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Matthias Dell
Shitstorm anno 1971

Shitstorms sind kein neues Phänomen - das zeigen all die empörten Briefe, die Eberhard Fechner 1971 als Reaktion auf seinen Dokumentarfilm "Klassenphoto" bekommen hat. Unser Kolumnist Matthias Dell hat die besten Zuschriften gesammelt und findet: Shitstorms waren früher schon heftig, aber um einiges höflicher.

Von Matthias Dell | 15.05.2019
Der Begriff "Shitstorm" in einer Großansicht im Duden.
Matthias Dell ist nicht nur Kolumnist, sondern auch Shitstorm-Historiker. (dpa / Jens Kalaene)
Die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation sind nicht nur ein Segen. Sie haben Phänomene ermöglich wie den Shitstorm, dienen als Ventil für dauernde Erregung und Empörung, bieten Raum für krude Theorien. Wie es dazu kommen konnte, ist eine so spannende Frage wie die nach Henne und Ei: Waren die Menschen schon immer so? Oder hat erst die Chance, sich binnen Sekunden in irgendeiner Teilöffentlichkeit des Internets äußern zu können, unflätige Behauptungen hervorgebracht?
Schauen wir in die Timelines von gestern. Im Januar 1971 wird in der ARD der Dokumentarfilm "Klassenphoto" von Eberhard Fechner ausgestrahlt. Der Film erzählt von Berliner Schülern, die in den dreißiger Jahren Abitur machen. Es geht um Lebenswege von Leuten durch Nazi-Zeit und Zweiten Weltkrieg sowie das erste Vierteljahrhundert Bundesrepublik. Der Film erhielt viel positive Resonanz. Im Nachlass von Fechner findet sich aber auch ein beträchtliches Konvolut mit wenig freundlichen Zuschriften aus dem Publikum.
Shitstorm aus dem Jahr 1971
"Obwohl ich zuweilen mit physischer, auf psychischer Grundlage bestehender Übelkeit zu kämpfen hatte, habe ich die Sendung durchgehalten. Das war wohl so ziemlich das Miserabelste, was man in letzter Zeit im 1. Programm sah", schreibt etwa eine Frau.
Die Ablehnung macht sich vor allem an einer Bemerkung im Film fest. Einer der Schüler hatte über seine Kriegszeit in Schlesien erzählt und an den Menschen dort kein gutes Haar gelassen: Keiner habe Deutsch gesprochen, viele seien Analphabeten gewesen und überhaupt. Diese Geschichte sagt viel über den, der sie erzählt, aber sie wird in den Zuschriften umgehend dem Film in Rechnung gestellt.
"Sollten Sie diese Lügen nicht widerrufen, werden ich und - hoffentlich mit Hilfe der Vertriebenenpresse - alle Vertriebenen das Fernsehen kündigen", droht eine andere Zuschauerin.
Tun Sie doch was, Herr Außenminister!
Wie viele andere wittert sie Absicht oder gar Manipulation: Dass der Schüler das extra gesagt, der Film etwas "frisiert" habe, um Willy Brandts Ostpolitik jener Jahre zu rechtfertigen. Das Fernsehen als Handlanger der Regierung, so einfach ist das. Ein weiterer Zuschauer wendet sich mit seinem Brief deshalb direkt an den damaligen Außenminister Walter Scheel.
"Ich halte dies besonders im jetzigen Zeitpunkt schlicht und einfach für Landesverrat des Regisseurs Eberhard Fechner und bitte mir mitzuteilen, welcher staatlichen Behörde (Staatsanwalt oder Bundessicherheitsschutz) das Außenministerium diesen Fall zur Untersuchung übergeben hat."
Was den Leuten auch Ärger macht: dass die deutsche Schuld thematisiert wird, auch wenn Fechners Film kommentarlos nur aus den subjektiven Erzählungen seiner Protagonisten besteht.
Shitstorm und Höflichkeit schlossen sich nicht aus
"Ein Vorschlag: Wie wäre es, die Embryos aus dieser Zeit vor das Weltgewissen zu zerren und sie zu einem Geständnis zu pressen. Vielleicht könnten alle Deutschen auch die noch zu Kriegsverbrechern und Unmenschen zum x-millionsten Male abstempeln. Alle, die schon als Erwachsene die Zeiten auch nur erlebten, sind sowieso schon auf irgendeine Weise 'um die Ecke gebracht' worden."
Der Wunsch nach einem Schlussstrich unter die Befassung mit der Nazi-Zeit ist also lange nicht so neu, wie mancher Kommentator heute tut. Der Mann schließt seinen Brief übrigens mit dem Satz:
"Ich lebe leider noch, darum kann mir noch ekeln. Hochachtungsvoll."
Ausrufezeichen ersetzen Grußfloskeln
Was dann doch erstaunt, weil hier bei aller Empörung die Formen der brieflichen Kommunikation gewahrt bleiben. Dass diese Formen von der eigenen Ungehaltenheit irgendwann in Mitleidenschaft gezogen werden, zeigt eine andere Zuschauerin. Die endet mit den Worten:
"Als höflicher Mensch müsste ich jetzt mit einer Grußfloskel schließen, aber es passt weder ein 'Hochachtungsvoll' noch 'Mit freundlichen Grüßen', also bin ich lieber unhöflich, das ist immer noch besser, als ein Lügner zu sein."
Diese Stelle ist vielleicht die beste, weil sie den Übergang markiert zum digitalen Zeitalter. Man kann in den Reaktionen auf den Fechner-Film von 1971 schon vieles von dem entdecken, womit wir es gegenwärtig zu tun haben. Umgangsformen spielen heute aber kaum mehr eine Rolle. Damals macht sich die Zuschauerin immerhin noch die Mühe gemacht, ihren Abschied von diesen Formen zu erklären. Heute würde sie wohl zu Ausrufezeichen und Großbuchstaben greifen.