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Mathematische Weltformel in Las Vegas

Rafael Spregelburd ist einer der wichtigen zeitgenössischen argentinischen Dramatiker. Am Schauspiel Stuttgart kam nun sein Stück "Die Dummheit" heraus. Das Stück spielt in der Motelwelt von Las Vegas, wo sich Hoffnungen aller Art mit Ernüchterungen paaren. Doch ein Protagonist ist im Besitz einer mathematische Weltformel, mit der sich in Las Vegas doch was anfangen ließe, wenigstens etwas Bares. Das klingt nach Tragikomödie.

Von Cornelie Ueding |
    Professor Finnegan hat eine Art Weltformel gefunden, mit der sich die Zukunft voraussagen ließe. Doch obwohl Verlage und Journalisten ihn verfolgen und Millionen für die Erstveröffentlichung bieten, will er sie aus Angst vor möglichen Folgen nicht verraten. Seiner Frau und deren Sohn ist die Formel schnuppe - aber nicht das Geld, das sich damit verdienen ließe. Schließlich sind schon die Mafia-Killer hinter dem verschuldeten Junior her - und so nehmen die Ereignisse ihren immer hektischer und absurder werdenden Verlauf.

    Das Theater dient dem argentinischen Autor Rafael Spregelburd als Laboratorium, das Stück als Versuchsanordnung zur Überprüfung der These, dass der berühmte Flügelschlag eines Schmetterlings, also die geringste zufällige Bewegung irgendwo auf der Welt, in einem geschlossenen komplexen System ganz woanders weit reichende, ja katastrophale Folgen haben kann. Alle wollen "nur" irgendwie zu Geld kommen: die Killer, versteht sich, weil sie eigentlich Musik machen wollen, die Mutter, um dem Sohn aus der Klemme zu helfen, der Professor, weil er dem Sohn seiner Frau trotz rabiater Drohungen doch irgendwie auch aus der Patsche helfen möchte, ohne seine Prinzipien zu verraten, die Jungs von der Grillparty nebenan, die sich in Roulette-Systeme einarbeiten, Polizisten, die ihren Job leid sind, Kino-Platzanweiserinnen, die ihren öden Alltagsgeschichten in Richtung von Filmvorbildern entkommen möchten, dubiose Kunsthändler schließlich, die ein gestohlenes, zunehmend verblassendes Bild zur Sensation auf dem Kunstmarkt hochspielen und zu Höchstpreisen verhökern wollen.

    Und die hier nicht und auch sonst kaum nacherzählbare Bühnen-Geschichte der 24 von nur fünf Darstellern gespielten Figuren wird immer verwickelter, je mehr Personen in den Sog gleichzeitiger, sich überschneidender Situationen geraten. Ihre Wege kreuzen sich auf der fast leeren Bühne in wechselnden Motels, beliebigen, anonymen Durchgangsstationen, die ebenso austauschbar sind wie die Klamotten und Requisiten, die rechts, von blinkenden Varietéelämpchen gesäumt, an Garderobenständern hängen. Das Stück ist in Spregelburds Reihe über die sieben Todsünden das 4.: Über die Habgier - und hat es in sich; auch wenn es selbst in der um fast ein Drittel gekürzten Stuttgarter Fassung immer noch zu red- und erklärselig ist.

    Und die Inszenierung der jungen Friederike Heller hat starke Szenen. So in der virtuosen Parodie auf den Jargon des Kunstbetriebs und die professionellen Vermarktungsstrategien, denen die anvisierten Käufer auch prompt und buchstäblich "erliegen": Der texanische Ölmulti-Junior sinkt adorierend zu Boden, schmilzt geradezu dahin; den Japaner trifft der Schlag angesichts des Bildes, dessentwegen schon seine Muter starb; und die gewiefte, in berufs-adäquater Verlogenheit geschulte Lady macht das Rennen.

    Alle erzählen dabei eine andere Geschichte, mit der sie das Bild einkleiden, auf dem fast nichts mehr zu sehen ist - und die Zuschauer kriegen es erst gar nicht zu sehen und müssen sich mit dem Gerede und ihren allein durch die Sprache hervorgerufenen inneren Bildern von diesem "Produkt" begnügen. Doch leider bleiben alle Figuren eindimensional, Karikaturen eben -statt ganz normale, in ein gesellschaftlich normiertes Korsett gepferchte Typen, die auf dumm-dreiste Weise ihren ebenfalls medial präformierten Träumen nachjagen und dabei zu Karikaturen ihrer selbst werden.

    Statt diese Spannweite zwischen Normalität und dem ganz normalen Irrsinn auszuloten, hat sich Friederike Heller auf das schwere komische Fach beschränkt. Nun sorgt nicht nur die bei der ausführlichen Kostümierung aller Figuren jedes Mal notwendige Umzieherei hinter den Garderobenständern für Leerstellen. In manchen der im besten Falle wunderbar slapstickartigen Szenen müssen die Schauspieler, die so viel mehr könnten als das, sogar in eine Art bleierner Munterkeit verfallen. Und vor allem fehlen bei dieser Darstellungsform die Steigerungsmöglicheiten: Am Ende, als die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten ist, geht's nur noch laut und lärmend und chaotisch zu.