern, Absteigern, von einer besonderen Leidenschaft für Engel und vor allem vom Schein, der trügt.

Von Wiebke Porombka | 08.08.2013
    Schon das Cover dieses Romans spielt mit Gegensätzen: In goldenen Lettern hebt sich der Name des Autors vor dem weißen Hintergrund ab und nimmt die gesamte Fläche des Umschlags ein. Darüber, wie etwas unbeholfen mit einem schwarzen Edding geschrieben oder wie ein verwackeltes Graffiti auf einer Wand, steht der Titel des Romans: "Ueberdog" – dieser selbst wiederum eine spielerische Wortverdrehung.

    Wer in dem neuen Roman von Jörg-Uwe Albig oben steht, wer auf die Underdogs hinabblickt – oder womöglich auch zu ihnen hinauf, das ist nicht immer einwandfrei zu klären. Es scheint einem beständigen Wandel zu unterliegen. Oder aber dem Wechsel von Perspektiven und Moden.

    Man sollte meinen, dass gerade eine Frau wie Stella einen Blick für diese Moden hat. Stella ist Promi-Fotografin, wenngleich keine sonderlich erfolgreiche. Albig hat seinen vierten Roman mit einer weiblichen Ich-Erzählerin ausgestattet und diese wiederum mit einem etwas sonderbaren Spleen. Stella hat nicht nur ein Faible für Designerkleidung, teure Parfüms und Partys in der Hamburger Kulturschickeria. Sie hat auch eine ganz besondere Leidenschaft für Engel. Was zunächst einen esoterischen Einschlag haben mag, erweist sich bei Albig rasch als durchaus weltliches Kalkül.

    "Engel stehen für mich für die Mittler zwischen unserem irdischen kaputten kleinen Leben und diesem Idealbild des Himmels. Es gibt dann da ja auch diese sieben Hierarchien, also diese sieben Schichten, die sind für Stella, und wahrscheinlich nicht nur für Stella, sondern für viele Menschen, Wege, zum Himmel zu kommen.

    Ich glaube, viele Menschen stellen sich ihr Leben schon so ein bisschen hierarchisch vor, von Schicht zu Schicht zu Schicht zu Schicht. Und irgendwann ist da der Himmel. Und wenn man keine Leute hat oder keine Stufen, auf die man steigen kann, dann wird es schwer, nach oben zu kommen."

    Wer den Engeln nahe sei, so lautet der erste Satz des Romans, der müsse nichts mehr beweisen. Was man sich in diesem Buch unter Engeln vorzustellen hat und was Stella sich unter ihnen vorstellt, das ist ziemlich konkret. Engel sind Gestalten, die glänzen und in deren Glanz man sich nicht nur sonnen, sondern von deren Glanz man profitieren kann, wenn man selbst aufsteigen will. Für eine Fotografin wie Stella sind Engel deshalb vor allem diejenigen, denen sie durch ihre Arbeit täglich nahekommt und zu deren Glänzen sie selbst ein Stück weit beiträgt.

    "Sie sucht eigentlich in diesem ganzen Prozess, den sie da durchmacht, Maßstäbe für diese Engelhaftigkeit. Und Prominenz hat den Vorteil, dass es ein vorgefertigter Maßstab ist, den gibt es schon. Es gibt Medien, die genau sagen, wer dazugehört, wer nicht dazugehört, wer so halb dazugehört. Aufsteiger, Absteiger, wie es oft in der Bild-Zeitung heißt. Und Gewinner, Verlierer."

    Vielleicht ist die Krux an einem Charakter wie Stella, dass sie einerseits selbst gar nicht recht weiß, wie sie sich ihren Aufstieg vermittels ihrer Nähe zu diesen vermeintlichen Engeln vorstellt. Und dass sie andererseits, obwohl sie stets ihre gute Nase für besondere und außergewöhnliche Menschen betont, nur allzu leicht dem Schein der Oberflächen erliegt. Und dem, was ihre Fantasie diesen Oberflächen andichtet.

    In Gang gesetzt wird Albigs Roman in dem Moment, als Stella ihre üblichen Kreise verlässt, nachdem sie durch einen Zufall die Bekanntschaft einer Gruppe Obdachloser gemacht hat. Zunächst erscheinen ihr diese zerlumpten und zugleich überraschend würdevollen und eigenwilligen Menschen vor allem als Objekte vor ihrer Kamera reizvoll.

    Mehr und mehr aber sucht Stella tatsächlich die Nähe zu den Obdachlosen, zieht mit ihnen durch die Stadt, teilt deren Spezialgetränk Gabba – eine wirkungsträchtige Mischung aus Gatorade und Bacardi - taucht nur noch sporadisch in der Wohnung auf, die sie mit ihrem Freund teilt, und kapert schließlich mit ihren neuen Bekanntschaften sogar die wegen Baustopp leer stehende Elbphilharmonie und feiert Partys über der Stadt. Partys, die gar nicht so weit entfernt scheinen von dem, was Stella noch vor Kurzem in der Welt der Celebrities erlebt hat.

    "Es sind ja in ihrem Bewusstsein eigentlich gar nicht zwei verschiedene Welten. Es ist ja auch sowieso seit Phänomenen wie Heroin-Chic und Grunch oder popkulturellen Phänomenen, die ja das Schmutzige und das Armselige integrieren und dadurch auch Glamour erzeugen, seitdem ist die Grenze ja nicht mehr so ganz klar. Und es könnte ohne Weiteres sein, dass die Grenze sich so weit verschoben hat, dass Obdachlose eben ein Teil sind."

    Albig lässt den Leser nun Stella nicht nur dabei begleiten, wie sie Tag für Tag ein wenig mehr den Anschluss an ihr altes Leben verliert. Albig lässt den Leser auch daran teilhaben, wie der jungen Fotografin immer mehr der Blick auf die Wirklichkeit entgleitet. Oder sind es wir Leser, die einfach nur nicht richtig hinschauen können? Sind vielleicht die Obdachlosen ein paar begnadete Künstler, deren neues Projekt eine Art Langzeit-Performance darstellt?

    Schmiddel jedenfalls, den charismatischen Anführer der Obdachlosen, meint Stella von unzähligen Vernissagen zu kennen, wo er unter dem Namen Sebastian Stern die bewundernden Blicke der Gäste auf sich zog. Und plötzlich, während eines Abends in einer Karaoke Bar, verwandelt sich die stumme, mitunter fast ein wenig animalisch wirkende Betty in eine atemberaubende Sängerin. Oder sind Stellas Sinne vom fortwährenden Gabba-Trinken mittlerweile derart aufgelöst, dass sie sich Bettys Brillanz nur einbildet? Ist es gar Amy Winehouse selbst dort am Mikrofon?

    "Es kann ja sein, dass tatsächlich Amy Winehouse sich jetzt inkognito gemacht hat, weil sie einfach die Schnauze voll hatte von ihren Ruhm, und sich jetzt in Hamburg als Edelpennerin durchschlägt. Das wäre ja jetzt auch bei Amy Winehouses Lebenswandel nicht komplett auszuschließen gewesen. Das würde ja alles noch im Rahmen des Möglichen sein."

    Jörg-Uwe Albig hat ein Faible dafür, Welten auf den Kopf zu stellen, historische Abläufe in ihr Gegenteil zu verkehren. In "Land voller Liebe" aus dem Jahr 2006 ließ Albig statt der BRD die DDR zum Sieger der Geschichte werden. In Albigs letztem Roman "Berlin Palace" wird China zum glücksverheißenden Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

    In "Ueberdog" nun ist zwischen der Welt der Kunstszene und der Welt der Obdachlosen kaum mehr zu unterscheiden. Am Ende des Romans findet sich Stella, längst wohnungslos und in der Fußgängerzone unter Zeitungen schlafend, auf einer Party im Hamburger Völkerkundemuseum wieder. Hier trifft sie die strahlenden Akteure ihrer Celebrity-Vergangenheit. Allesamt in Lumpen gehüllt. Ist das nur ein Traum? Der Leser weiß es nicht.

    "Im Völkerkunde-Museum finden Partys statt, und es ist absolut vorstellbar, dass Leute auf die Idee kommen, da so eine Penner-Party zu machen. Also, dass reiche und erfolgreiche Leute sich für einen Abend als Penner verkleiden, dass man da so eine Party macht, wo man fremde Gebräuche einfach mal nachahmt für einen Abend. Und insofern könnte das absolut noch real sein. Irgendwo wird es dann wahrscheinlich unreal."

    Der Schnitt, mit dem es in "Ueberdog" dann plötzlich sehr real wird, ist hart. Gerade war Stella noch auf der Party im Völkerkundemuseum, nun liegt sie auf dem Pflaster, erwacht aus einer Ohnmacht. Zwei Zeugen Jehovas flößen ihr Tee ein, der Krankenwagen ist schon verständigt. Stella ist am Ende.

    Wenn es nur ein Spiel war, eine Kunstaktion, eine Extrem-Performance, dann hat sie Stellas Kräfte überschritten. Wenn es sich um wirkliche Obdachlose gehandelt hat, mit denen sie einen Sommer verbrachte, dann hätte Stella sich derart naiv und ohne Rücksicht auf die Konsequenzen in die Abgründe des Obdachlosenlebens verstrickt, dass sie zwangsläufig auf der Strecke bleiben muss, als es ernst wird, als der Winter und die Kälte kommen.

    Jörg-Uwe Albig klärt wenig auf von dem, was er an Spuren streut. Und noch weniger wertet er. "Ueberdog" ist keine moralische Erzählung über die Strafe, die denjenigen ereilt, der zu sehr auf glänzende Oberflächen vertraut. Es ist auch kein Roman über das Unheil der Hybris. Klar ist nur: Hier trügt der Schein, immerzu. Und das – womöglich – Fatale daran ist: Je mehr und virtuoser der Schein trügt bei Jörg-Uwe Albig, desto mehr zieht es den Leser hinein in diesen Roman.

    Jörg-Uwe Albig: "Ueberdog"
    Tropen Verlag, Stuttgart 2013, 223 Seiten, 19,95 Euro