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Matisse und die Folgen
Die Wirkung schöner Rücken

Die Kunsthalle Mannheim zeigt zum 150. Geburtstag von Henri Matisse dessen weitreichenden Einfluss auf die europäische Kunst des frühen 20. Jahrhunderts. Auch die Vielfalt und die Widersprüche in Matisse' eigenem Schaffen werden in der Ausstellung auf beeindruckende Weise dargestellt.

Von Christian Gampert | 01.10.2019
Mit groben Pinselstrichen gemaltes Öl-Bild einer im Wald sitzenden, nackten Frau. Sie ist von hinten zu sehen, ihr Kopf ist nach untengebeugt so das nur ihre Haare zu sehen sind
Matisse - Akt im Wald (Succession H. Matisse/ VG Bild-Kunst, Bonn 2019)
Zu den Ungerechtigkeiten der Kunstgeschichte gehört es, dass manche Dinge im Nachhinein etwas weniger wild aussehen, als es die Zeitgenossen ursprünglich wahrnahmen. Die französischen "Fauves" zum Beispiel wollten in Frankreich in der Nachfolge des Impressionismus' mit flächig aufgetragenen, grellen Farben neue Wirkungen erzielen – und verstörten damit die Ausstellungsbesucher. Dabei war auch ihr Kopf, der Maler Henri Matisse, weitaus weniger radikal als zuvor van Gogh. Die Meerlandschaft mit nackten Badenden, die er 1904 unter dem Baudelaire entlehnten Titel "Luxe, calme et volupté" (Luxus, Stille und Wollust) auf die Leinwand brachte, ist nur eine weitere pointillistische Lichtübung, von der sich Matisse zugunsten der Fläche bald verabschiedete.
Absolut moderne Bildauffassung
Es ist einer der Vorzüge der Mannheimer Ausstellung, dass sie uns von Matisse‘ Anfängen mit düsteren Atelierdarstellungen sofort zu Bildern wie dem "Nu dans la forêt" von 1906 begleitet, wo der nackte Körper völlig in den ornamental empfundenen Farbmustern des Waldes verschwindet – eine absolut moderne Bildauffassung, die schon an der Abstraktion kratzt. Der ungleich wildere Picasso zerbrach zeitgleich die Formen etwa der "Desmoiselles d’Avignon" und ging in Richtung Kubismus. Das ist die andere, hier nicht gezeigte Linie, die man mitdenken muss. Die "Fauvisten" dagegen ergaben sich den Lichtwirkungen Südfrankreichs. Auch Braque war dabei, und es gibt großartige Landschaften von André Derain und Henri Manguin. Der Leiter der Kunsthalle Mannheim, Johan Holten:
"Einerseits versucht die Ausstellung, die Zeitgenossen von Matisse in den Jahren in Südfrankreich, in Collioure zu zeigen, wie die Fauvisten dort die Farbe entdeckt haben. In einem zweiten Schritt zeigt die Ausstellung dann, wie dieser Einfluss nach Deutschland geschwappt ist."
In Deutschland, sagt Holten, hatte Matisse mehrere Ausstellungen: 1908 sogar bei dem wichtigen Galeristen Paul Cassirer in Berlin. Kirchner und Pechstein sahen die Schau. Pechstein fand die Bilder "wüst". Kirchner, der sich nicht äußerte, muss aber Matisse‘ grandiosen blauschimmernden Akt von 1907 wahrgenommen haben. Und es wird immer wieder spekuliert, ob er sein eigenes Bild "Liegender blauer Akt mit Strohhut" von 1909 vielleicht vorzudatieren versuchte, um nicht als Epigone dazustehen.
Erste Schritte zur Expression
Gleichviel: Die lange Phalanx aus Akten und Rückenakten von Pechstein, Kirchner, Macke, aber auch von Braque und Manguin gehört zum Beeindruckendsten dieser Ausstellung. Nicht nur, weil sie Matisse‘ vehementen Einfluss auf seine Landsleute und vor allem auf den deutschen Expressionismus belegt, der allerdings konturenschärfer ist und einen viel entschlosseneren Zugriff aufs Sujet hat. Sondern auch, weil das Thema uns zu den Hauptwerken der Schau führt: zu Matisse‘ vier in Bronze gegossenen großen Rückenreliefs, die seinen Weg von einer relativ naturalistischen Darstellung 1909 bis zur fast abstrakten, aus klobigen Strängen bestehenden Figur von 1930 belegen. Letztere gehört der Kunsthalle Mannheim wohl auch aus programmatischen Gründen, wenn man Johan Holten folgt:
"Die klassische Moderne wird für immer in der DNA der Kunsthalle Mannheim bleiben. Und Matisse als Künstler dieser klassischen Moderne ist ein ganz natürlicher Anknüpfungspunkt."
Matisse übte einen starken Einfluss auf einige Schüler aus, die ab 1908 an seiner privaten Pariser Akademie studierten. Vor allem Hans Purrmann überzeugt in seinen Landschaften mit einer satt-flächigen Bildsprache, die Matisse später in manchen Portraits radikalisiert.
Die Schau bricht in den 1920er Jahren ab und lässt die Nizzaer Spätphase weg. Gerade im letzten Raum bleibt dann dieser merkwürdige Widerspruch stehen: Dass Matisse sich offenbar mehr für die dominanten Umgebungen der Figuren interessiert, die in abstrakten Mustern quasi untergehen - und andererseits noch 1916 mit einem großartigen grauen Akt fast expressionistisch malt. Der Mann hatte einfach viele Gesichter.