Der Titel von Matthew Weiners erstem Roman klingt eher wie ein Dossier, eine Sammlung, die der Autor einer der Schauspielerinnen seiner erfolgreichen Fernsehserien zur Vorbereitung auf eine Rolle mit auf den Weg geben könnte: Hier ist "Alles über Heather". Doch Heather ist nicht die einzige, über die wir hier alles erfahren. Der 1965 in Baltimore im US-Bundesstaat Maryland geborene Weiner stellt uns zunächst ihre Eltern vor. Die beiden New Yorker Mark und Karen Breakstone sind einst von Freunden verkuppelt worden. Sie arbeitete in der PR und war auf eine etwas unscheinbare Art hübsch, er war ein mondgesichtiger Vierzigjähriger, der kurz davorstand, auf dem Finanzsektor gutes Geld zu verdienen. Vielleicht war es keine Liebe zwischen den beiden, aber es war die letzte Chance, eine Familie zu gründen.
Nach der Geburt ihrer Tochter Heather wird Mark tatsächlich so reich, dass die Familie sich eine große Wohnung weit oben in einem noblen Hochhaus an der Upper East Side leisten kann – für das Penthouse einen Stock höher reicht es allerdings nicht. Karen gibt ihren Job auf, um sich ganz um ihre Tochter zu kümmern, ein schönes, intelligentes und empathisches Kind, das die Blicke auf sich zieht. Bald schon ist Heather das einzige, was Mark und Karen aneinander bindet.
"Wie an den meisten Abenden las Heather im Dunkeln auf ihrem Handy. Sie war sich bewusst, wie angestrengt ihre Eltern versuchten, nicht sie selbst zu sein, solange sie glaubten, ihre Tochter sei wach. Heather hörte sie streiten, sie hatte aber schon vor Jahren gelernt, ihr Gezänk auszublenden, das sich immer um sie drehte und nie irgendwohin führte. Gefühlen gegenüber waren ihre Eltern besonders blind. Ihr Vater leugnete, überhaupt welche zu haben, und ihre Mutter nahm an, alle Welt würde ihre teilen. Heather hatte lange nicht gewusst, wie außergewöhnlich ihre eigene Fähigkeit war, die Empfindungen anderer Leute zu erspüren und manchmal geradezu selbst zu fühlen. Als sie erkannte, dass sich Erwachsene und Freunde all diese Grausamkeiten und Grobheiten unbeabsichtigt oder zumindest unwissentlich zufügten, beschloss sie, sich in sich selbst zurückzuziehen, überwältigt vom Kummer darüber, wie die Menschen miteinander umgingen."
Ein Experiment auf dem Papier
Robert "Bobby" Klasky kam zehn Jahre, bevor Mark und Karen sich kennenlernten, auf der anderen Seite des Hudson River, in New Jersey, zur Welt. Seine Mutter hatte ein Heroin-Problem, sein Vater war unbekannt und der Weg auf die schiefe Bahn vorgezeichnet. Seit er einen in einem Air Conditioner gefangenen Vogel entdeckt und die Maschine angestellt hatte, um zu sehen, wie das Tier von Rotoren zerhackt wurde, ist er von Allmachtsfantasien besessen. Ein paar Jahre später schlägt er eine Nachbarstochter halb tot, auf die er zuvor ein Auge geworfen hatte. Er landet im Gefängnis. Nach seiner Haft heuert er bei Bautrupps an, und arbeitet schließlich an der Upper East Side im obersten Stock an dem Umbau eines Penthouses.
"Auf seinem hohen Aussichtsposten nahm Bobby an einem späten Nachmittag zum ersten Mal den Hauch eines Duftes wahr, bei dem ihm der Kaffee aus der Hand fiel und er tief einatmen musste. Nase und Lunge füllten sich mit einer Mixtur aus Zigaretten, Seife und Blut, die wie in einer Explosion von einem hochgewachsenen, schlanken Mädchen aufstieg, das in sein Handy sprach: Rauch umkringelte das schulterlange Haar, als ob es in Flammen stünde. Für jemand anderen wäre in diesem Moment vielleicht die Zeit stehengeblieben, aber Bobby besaß keine Vorstellung von Zeit, deshalb waren die Dinge für ihn entweder interessant oder langweilig, und wenn es um Menschen ging, bedrohlich oder erregend."
Natürlich ist das Mädchen auf dem Dach Heather. Und wenn man ihre und Bobbys Vorgeschichte kennt, weiß man, dass es zwangsläufig zu einer Katastrophe kommen muss. In Weiners klarer Prosa steckt auf diesen übersichtlichen gut 120 Seiten überhaupt alles drin, was man wissen muss, um die Beweggründe der handelnden Personen zu verstehen, hier wird keine Deutung dem Leser und nichts dem Zufall überlassen, jede Figur wird bis auf den Grund ihrer Seele ausgeleuchtet. Wohl deshalb wirkt diese Geschichte nicht wie aus dem Leben gegriffen, nicht als ob Weiner von Menschen aus Fleisch und Blut erzähle, sondern wie ein Experiment auf dem Papier. Oder vielleicht auch auf dem Bildschirm, wo dann aber all diese Erklärungen in den Köpfen der Schauspieler stecken würden und der Zuschauer die Geheimnisse zumindest zum Teil selbst lüften dürfte.
Matthew Weiner: "Alles über Heather",
aus dem Englischen von Bernhard Robben,
Rowohlt Verlag, 120 Seiten, 16 Euro
aus dem Englischen von Bernhard Robben,
Rowohlt Verlag, 120 Seiten, 16 Euro