Žaklina Burghard hat einen ungewöhnlichen Gegenstand vor sich – kalkweiß, die Form ähnelt einem vertrockneten Baguettebrötchen. Dann hebt die Forscherin der Universität Stuttgart das Gebilde hoch – es ist federleicht.
"Das ist ein Teil eines Tintenfisches, die Sepia-Schale. Sie besitzt zwei Funktionen: Zum einen als Stützskelett, zum anderen als Auftriebskörper, der es dem Tintenfisch ermöglicht, zu regulieren, wie tief unter Wasser er schwimmt."
Die Sepia-Schale ist zu 93 Prozent porös, sie besteht also zu 93 Prozent aus Luft. Will der Tintenfisch sinken, pumpt er Wasser in die Schale. Möchte er nach oben, presst er es wieder hinaus. Ein Trick, der auch Materialforscherinnen fasziniert, zum Beispiel Burghards Kollegin Andrea Knöller.
"Wenn man bedenkt, dass der Tintenfisch in Tiefen von 200 Metern oder noch tiefer lebt und ein riesiger Wasserdruck herrscht, muss dieses Material sehr, sehr stabil sein, damit das Tier überleben kann."
Die mikroskopische Analyse verrät das Geheimnis
Zunächst analysierten die Expertinnen die mikroskopische Struktur der Sepia-Schale – und fanden Schichten aus mikrometerfeinen Lamellen, bestehend aus Aragonit-Fasern, einem Kalkmineral. Dann versuchten sie dieses leichte, aber stabile Gerüst irgendwie nachzubauen.
"Als wir eine Alternative für die Aragonit-Fasern suchten, stießen wir auf Vanadiumoxid, eine Keramik aus Vanadium und Sauerstoff. Der Vorteil: Fasern aus Vanadiumoxid sind ziemlich stabil. Und bei der Herstellung können wir genau kontrollieren, wie lang die Fasern werden sollen."
Das Herstellungsverfahren ist originell. Um eine tintenfischähnliche Lamellenstruktur aus Vanadiumoxid hinzubekommen, nutzen die Forscherinnen um Andrea Knöller einen alltäglichen Stoff – nämlich Eis.
Zur Produktion des porösen Werkstoffes werden die Fasern schockgefroren
"Man hat Wasser. Wenn man das in die Gefriertruhe packt, hat man am Ende Eis. Und nichts anderes machen wir. Nur dass wir es nicht in die Gefriertruhe packen, sondern wir nehmen flüssigen Stickstoff, der natürlich deutlich kälter ist als die Standard-Gefriertruhe. Das ist wie Schockfrieren."
Im Wasser sind die Vanadiumoxid-Fasern gelöst. Beim Schockgefrieren bei minus 200 Grad begeben sie sich in die gewünschte Form.
"Man erhält plattenartige Eiskristalle. Und die Fasern, die in der Lösung vorliegen, lagern sich zwischen diesen Eiskristallen-Platten an und bilden diese Struktur, die wir haben wollen."
Dann wird das Eis per Vakuumtrocknung entfernt. Zurück bleibt ein Stapel aus Dutzenden von Lamellenschichten, erklärt Žaklina Burghard.
"Damit konnten wir die Struktur der Sepia-Schale nachbilden, allerdings auf einer kleineren Größenskala. Denn unsere Lamellen sind nicht mikrometergroß wie beim Tintenfisch, sondern messen nur Nanometer."
Extrem leicht und extrem stabil
Die Expertinnen haben die Struktur der Sepia-Schale also um das 1000-fache verkleinert. Ihre künstliche Schale ist sogar noch luftiger als das Original, sie besteht zu 99,8 Prozent aus Luft. Dennoch ist das Material überraschend stabil. Es kann das Tausendfache des Eigengewichts tragen, ohne zu zerbrechen, sagt Žaklina Burghard – und hat bereits erste Anwendungen für den Luftikus im Sinn. Vielleicht ließe sich das Konzept eines Tages als Leichtbaumaterial einsetzen, oder aufgrund der riesigen inneren Oberfläche als Katalysator für die Chemie. Und:
"Wir sehen uns nach Anwendungen für die Energiespeicherung um. In unserem Material lässt sich zum Beispiel Lithium einlagern. Und damit könnte es sich als Kathodenmaterial für bestimmte Batterietypen eignen."